SINGING YOUTH

Regie: Judit Böröcz, Bence György Pálinkás, Máté Szigeti; Schauspielhaus, 01. Juni 2023

Singing Youth
© Sari Ember

Wer in den Kampf zieht, singt immer
(Jennifer Rotter)

1953 erbaute Memos Makris bei der Puskás Aréna eine Figurengruppe, die unter dem Namen Singing Youth noch heute steht. Es ist diese Figurengruppe, die den motivischen Ausgangspunkt des Abends bildet.

SINGING YOUTH ist eine ungarische Produktion unter der Regie von Judith Böröcz, Bence György Pálinkás und Máté Szigeti. Ästhetisch besticht die Umsetzung durch ihre augenscheinliche Schlichtheit. Das Bühnenbild besteht aus einer Leinwand, auf der gelegentlich Bilder des Puskás Aréna projiziert werden. Ihre Hauptfunktion erfüllt sie allerdings als Textträger. Die in Ungarisch gesungenen Liedtexte werden hierbei in deutscher sowie englischer Übersetzung dem Publikum an die Hand gegeben. Diese Sichtbarmachung geht einher mit Zitationsverweisen. So verhält es sich nämlich, dass die sechsköpfige A-cappella-Gruppe eine Verstrickung verschiedenster Texte intoniert: politische Reden, Zeitungsartikel, Studien, Stellenausschreibungen, sowie (Kampf-)Liedtexte. Erbaut wird damit eine Collage eines sprachlichen Geflechts, die den Zusammenhang kultureller Ereignisse (als Beispiel hier vordergründig der Sport) mit politischer Propaganda im Brückenschlag von Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck bringt.

Als Werkzeug instrumentalisieren sich in dieser Produktion ein Chor aus sechs Sängerinnen und Sängern. Sie sind in weiß gekleidet, eine variierende Oberbekleidung, jeweils eine kurze Sporthose und Turnschuhe. Sie bewegen sich in Formation, in mechanischen Gestiken und statuesken Posen. Ihre Mienen bleiben ernst. Damit soll einerseits die Statue Makris‘ verdoppelt sein, jene Apathie scheint zugleich aber auch eine Zitation der befürchteten Gleichschaltung in Kunst und politisch konservativer Haltung durch verschiedenste Zensurbestrebungen zu sein. Die Schlichtheit der Produktion lenkt den Fokus auf das gesungene Wort, lädt zum Hinhören ein und versucht eine kritische Haltung des Nachdenkens im Konsum kulturpolitischer Güter anzustoßen.

SINGING YOUTH verlinkt den Zusammenhang von Musik mit den Identitätsbildungen innerhalb einer Gruppe von Zugehörigkeit: Sie evoziert Emotion und kann zum Transportmittel politischer Botschaften herangezogen werden. Darin stellt sich auch die Parallele zum Sport als Mittel der Propaganda. Mit einer kurzweiligen Dauer von ungefähr fünfzig Minuten ist SINGING YOUTH sicherlich einen Besuch im Schauspielhaus Wien wert.


Every singing group is a tank
(Louise Batallé)

Eine ungarische Künstlergruppe erstellt uns ein musikalisches Porträt, das kritisch und satirisch auf zwei Perioden der ungarischen Politik eingeht. Die erste Periode erstreckt sich von 1945 bis 1956. Die Gruppe nutzt dabei Materialien aus ungarischen Volksliedern und mischt sie mit Interviews und politischen Reden. Diese Inhalte werden dann mit anderen Volksliedern und politischen Reden aus den Jahren 2010 bis 2021 in Beziehung gesetzt.

SINGING YOUTH leistet eine großartige Arbeit bei der Komposition und Rekonstruktion einiger Volkslieder. Die Gruppe kombiniert die Originalgesänge mit den Kompositionen von Máté Szigeti. Die Sänger*innen leisten ebenfalls bemerkenswerte Arbeit und entführen uns manchmal mit problematischen politischen Gesängen. Diese Ambivalenz zwischen Kritik und Wiedergabe verleiht dieser Produktion eine gewisse Vielfalt. Das Stück zeigt uns, wie Musik als Instrument zur Beeinflussung und Überzeugung der Massen eingesetzt wurde: „Every singing group is a tank, playing its part in the seizure of the reactionary cultural policy castle.”

Die Sänger*innen wechseln ihre Positionen und führen symbolische Bewegungen durch, die die Ereignisse neu inszenieren. Die Zuschauer*innen werden in diese Art von Wiederbelebung einbezogen. Die Sänger*innen platzieren sich hinter dem Publikum am Ende des Raums und erwecken den Eindruck, an der Spitze eines Demonstrationszuges zu sein. Die Beleuchtung wird gelegentlich verwendet: Jede*r Sänger*in wird mit einem gelben Licht beleuchtet, was ihrem Gesang einen göttlichen und religiösen Aspekt verleiht.

Das Konzept des Stückes ist einfach und die gesamte Aufführung dauert nur eine Stunde, aber es verliert nichts an Komplexität. Alles wird auf Ungarisch gesungen und der Text sowie sein Kontext werden auf der Bühne auf Deutsch und Englisch projiziert. Die Textform ist recht einfach gehalten und dient eindeutig nur dem praktischen Zweck. Obwohl etwas mehr Aufwand in Ästhetik und Lesbarkeit gesteckt werden könnte, ermöglicht es uns auch, uns besser auf den Gesang zu konzentrieren, der für sich selbst genügt.


Das dröhnende Lied
(A.H.)

 Bei SINGING YOUTH ist der Name Programm. Sechs junge Sänger*innen verkörpern eine Statue, die 1953 vom griechischen Bildhauer Memos Makris erbaut wurde und bis heute vor dem Sportstadion in Budapest steht. In ihrem A-cappella-Gesang singen die sechs Performer*innen Ausschnitte aus Agitprop-Liedern des Kommunismus (1945-1956), Pop-Liedern der rechten ungarischen Szene sowie Zitate aus politischen Reden der Jahre 1945 bis 2020.

Der Abend ist hoch politisch und zeigt, was / wie wenig sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Thematisiert wird vor allem, wie Sport und Kultur politisch instrumentalisiert wurden und es immer noch werden. Das Stadion wurde aus politischen Gründen erbaut und sollte die Verlässlichkeit der Politik unter Beweis stellen. Gleichzeitig ermöglicht (das) Sport (-angebot) einen direkten Zugang zur Jugend und deren Beeinflussung. In der Performance werden darüber hinaus Diskussionen in der ungarischen Kulturpolitik und ihre Auswirkungen dargestellt. Es mischt sich Geschichte, Politik, Kunst und Aktivismus auf der Bühne des Schauspielhauses Wien.

Die sechs Sänger*innen performen vor einem großen Bildschirm, auf dem die Textausschnitte und Quellenangaben der Zitate zu sehen sind. Zur gleichen Zeit will man viel Text in wenig Zeit lesen und den Sänger*innen bei ihren Choreografien zusehen. Leider ist die Inszenierung eine leichte Reizüberflutung und man hat ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. Das ist schade, denn die Texte oder vielmehr ihre Kontextualisierung sind so wichtig, dass man sie lesen und verstehen sollte. Ob diese Reizüberflutung zur Frustration oder Motivation führt, sich mit diesen Thematiken ausführlicher zu beschäftigen, kann wohl nur jede*r für sich selbst beantworten. Sicherlich ist die Erfahrung eine andere, wenn man Ungarisch spricht. Die Sänger*innen selbst faszinieren und begeistern das Publikum. Alles in allem ist diese Performance aufwühlend und lehrreich zugleich, auch wenn dem Publikum einiges an Vorwissen und Konzentration abverlangt wird.


Ungarn heute – Ungarn damals: eine singende Kritik
(Valentin Seißler)

Innerhalb einer knappen Stunde haben sich eine theaterwissenschaftlich ausgebildete Künstlerin (Böröcz), ein experimenteller Postdramatiker (Pálinkás) und ein Komponist (Szigeti) vorgenommen, im Schauspielhaus Wien eine kulturhistorische wie sozialpolitische Konfrontation Ungarns vorzustellen. Dabei kommt augenscheinlich auf widersprüchlicher Weise Altes mit Neuem zusammen: Der Systemwechsel Ungarns (vom kommunistisch geprägten Sozialismus zum rechts-konservativem Nationalismus) wird besungen und dabei unheimlich reflexiv verschiedene Fragmente aus Massen- und Protestliedern der späten 1940er bis 50er Jahre, mit beispielsweise modernen NER Popsongs der 2010er – die als Orbán nahes regimetreues System der Nationalen Zusammenarbeit bekannt sind – zusammengebracht.

Und das wird in der Inszenierung über einen phänomenalen A-Cappella Chor in weißer Turn-Uniform (bestehend aus vier Männer- und zwei Frauenstimmen) gelöst, die scheinbar mühelos (nur mithilfe einer flink geschwungenen Stimmgabel und stimmig-choreographiertem Ornament akustisch herausfordernd im Raum verteilt) den Abend leiten; und per eigenkompositorischer Idiome von Volkslied-Tradition, choral-anmutender Heiligkeit, Kinderlied-Glückseligkeit, und kommunistischer Agitprop-Lieder über Kirchentonart-verlassende, antik angehauchte Harmonien von propagiertem Frieden für die Welt mit Ungarn an der Spitze träumen.

Der rote Faden der ungarischen Kulturpolitik bleibt trotz der Gegensätzlichkeit seiner wechselnden Systeme stringent: es gilt „das politische System in eine kulturelle Ära einbetten“, so sei es im Sinne des Auftrags des Staates mit der Ertüchtigung (und Züchtigung) der Jugend einen immensen Stadionbau zu rechtfertigen. Der propagandistische Sportlobbyismus wird befeuert von militärischer Naivität: „Bom Bom Bom, die Welt gehört uns“, denn ungarisches Liedgut müsse wie eine dröhnende Waffe sein, auch einem Panzer gleich, sich wie ein Geschoss dem politischen Zweck der kulturellen Agenda entgegenwerfen. Diese Widersprüchlichkeit wird auch mit ständig auftretenden Oxymora deutlicher. Beispielsweise erfahren wir über die bühnenübergreifende Texttafel hinter dem Chor: „Träumst du, wache auf. Wenn du träumen willst, schlafe ein“, und trotzdem bestehe die ungarische Führung auf ihren eingeschweißten Zusammenhalt: „Ein Blut, eine Sprache, ein Vaterland, eine Nation“, denn „Kein einziger Ungar ist allein“ ließ sich Viktor Orbán 2021 als „Sieben Gesetze für Ungarn“ vor sein Parlament eingravieren. Diese Gebote für den „Fortbestand des ungarischen Volkes“ haben eine gefährliche Dringlichkeit, denn sie wabern nur so vor militärischer Aufrüstung und grenzziehendem Ausschluss: „Die Heimat besteht nur so lange, solange es jemanden gibt, der sie liebt! Uns gehört nur das, was wir verteidigen können!“.

So musste ich mich als Zuschauer sehr vor der politischen Gefahr, die musikalisch mir doch so herausragend präsentiert wurde, entschlossen entziehen. Zum Glück gab es dafür wenig andere Ablenkung auf der Bühne und im Spiel. Es war ein frontales Konzert, bei dem die Raumanordnung hingegen stets chorisch aufgebrochen und auf seine Zeichenhaftigkeit geprüft wurde. Der musikalische Sog wurde für mich am intensivsten, als thematisch von einem Feindbild gesprochen wurde und sich der Chor hinter dem Zuschauenden aufgereiht hat, nur um in einem wilden Wechselspiel aus agitiertem Aufschrei und süßlichen Friedensbekundungen ein bizarres Bild der kulturpolitischen Agenda Ungarns zu zeichnen. Alles in allem wartet SINGING YOUTH mit einer erkenntnisreichen Wucht und ein nachbebendes Erleben auf.


