Tarpaulins

L.A. – Architektur der Armut
(von Fabiola Eröd)

GTA Online, die Multiplayer-Erweiterung der fünften Ausgabe der erfolgreichen Videospielreihe “Grand Theft Auto”, erlaubt dem_r Spieler_in den Kauf einer Immobilie in der fiktionalen Stadt Los Santos, unbestreitbar modelliert nach Los Angeles. Dabei gibt es die Wahl zwischen drei verschiedenen Preisklassen: das einstöckige Wohnhaus, typisch für die suburbanen Hoods der Arbeiterklasse und der Minderheiten, dann das sogenannte Stilt House, das im echten L.A. die Hills ziert und meist von hohem Status zeugt, und schließlich die Penthouse-Apartments im Herzen der Stadt, zwei bis drei Stockwerke hoch und als einzige personalisierbar. Während die suburbanen Häuser mit einem durchschnittlichen Preis von etwa 100.000 Dollar beziffert sind, belaufen sich die Kosten für Stilt Houses auf 300.000 bis 500.000, und die der Apartments schließlich auf eine satte Million. Traumpreise, im Vergleich mit den realen Kosten von Immobilien in der echten Stadt. Aber die Verhältnisse stimmen.

Regisseurin Lisa Truttmann impliziert in ihrem Essayfilm Tarpaulins (2016) das Dilemma, vor dem Haushalte der Arbeiterklasse der US-amerikanischen Westküste oftmals stehen: das Eigenheim, die größte Wertanlage dieser Haushalte, wird ob der billigen Holzbauweise von Termiten bedroht. Die Schädlingsbekämpfung beläuft sich für ein durchschnittlich großes Wohnhaus auf etwa 2,200 USD, wobei die Bekämpfung mit zusätzlicher Prophylaxe auf bis zu 4.000 USD klettern kann.1 Und hier sind noch nicht die zusätzlichen Kosten enthalten, die einem Haushalt erwachsen, dass sich “tenten” lassen muss: die Unterkunft für 4-5 Tage, die Evaluierung durch Experten und die fehlende Garantie, dass nicht schon ein paar Monate später der nächste Termitenbefall folgt. Schließlich ändert die Bekämpfung nichts an der Struktur; an den zugrundeliegenden Materialien; Holz und Rigips statt Beton, Ziegel und Stahl. So, wie es sich die Reichen eben doch leisten können. Terry Pratchett beschreibt in “Men at Arms”, einem seiner Scheibenwelt-Romane, das sozioökonomische Problem von Investitionen anhand des Beispiel von Stiefeln – so ist ein armer Mann aufgrund fehlenden Kapitals dazu gezwungen, ein billiges Paar Stiefel zu kaufen, das dann wiederum jährlich ausgewechselt werden muss:

But the thing was that good boots lasted for years and years. A man who could afford fifty dollars had a pair of boots that’d still be keeping his feet dry in ten years‘ time, while the poor man who could only afford cheap boots would have spent a hundred dollars on boots in the same time and would still have wet feet.2

Ich war noch nie in L.A. Alles, was ich von dieser Stadt kenne, kenne ich aus Medien: aus Filmen, aus Musik, aus Videospielen. Man erzählte mir von der Traumfabrik und all jenen, die es versucht und nicht geschafft haben. Von den verarmten Vororten, den Gangs, der Polizeigewalt. Von Hiphop und Blockparties. Und, auf der anderen Seite, von grenzenlosem Exzess, von Kokain und von Silicon Valley. Ich kenne L.A. als einen Ort der Extreme. Als beinahe selbstironische Inszenierung der Klassenverhältnisse. Selbstironisch, weil sie so archetypisch für die Darstellung dieser Stadt ist. David Lynch, der mir die zusammenbrechende, sterbende Schauspielerin am Hollywood Boulevard zeigt. Oder die Erweiterung Get Famous für das Simulationsspiel The Sims 4, in der ich die Wahl zwischen zwei Nachbarschaften habe, in denen meine Familie wohnen kann: Mirage Park, Durchschnittspreis: 20.000,-, oder Pinnacle Heights, Durchschnittspreis: 300.000,-. Nichts dazwischen.

