Potentiale diffraktiver Retrospektiven

Überlegungen zu Wieder- & Widerentdeckungen auf Mubi mit Joan Micklin Silver

von Tom Kauth

Potentiale der Diffraktion in Film- & Medienwissenschaft

Das Seminar zu den Filmen Joan Micklin Silvers fand einen seiner Ausganspunkte in der Beobachtung, dass Ihre Filme im Begriff seien, wiederentdeckt zu werden. Hermeneutisch könnte man die Filme Silvers nun daraufhin auslesen, welche Themen, Motive, Figuren dieses Wiederentdecken gerade zu diesem spezifischen Zeitpunkt nachvollziehbar machen. Berechtigte und spannende Spuren sind dabei die Inszenierungen von Multikulturalismus in den USA, die Immigrant Experience und die Frage danach, wie sich romantische Beziehungen unter Bedingungen des Kapitalismus in aller Schwere ausbuchstabieren.

In diesem Essay möchte ich allerdings die Voraussetzungen & Machtbeziehungen einer solchen Logik des Wiederentdeckens befragen und diese medienkulturwissenschaftlich auf ihre „kulturformierende Kraft“1 hin untersuchen. Dabei schreibe ich mich in die aktuelle film- und medienwissenschaftliche Debatten um Potentiale diffraktiven Denkens ein, die sich aus den Arbeiten hauptsächlich Donna Haraways & Karen Barads speisen und die gerade in verschiedene Richtungen ausgelotet werden.2 Dabei werde ich einige Ansätze verwerfen und mich anderen anschließen und mich so in meinem Schreiben produktiv von den je verworfenen unterscheiden. Wobei das auch schon der ganze (und dabei dennoch gewaltige) Einsatz des Konzepts aus der feministischen Wissenschaftsforschung ist: Ein Denken nicht in Essentialisierungen, sondern eine Situierung der Begegnung und darin die Befragung deren Produktion von Differenz anstelle von Identitäten, die sich an einer weiß-männlichen Norm im Sinne einer allzu numerisch abgezählten Identitätspolitik fixieren lassen.3

Während Kristina Pia Hofer sowie Olga Moskatova die Diffraktion hinsichtlich der neomaterialistischen Dimensionen von materiell-diskursiver Verschränkungen in der Gegenwart entwickeln, Hofer an materiellem Exzess & narrativer Verflachung queerer Exploitation-Filme,4 Moskatova an den philosophischen, visuell de/zentrierten sowie materiellen Filmrändern,5 schließe ich mich in diesem Essay dem Ansatz von Trinkaus & Völker an, die eine eher geschichtsphilosophische Lektüre der Diffraktion bei Haraway und Barad in Kontakt mit Ansätzen der black studies wagen.6

„Diffraktion könnte, das wäre unser Vorschlag, der Versuch sein, einen Moment der westlichen Moderne, der Kolonialität, des Sklav_innenschiffs im Sinne eines re-turning, einer Re-/Konfigurierung, aufzugreifen und zu verändern, ohne ihn rückgängig machen zu können“7

Veränderndes Aufgreifen, ohne das Aufgegriffene rückgängig zu machen; so könnte die Formel lauten, die sich für eine diffraktive Retrospektive, mehr noch: den kulturellen Moment einer Wiederentdeckung fassen ließe.

Allerdings hat diese Wiederentdeckung einige semantische Probleme. Wird doch etwas ent-deckt, dem Wiedergefundenen gewaltvoll die eigenen Deckung entzogen und festgesetzt. Auch die zusammengeschriebene Variante macht kaum Hoffnung: Ist doch die Entdeckung, gerade im Kielwasser der de-kolonialen Lektüre schnell im Verdacht sich das Gefundene machtvoll einzuverleiben, wiedererkennbar zu katalogisieren und dabei selbst konturlos zu bleiben – sehen, ohne gesehen zu werden:

„Jegliche Perspektive weicht unendlich beweglicher Vision, die den göttlichen Trick, alles von nirgendwo aus sehen zu können, nicht länger nur mythisch erscheinen lässt, sondern den Mythos zur alltäglichen Praxis gemacht hat. Und wie der göttliche Trick kopuliert das Auge mit der Welt (fucks the world), um Techno-Monster hervorzubringen.“8

Wer entdeckt also wen wieder – besser: wider – wer stellt diese Frage und wessen Antwort kann gehört werden?

Ein ähnliches Problem thematisierte bereits die Filmwissenschaftlerin Jane M. Gaines, die in ihrer Arbeit das (feministisch) historiographische Problem des „just-like-us“ in Anlehnung an die Historikerin Joan W. Scott auffaltet.9 Dabei spricht sie von einem „location-in-time quandary“ und der Gefahr eines „presentism“.10

Wider die Wiederentdeckung

Diese Überlegungen trage ich im Folgenden an eine konkrete Wiederentdeckung Silvers Filme heran, in diesem Fall auf der Streaming-Plattform MUBI. Prämisse m/einer folgenden Analyse des einleitenden, und die getroffene Auswahl einiger wenige Filme begründenden Para-Texts11 ist der Verdacht einer tendenziell identätspolitisch-festschreibenden Logik in der Praxis der Wiederentdeckung. 

In jenem kurzen und doch reichen Text möchte ich drei Wellen in ihrer Überlagerung beobachten, die sich dabei gegenseitig informieren. Zu Beginn wird Silvers Filmen eine transzendente Qualität zugeschrieben: Eine Sensibilität für universell anmutende Menschlichkeit, die Silver durch ihr „sharp eye for the small details of human interaction“12 immer wieder in Szene gesetzt habe. In fast romantischer Manier folgt dann eine Beschreibung fürsorglicher Qualitäten, die die Filmen ausmachen würden. Hier ist dann die Rede von warmen(„warm“13) und bewohnten („lived-in“14)  Dramen, die von Veränderung auf persönlicher wie sozialer Ebene handeln. Lived-in ließe sich an dieser Stelle auch mit belebt übersetzen, womit Silvers Filmen hier tatsächlich eine fürsorglich handelnde Rolle im Sinne erzählerischer/erzählender Care-Arbeit zukommen würde, die den Wunsch nach Veränderung bei gleichzeitiger Verfestigung eines spezifisch Menschlichen rückversichere und zeitige. 

Daraufhin folgen Hinweise auf Silvers Durchsetzungsvermögen unter Anrufung ihrer Position als jüdische Filmemacherin im amerikanischen stark männlich dominierten Independent Cinema der siebziger & achtziger Jahre. Sowohl inhaltlich wie im Produktionskontext habe sich Silver hier gegenüber den hegemonialen Strukturen behauptet und jene eigene, bewiderstandete Position eingeschrieben. Betont wird, dass ihre Filme mitunter Ablehnung erfuhren, weil sie „‘too ethnic‘ (read: too jewish)“15 gewesen seien. Reflektiert wird hier also eine spezifische Positionalität Silvers, die mit ihren Filmen allzu verfestigt einhergeht. Im Sinne der Re/Konfiguration soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, über diese Spezifika hinwegzusehen. Einzig die Spezifik der durch MUBI inszenierten Begegnung mit Silver und ihren Filmen steht hier im Fokus. Jene fokussiert hier textlich ihre Jewishness, sowie ihre „women’s struggle for independence“.16 Mein Argument wäre, dass diese Beschreibung Silvers Arbeiten damit auf spezifische Art und Weise sowohl wieder- und widerentdeckt werden, was ich in beiden Fällen ablehnen möchte. 

Wiederentdecken im Sinne einer vermeintlich neutralen Retrospektive von nirgendwo, und widerentdecken im Sinne einer essentialisierenden Praxis, die sich den diffraktiven Dynamiken und Eigeninteresse der Filme Silvers versperrt. Befragbar ist dabei die Auswahl der wiederentdeckten Filme des Artikels. Hierbei handelt es sich vor allem um Hester Street (1975) & A Fish in the Bathtub (1998). Diese Wahl ergibt sich einerseits aus der Logik des Texts, eine allzu gerade Linie zwischen 1975 und 1998 zu ziehen. Um in der retrospektiven Wiederentdeckung eine lineare Entwicklung von Silvers ‚Stil‘ im Register des Auteur-haften nachzuzeichnen und andererseits – gleichzeitig – zu zeigen, wie Silver diesen Stil auf konsequente und insbesondere emanzipatorische Weise als eine Linie durchgezogen habe, die so nicht mehr hintergangen werden konnte und das amerikanische Independent-Kino nachträglich geprägt habe: 

„The road from Hester Street to A Fish in the Bathtub might have been rocky, but the path it laid out for character-driven indie cinema was indelible.“17

Diese unlöschbare, dauerhafte und unaustilgbare Qualität gleicht dem, was ich hier als Widerentdeckung fassen möchte und aus Sicht einer diffraktiv informierten kultur- & medienwissenschaftlichen Perspektive dem Grundsatz der Bedeutungsoffenheit und einer eben gerade nicht fixierten Bedeutung widerspricht.

„promising interference patterns on the recording films of our lives and bodies“18

M/ein diffraktiv informierter Gegenvorschlag, Joan Micklin Silvers Filmen zu begegnen ergibt sich nun durch ein gegenseitiges Durcheinanderlesen von Ideen zur Diffraktion & einem Ihrer Filme: Crossing Delancey (1988). Gemäß einer hier vorgeschlagenen Wi/ederentdeckung geht es mir darum, weder reflektierend von nirgendwo rückblickend wiederzuentdecken noch essentialisierend widerzuentdecken, sondern vielmehr diffraktiv  wi/ederzuentdecken. Filmhistorisches Zurückblicken soll mit diesem begrifflichen Vorschlag nicht durch eine theoretische Fiktion erlöst und von jeglicher Friktion befreit werden. Gerade die semantische Ähnlichkeit soll deutlich machen, dass  – entgegen Gaines/Scotts location-in-time quandary – in der durchaus in medialen Logiken zu verstehenden Praxis des Zurückblicken je spezifisch positionierte Begegnungen sich nicht nur begegnen, sondern in der Überlagerung erst hervorgebracht werden. Dabei können – im Sinne Trinkaus/Völkers – identitätsbasierte Kategorien re/konfiguriert werden.