Wenn Statuen singen könnten (Dennis Traud)

Die „Singende Jugend“ ist eine 1953 vor dem Budapester Stadion errichtete Skulptur, die drei junge Menschen beim gemeinsamen Gesang zeigt. Die Frage, wie sich das anhören könnte, wenn diese überlebensgroßen Figuren tatsächlich singen würden, dürften sich die ungarischen Künstler*innen Judit Böröcz, Bence György Pálinkás und Máté Szigeti gestellt haben. In ihrer Kollektivarbeit SINGING YOUTH erwecken sie die Skulptur in einem kurzen, aber einprägsamen A-cappella-Konzert zum Leben.   

Einiges zu erzählen hätten die Figuren jedenfalls. Etwa von ihrem Schöpfer, dem griechischen Bildhauer Memos Makris, der als politischer Flüchtling nach Ungarn kam. Oder von dem alten Volksstadion, das 2016 abgerissen wurde, um Platz für die hochmoderne, sündhaft teure Puskás Aréna zu machen, die dort nun seit 2019 steht und Austragungsort der Fußball-EM 2021 war. Sie erzählen aber auch von den politischen Umwälzungen um 1989 und jüngeren Entwicklungen, wie dem erstarkten ungarischen Nationalismus. Diese Geschichte war für das Trio Inspiration für diese künstlerische Arbeit, die verhandelt, wie Sport und Kultur immer wieder von politischer Propaganda instrumentalisiert und ideologisch aufgeladen werden – unabhängig von Regimen oder Personen.

Die Prämisse des Abends ist simpel, aber ungemein effektiv: sechs junge Sänger*innen singen in eigens komponierten, von Kampfliedern und Arbeiterchören inspirierten Melodien eine Montage aus Agitprop-Songs, aktuellen Popsongs, politischen Reden und anderen öffentlichen, ideologisch motivierten Texten aus der Zeit des Rákosi-Regimes und der aktuellen Orbán-Ära. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Vergleich, sondern um eine Gegenüberstellung, die auffallend viele Gemeinsamkeiten in Rhetorik und Worten aufzeigt. Die Originaltexte, die pathetisch von Patriotismus, Identität und Feindbildern handeln, werden in deutscher und englischer Übersetzung auf einer großen Leinwand abgebildet. wobei es immer schwerer wird, diese tatsächlich ihrem Ursprung zuzuordnen. An einigen Stellen wird auch ausgewähltes Bildmaterial projiziert, wovon es zur visuellen Untermalung gerne etwas mehr hätte geben können. Im Zentrum stehen selbstverständlich die Texte, die auf der ansonsten leeren Bühne von den in schlichtes Sportler-Weiß gekleideten Sänger*innen mit hoher Konzentration und Inbrunst intoniert werden. So wird deutlich, wie leicht propagandistische Phrasen mithilfe von eingängigen Melodien emotional manipulierend wirken und politische Inhalte transportiert werden können. Doch die Arbeit ist nicht nur eine Reflektion darüber, wie gerne sich politische Propaganda populärer Massenphänomene bedient, sie entlarvt damit auch die Austauschbarkeit von Worten und Sprachbildern. Und wenn selbst Förderausschreibungen und Zeitungsartikel durch feierliche Chorarrangements überhöht werden, wird das ganze populistische Pathos ins Absurde geführt.

In weniger als einer Stunde liefert diese prägnante Auseinandersetzung mit historischen und zeitgenössischen Kulturkämpfen, in deren Verlauf der Sport und die Statuen jedoch etwas aus dem Blick geraten, jede Menge Denkanstöße und Gesprächsstoff. Angesichts der Situation für Kulturschaffende in Ungarn, insbesondere der freien Szene, deren Arbeit durch die rechtskonservative Kulturpolitik der aktuellen Regierung erheblich erschwert wird, erhält SINGING YOUTH besondere Brisanz.