Lisa Truttmann wählt einen anderen, ich finde: eleganteren Weg. Sie verzichtet darauf, a priori eine Unterscheidung zu treffen. Sie nimmt den einen Gegenstand, die Zelte, die “Tarps”, um mir zu zeigen, was es mit dieser Stadt auf sich hat. Ihre Zeltbilder verursachen in mir das gleiche, was wir im Voiceover hören: “It makes you look, (…) makes you ask questions”. Wie eine Termite will ich instinktiv unter die Zelte krabbeln und schauen, wer hier lebt, und vor allem: wie hier gelebt wird. Die bedeckten Häuser sind nie die in den Hills. Keine Mid-Century-Bauten. Keine Stahlgiganten. Es sind die ganz normalen suburbanen Wohnhäuser, gebaut mit dem Material, das leistbar ist, nämlich Holz. Pest Control ist ein klassenübergreifendes Problem, aber während die eine Klasse die Mittel hat, um “richtig” zu bauen und vorzusorgen, hat es die andere überproportional nicht. Wie bildlich ist auch der Vergleich, den ich sofort finde: Armut in der Klassengesellschaft, die mit Planen verdeckt, mit bunten Farben übermalt, strategisch entfernt statt von Grund auf gelöst wird, Hauptsache: aus den Augen, aus dem Sinn. Aber ich will nicht, dass es aus dem Sinn gerät. Ich will diese Stadt erkennen können. “It’s prettier with the tent off”, sagt eine Passantin. Ich stimme ihr zu.

Und wenn wir diese Struktur der Stadt, diese Architektur der Armut ergründen wollen – warum nicht anhand der Termiten? Der Entymologe sagt, sie bauen nichts, sie zerstörten nur – aber er wird im Film selbst hinterfragt: sind es nicht die Termiten, die die Zelte bauen? Ohne Termiten keine Zelte. Sind sie es nicht, die das Ökosystem neu aufbauen, indem sie das tote Holz abtragen? Ohne Termiten kein Wald. Sie haben nicht uns Menschen parasitär überfallen. Vielmehr haben wir eine Struktur aufgebaut, die Termiten nicht berücksichtigt. Wir haben entschieden, wer die richtigen Baumaterialien bekommt. Welche Projekte gefördert werden. Wer sich was leisten kann. Das ist nicht naturgegeben. Wir haben uns nur nicht danach gerichtet. So wie der Boden verteilt wird und die Ressourcen ausgeglichen, so wie wir finanzielle Hilfen brauchen, so wie der Arbeiter von oben als Parasit betrachtet wird: hinter der Tatsache, dass er nicht genug bekommt und demnach mehr verlangt, liegt eine Absicht und eine Struktur, für die er selbst nichts kann. Alejo, einer der Protagonisten aus Truttmans Film, ist kein Parasit, er ist Teil von einer globalen Architektur, die ihn genau dorthin bewegt hat, wo sie ihn braucht. Er gibt mehr als er nimmt. Wie jede_r Arbeiter_in, dessen_deren Arbeitswert übersteigt, was er_sie an Lohn bekommt. Die Termiten haben einfach das Unglück, dass sie an uns Menschen gekommen sind.

Ich will mir die Stadt nicht als Organismus vorstellen. Ich will sie als das sehen, was sie ist: etwas Künstliches, etwas Menschengemachtes. Eine Architektur. Mit Planern, die Wüsten von Parkplätzen schufen, wo Parks hätten sein können, die öffentliche Verkehrsmittel boykottierten, um dem Privatverkehr den Raum zu überlassen3; die bewusst und gezielt einen Ort bauten, an dem es wenige gibt, die alles haben, und viele, die nichts haben. Denn so weiß ich, dass sich auch alles wieder umbauen lässt. Und dass wir mithilfe der Termiten etwas besseres schaffen können.

1How Much Does It Cost to Hire a Termite Exterminator?, auf https://www.fixr.com/costs/termite-exterminator, zul.akt. 22.11.2020
2 Terry Pratchett, Men at Arms. A Discworld Novel, London: Corgi, 1994
3 Dass das öffentliche Verkehrsnetz in den USA so unausgebaut ist, hat seine Geschichte: https://www.vox.com/2015/8/10/9118199/public-transportation-subway-buses, zul.akt.22.11.2020

Quellennachweis: