Ein Einblick in längst vergangene Lebensrealitäten

Von Sophie Hörlezeder
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Ich freute mich auf das Miterleben und auf das Wieder-Aufleben-Lassen der Momente, die durch das Schreiben eines Briefes festgehalten wurden. Schriftstücke offenzulegen, die als privat galten. Persönliche Meinungen, Zusammenfassungen von getätigten Urlauben und Antworten auf Sterbeurkunden „ans Licht zu bringen“ und in meine Arbeit einfließen zu lassen. Man möchte meinen, dass das ewige Durchforsten unzähliger Briefkorrespondenzen einen ganz privaten Eindruck von einer Person ermöglicht. Doch da lag ich sehr falsch.

Die Schrift von Mileva Roller war für mich nicht entzifferbar. Ich habe es mit diversen Hilfsmitteln probiert, aber das war wenig zielführend. Und wenn ich endlich einmal ein paar Wörter verstanden und dekodiert hatte, war es der Inhalt, der nicht zielführend war. Die Unmöglichkeit des „Scannens“ war für mich zermürbend. Nicht zu wissen, ob der Inhalt des Briefs wichtig sein könnte, nahm mir anfangs die Arbeitsmotivation. Am Schlimmsten war es für mich, den Namen Hitler zu lesen und nicht entziffern zu können, was davor und was danach steht. Steht hier eine Befürwortung, oder das Gegenteil? Oder werden lediglich politische Geschehnisse dargelegt? Ich wollte es unbedingt wissen! Ich will es immer noch wissen. Dieser Umstand macht mir klar, dass diese Archivarbeit (so wie wohl keine Archivarbeit je) abgeschlossen ist. Außerdem warf es die Frage auf, was für mich wichtig ist und was nicht? Ist mir Ihre Position zu Hitler wichtig? Was für Auswirkungen hatte ihre politische Haltung auf ihr Leben, ihre Kunst oder ihr Netzwerk? Was ist wichtig in einer Biografie, die so löchrig ist, wie die von Mileva Roller? Geht man davon aus, dass sich die soziologische Biografieforschung für Lebensgeschichten interessiert, die als repräsentativ für eine soziale Gruppe oder eine Generation gelten können, (1) wäre es wichtig, ihre politischen Meinungen in die Biografie mit einzubeziehen. Vielleicht betrachtet man aber vor allem Mileva Rollers künstlerisches Schaffen, ihre hinterlassenen Werke und deren Bedeutung und kulturgeschichtliche Einbettung. (2)

Beide Ansätze beeinflussten meine Arbeit. Denn zu Beginn wollte ich ihren Anspruch an die Kunst und ihre Herangehensweisen mittels ihrer Briefkorrespondenzen erarbeiten. Doch dieses Vorhaben scheiterte an der Leserlichkeit ihrer Schrift. So war mein Forschungsinteresse ihren Lebenslauf so lückenlos wie möglich zu recherchieren und zusammenzuführen. Die Gründe für die „Biographiewürdigkeit“ von Mileva Roller veränderten sich somit innerhalb meiner Arbeit. Doch schlussendlich dient diese Biografiearbeit nicht nur der Aufzählung ihrer bedeutendsten Werke, sondern sie kann vor allem durch ihre Lücken als modellhaft für Frauen in der Kunst zu ihrer Zeit gelesen werden. (3)

Nach jüngerer Begriffsdefinierung von „Biographiewürdigkeit“ wäre Mileva Roller alleine deswegen „biographiewürdig“, weil sie Spuren im Archiv hinterlassen hat (4) – auch wenn ich diese Spuren nicht entziffern konnte.

Im Zuge des Recherchierens stand ich so von Beginn an vor der Aufgabe, Informationen auszusortieren und zu entscheiden, was „wichtig“ genug ist, um in ihre Biografie eingebaut zu werden. Die Definition von „wichtig“, die ich mir ausgearbeitet habe, beinhaltet Informationen, die es mir ermöglichen, den Lebenslauf von Mileva Roller besser erschließen zu können, Lücken zu füllen und so einen Eindruck von ihr zu erlangen, den ich eventuell mit ihrer Kunst in Verbindung setzen kann. All diese Gedanken machen mir klar, dass es keine Objektivität gibt.

Was mich neben einer nie zu erreichenden Objektivität zusätzlich beschäftigt hat, ist die Zeit. Mein Verhältnis zur Zeit ändert sich während der Archivarbeit


Sei es der Versuch, einen Brief zu entschlüsseln oder das bloße Finden von Materialien (von Büchern, Schriften und Bildern): all das dauert viel länger als bei anderen Arbeiten. Vor allem wenn es sich – wie in diesem Fall – um eine Persönlichkeit handelt, die noch nicht sehr viele valide Einträge im Internet verbucht. Da zählt der Satz „Es wurden keine Suchergebnisse gefunden“ eher zur Norm als zur Ausnahme. Und dann die Enttäuschung, an ein Buch nicht heranzukommen; sei es aus geografischen Gründen (das Buch ist nur einmal physisch in einem Theatermuseum in Deutschland vorhanden) oder aus Gründen der Unauffindbarkeit. Ich habe zwar herausgefunden, dass es ein Buch irgendwo geben sollte, aber dessen Erlangung war kaum möglich. Ich schrieb an die Universität und verfing mich in einem „Emailweiterleitungslabyrinth“: „Arbeitspraktiken in Denkwerkstätten sind frei und streng zugleich.“ (5)

Was mich wieder auf meinen Ausgangspunkt zurückwirft: ZEIT. Man benötigt Zeit, und zwar viel mehr Zeit als man denkt. Ich habe nicht im Ansatz das Gefühl des „fertig geworden seins“. Das erinnerte mich an Jacques Derrida, aus dessen Buch ich mitnahm, dass das Archiv mit den Rahmenbedingungen verschmolzen sei, die es selbst hervorbringt. Die Rahmenbedingungen (etwa wenig Material, nicht leserliches Material, verstreutes, spezifisches Material) prägen meine Archivrecherche. Sie wird von ihren Kontexten bestimmt und bestimmt umgekehrt auch ihre Kontexte. (6) Nichts geht ohne ZEIT. Es braucht Zeit zu sammeln, zu entwerten und zu verarbeiten und davon nicht wenig. Auch bei Mileva Roller, von der es nicht allzu viel Material zu geben scheint, befand ich mich in einem Hin und Her zwischen zu viel Information, die ich nicht auswerten konnte, und zu wenig Material, um die Lücken zu schließen, die in ihrem archivierten Leben zu vermuten sind.

Derrida schrieb auch über die Machtstrukturen des Archivs, die durch Wiederholung immer weiter verstetigt werden. (7) Diese Machtstrukturen konnte ich gar nicht übersehen bei meiner Archivrecherche zu Mileva Roller, einer Frau im Kunstbetrieb zwischen 1886 und 1949. Sie präsentierten sich mir besonders einprägend, als ich darüber nachdachte, was eine Person „relevant genug“ für einen (Lexikon)Eintrag im Internet macht. So begegnete mir die Frage der Relevanz ein zweites Mal innerhalb meiner Archivarbeit. Nicht nur welches Material ist relevant, sondern auch welche Personen sind relevant? Und: relevant für wen oder was?

Natürlich hat sich die Frage der Relevanz (gerade im Umfeld der Digitalisierung und Social Media Plattformen) grundlegend gewandelt. Auch die „Biographiewürdigkeit“ veränderte sich im Lauf der Zeit, in Abhängigkeit von dominierenden wissenschaftlichen Tendenzen, gesellschaftlichen Kontexten und den Anforderungen des Publikationsmarktes. (8) Es stellt sich mir immer noch die Frage, wer entscheidet, wer relevant genug ist und warum?

Auf diese Frage habe ich keine letztgültige Antwort, aber ich bin persönlich immer wieder auf diese Gleichung gekommen: Relevanz = das Netzwerk, in dem die Person agiert, und deren Präsenz/Wirken in der Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft. Diese Gleichung hat wiederum eine patriarchale Machtstruktur des Archivs für mich offengelegt. Denn Frauen*, die oft in denselben Netzwerken agierten wie Männer dieser Zeit, wurden nicht, viel weniger oder anders archiviert. Männern wurde der öffentliche und Frauen der private Raum zugeschrieben. (9) Genau dieses Ungleichverhältnis eröffnete mir das Archiv mit seinen Quellen und Materialien.