Um anders als die unbekannten Texter*innen der Plattform MUBI in einer eindeutigen, festschreibenden Logik der Linie/Linearität auf Silver zurückzublicken, möchte ich den Modus des Crossing vorschlagen der, meiner Meinung nach, für die Filme von Silver als Begegnung und In-Verbindung-Setzen produktiver sein kann. Im Sinne Kimberly Crenshaw’s Metapher der Straßenkreuzung19 schlage ich vor, die Sensibilität Silvers Filme nicht wie MUBI auf ein unmarkiertes universelles Humanum hin zu lesensondern ihre Filme und hier eben besonders Crossing Delancey, als intersektional interessierte Filme der produktiven Begegnung zu verstehen, die versuchen die vereindeutigenden, eingrenzenden Linien der Identitätskategorien zu que(e)ren. 



Literaturverzeichnis:

Crenshaw, Kimberlé: „Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken“, in: Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, hg. v. Natasha A. Kelly, Münster: UNRAST 2022.

Eickelmann, Jennifer/Jennifer Kronberger: „Potenziale Diffraktiver Denktechnologien: Eine kritische Kartierung von Interferenzen und Differenzen“, MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews Jg. 41/3, 2024, S. 364-382.

Gaines, Jane M.: Pink-slipped. What happened to woman in the silent film industries?, Beverly Hills: University of Illinois 2018.

Haraway, Donna J.: Modest_Witness@Second_Milennium. FemaleMan©_Meets_OncoMouse™, Routledge: New York/London 1997.

Haraway, Donna J.: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ in: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, hg.v. Carmen Hammer/Immanuel Stiess, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 73-97.

Hofer, Kristina Pia: „Repräsentation als agentieller Schnitt? Provokationen und Potentiale im Verhältnis von New Materialism und (feministischer) Filmwissenschaft“, Open Gender Journal 1, 2017.

Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien, Paderborn: Fink 2004, S. 293.

Moskatova, Olga: Apparate des Sichtbaren: Neomaterialistische Zugänge zur Agentialität der Bilder, Preprint Edition 2020.

Mubi.com: „Silver Linings: Films by Joan Micklin Silver“, https://mubi.com/de/at/collections/joan-micklin-silver, abgerufen am 05.04.2025.

Trinkaus, Stephan/ Susanne Völker: „‚Inhabiting the entanglement of that time with our own‘ (Saidiya Hartman) – Diffraktion, Intersektionalität und die Ökologie schwarzer Praktiken“ in: Handbuch Intersektionalitätsforschung, Springer 2022, S. 145-159.


  1. Christa Karpenstein-Eßbach: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien, Paderborn: Fink 2004, S. 293. ↩︎
  2. Jennifer Eickelmann/Alisa Kronberger: „Potenziale Diffraktiver Denktechnologien: Eine kritische Kartierung von Interferenzen und Differenzen“, MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews Jg. 41/3, 2024, S. 364-382. ↩︎
  3. Vgl. Donna J. Haraway: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ in: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, hg.v. Carmen Hammer/Immanuel Stiess, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 73-97. ↩︎
  4. Kristina Pia Hofer: „Repräsentation als agentieller Schnitt? Provokationen und Potentiale im Verhältnis von New Materialism und (feministischer) Filmwissenschaft“, Open Gender Journal 1, 2017. ↩︎
  5. Olga Moskatova: Apparate des Sichtbaren: Neomaterialistische Zugänge zur Agentialität der Bilder, Preprint Edition 2020. ↩︎
  6. Stephan Trinkaus/Susanne Völker: „‚Inhabiting the entanglement of that time with our own‘ (Saidiya Hartman) – Diffraktion, Intersektionalität und die Ökologie schwarzer Praktiken“ in: Handbuch Intersektionalitätsforschung, Springer 2022, S. 145-159. ↩︎
  7. Ebd., S. 156. ↩︎
  8. Haraway: „Situiertes Wissen“, S. 81. ↩︎
  9. Jane M. Gaines: „Are they ‚just like us‘?“ in: Pink-slipped. What happened to woman in the silent film industries?, Beverly Hills: University of Illinois 2018, S. 112 ff. ↩︎
  10. Ebd., S. 113. ↩︎
  11. Mubi.com: „Silver Linings: Films by Joan Micklin Silver“, https://mubi.com/de/at/collections/joan-micklin-silver, abgerufen am 05.04.2025. ↩︎
  12. Ebd. ↩︎
  13. Ebd. ↩︎
  14. Ebd. ↩︎
  15. Ebd. ↩︎
  16. Ebd. ↩︎
  17. Ebd. ↩︎
  18. Donna J. Haraway, Modest_Witness@Second_Milennium. FemaleMan©_Meets_OncoMouse™, Routledge: New York/London 1997, hier S. 16. ↩︎
  19. Vgl. Kimberlé Crenshaw: „Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken. Eine schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken“ in: Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, hg. v. Natasha A. Kelly, Münster: UNRAST 2022. ↩︎

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