Dieser „private“ Raum spiegelte sich schon in den nicht vorhandenen Namen wider. Vielen Frauen bin ich, während meinen Recherchen, nur unter den namenlosen Titeln: Ehefrau, Mutter oder Witwe begegnet.
Am Beispiel von Mileva Roller war es mir unerklärlich wie eine Frau, die so gut mit Hugo von Hofmannsthal, Gustav Klimt und weiteren namhaften Künstlern der Zeit befreundet war, selbst nicht wirklich auf der Bildfläche erschien. Bzw. nicht auf der Archivbildfläche … Die Gleichung brachte meine Ansätze einer feministischen Geschichtsschreibung ins Wanken, denn ich wollte ihre Relevanz nicht von den namhaften Männern um sie herum abhängig machen und doch waren es vorwiegend männliche Künstler, zu denen ich Mileva Roller in Beziehung setzen konnten; schlicht, weil diese Künstler einen Wien Wiki Eintrag besaßen und viele Frauen (noch) nicht. Was mich zu dem Schluss bringt, dass noch viel Arbeit (Archiv-Arbeit) vor uns liegt, um vor allem Frauen* in der Geschichte sichtbarer zu machen.

Und so ist mir das Thema Relevanz innerhalb meiner Archiv-Arbeit ein drittes Mal über den Weg gelaufen: beim Schreiben, das an sich bereits relevant für eine feministischere Geschichtsschreibung ist. Man muss über Frauen schreiben, um sie in die Gruppen zu reintegrieren, in denen sie gelebt haben, aber in denen sie nicht archiviert wurden bzw. ihr Archivmaterial nur einen gesonderten Platz bekommen hat – wie bereits Gerda Lerner geschrieben hat:,,The fields have already been defined in such a way that they exclude and marginalize women.” (10)


Ich habe mich aus dem zur Verfügung gestellten Personenpool aktiv für eine Frau entschieden, die noch keinen Wien-Wiki Eintrag besaß, weil ich einer „vergessenen“ Frau ein Gesicht bzw. einen Eintrag geben wollte. Ich wollte eine Frau aus einer anderen Zeit in unserer Zeit sichtbaremachen und ihre „Relevanz“ so sicherstellen. Was vielleicht etwas zu poetisch und romantisierend gedacht ist. Laut Gisela Bock reicht es nicht, Frauen (in) der Geschichte sichtbar zu machen, es müssten vielmehr die zugrundeliegenden Dichotomien problematisiert werden. (11) Sie schreibt: „Challenging Dichotomies seems to be a major issue on the scholarly as well as the political agenda of women’s and gender history, and of women’s studies more broadly.“ (12) Als möglichen Lösungsweg gibt sie an: „It requires continiuous work on the dismantling, historicization, and deconstruction of the apparently given meanings of the various categories.“ (13)

Ich verstehe ihr Anliegen, Frauen*geschichten aus der – gesondert gelisteten – „Frauenabteilung“ herauszuholen und so zu einem fluiden Verständnis von Gender zu gelanden; aber vielleicht geht es genau darum, die Frauen*geschichten mitsamt ihren „Abteilungen“, Einhegungen und historischen Begrenzungen aufzugreifen, um so den Gendergap der Geschichte(n) aufzuarbeiten?

Wir könnten auch, denke ich, mehr aus dem Archiv und seinen Strukturen lernen und die „Frauenabteilung“ in unserer Geschichtsschreibung so ausbauen, sodass sie unweigerlich nicht mehr nur „das Andere“ darstellt. So könnten wir das Archiv und das, was wir damit tun, an unser heutiges Verständnis von Gleichberechtigung annähern. Denn von einer reinen Objektivität sind wir meiner Meinung nach genauso weit entfernt wie von einem gendergerechten Archiv. Wir können nur versuchen, aus dem Wissen über unsere eigene Subjektivität ein wenig Gewissheit zu schöpfen. Und aus unserem Wissen über Geschlechterungerechtigkeit des Archivs gendergerechte Geschichte zu schöpfen, indem wir die Machtstrukturen offenlegen. Wobei immer wieder und aufs Neue gilt: Archiv-Arbeit braucht ZEIT, denn man wird nie fertig sein.

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1 Hannes Schweiger, Biographiewürdigkeit, in: C. Klein (Hg.), Handbuch Biographie, Stuttgart 2022, 43.
2 Ebd.
3 Ebd., 44.
4 Ebd., 46.
5 Petra Gehring, Archivprobleme, in: Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hg.), Handbuch Archiv, Stuttgart 2016, 43.
6 Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.), Archivologie, Berlin 2009, 29 f.
7 Ebd.
8 Petra Gehring, Archivprobleme, in: Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hg.), Handbuch Archiv, Stuttgart 2016, 43.
9 Ebd., 47.
10 Gerda Lerner, Women in World History, in: Living with History. Making Social Change, Chapel Hill 2009, 103.
11 Gisela Bock, Challenging Dichotomies: Perspec]ves on Women’s History. In: Offen, K., Pierson, R.R., Rendall, J. (Hg.), London 1991, 15.
12 Ebd., 16.
13 Ebd., 17.