MEIN ROT ist MEIN ROT
(von Sofie Pusker)
Die Farbenlehre nach Johannes Itten ist wohl jedem ein Begriff. Nun muss man verstehen, dass der Farbkreis, den er so liebevoll konstruiert hat, für jeden wohl als dasselbe Konstrukt wahrnehmbar ist, aber sehen muss jeder doch auf die eigene Weise. Formen sind egal ob in unserem Alltag vertreten oder durch Mathematik entstanden, für jeden ersichtlich. Vielleicht vermag man sie nicht immer betiteln oder gar konstruieren, dennoch sind in ihrer Statik dieselben, wie Magnete auf einem Kühlschrank oder auf einer Pinnwand. Magnete gibt es in unterschiedlichen Formen, als Kreis, als Dreieck oder Rechteck und natürlich auch in unterschiedlicher Beschaffenheit, ob mit glatter, rauer oder flauschiger Oberfläche. Egal welcher von diesen Unterschieden auf den Magneten an meiner Wand zutrifft, ist irrelevant, dennoch bin ich mir dessen bewusst, was seine Funktion darstellt.
In Point and Line to Plane erzählt die Protagonistin, wie sie in einer Kunstaustellung mit einem Freund Magneten kauft. Der Physik ist immer noch nicht bekannt, nach welchem vollkommenen Konzept der Magnetismus funktioniert. Seit den ersten Physikstunden in der Schule ist dennoch jedem Kind beigebracht worden, dass Magneten positiv und negativ gepolt sind, sie sich also anziehen oder abstoßen. Positive und negative Funktionen sind überall anzutreffen, ob nun von Menschen geschaffen oder von der Natur vorgegeben. So sind die Funktionen der Jahreszeiten nicht für jeden erkennbar, doch schaffen sie den Zyklus der Natur, die Blätter fallen im Herbst vom Baum und wachsen im Frühling wieder heran. Gleichzeitig kann die Funktion des Wiederauferstehens in einem Videospiel für Verblüffen sorgen und ein positives Gefühl hervorrufen. Doch egal wie nah an der Realität sich dieses Spiel befindet, kann in der Natur nur ein Lebenszyklus bestehen, bis er vergeht. Egal ob ein Magnet zerbricht oder sich von meinem Kühlschrank einfach nur abgestoßen fühlt, ob er seine von mir vorgegebene Funktion nicht erfüllen möchte oder ein Mensch aus dem Leben gerissen wird, wir verbinden damit negative Gefühle.
Ein schöner Tag, der Himmel wolkenlos, der Stephansdom, eine Frau, die lächelt und dennoch mit Wehmut ohne, dass ihr das zu diesem Zeitpunkt bewusst ist, dieser Tag wird sie abstoßen und negativ in ihr verweilen, denn erst später erfährt sie von dem Tod eines geliebten Menschen an diesem Tag. Negativität in etwas Positives, in einen anziehenden Magneten zu verwandeln, fällt uns schwer, zum einen, weil wir die physikalischen Gesetze nicht kennen, zum anderen weil die Funktionen der Wiederauferstehung keine Funktion auf Körpern geliebter Menschen ist. Point and Line to Plane ist ein Film, der mit dem Sehen der Zeichen das Abstoßende und das Anziehende an der Verarbeitung des Todes von Freunden vermittelt. Deragh Campell, die wunderschön lächelnde Frau vor dem Stephansdom begegnet uns hier mit einem ausdruckslosen Blick, sie stößt einen regelrecht in eine negative Konnotation ihrer selbst und zu ihrem Zustand.
Dennoch ist dieser ausdruckslose Blick nicht gleich zu bewerten, denn sie nimmt uns mit auf eine Reise der Selbstfindung der Zeichendeutung und der Fragen und Antworten, die jedem durch den Kopf gehen, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Es ist, wie sie in ihrem Film präsentiert, wie das Halbieren einer Mozartkugel, die jeder, der in Österreich wohnt, nur zu Genüge kennt, und gleichzeitig sind genau diese Mozartkugeln Teil unserer fast täglichen Realität geworden. Wenn man sie jedoch halbiert, fehlt einem die Hälfte, man hat diesen Teil der eigenen Realität mit jemandem geteilt, sie hinterlässt uns offen, zeigt unsere Schichten, wie die einer Mozartkugel, auf einmal ist man verwundbar, offen, man kann diesen Teil nicht mehr ersetzen und trotzdem offenbart sich ein Raum voller neuer Empfindungen, neuer Visionen und Farben in unserem Leben.
So wie verschiedene Musikgenres uns in verschiedene Stimmungen führen können, oder uns an Vergangenes erinnern, an Trauriges, Schönes, an Abende voller Gelächter und Freude, so können sie uns auch an die Jahreszeiten des Vergangenen erinnern, können uns berühren, durch die Momente, die in dieser Zeit passierten oder sind einfach Motivation, um nach etwas Neuem zu streben. Deragh Campell tanzt, was sie fühlt zu klassischer Musik. Auch wenn sie nicht mit Worten oder Farben ausdrücken kann, was sie fühlt, so tut sie das, indem sie ihren Körper zu uns sprechen lässt. In einem weißen Raum in weißer Kleidung gibt sie sich so hin, und eröffnet somit die weiße Leinwand des Malens einer neuen Geschichte auf weißem Untergrund.
Zurück zu Itten, der mit dem Farbkreis nicht einfach einen Kreis mit verschiedenen Farben gebildet hat, sondern das Konzept der Farbenlehre, die Komplementärfarben entworfen hat. Rot, blau und gelb, wer hätte denken können, dass dies die Ausgangsfarben für unsere visuelle Wahrnehmung bilden sollen. Warum nicht grün, hellblau und orange – Farben, die uns in der Natur stets erscheinen im Himmel, im Grün der Bäume im Frühling und im Gelb der Sonne, die uns Tag und Nacht präsentiert. Itten geht von diesen Farben aus, nach denen nun die ganze Menschheit lernt, doch was ihm entfiel ist die Vision des Sehvermögens.
MEIN ROT ist MEIN ROT und DEIN ROT ist DEIN ROT, das Rot meiner Freunde ist ganz anders als meines und dennoch ist es ROT. Egal ob Sehschwäche, Farbenblindheit oder einfach nur eigene Vision, NIE in meinem Leben sehe ich Farben wie meine Freunde und werde nicht verstehen können, wie ihre Empfindungen gegenüber dem Farbton negativ oder positiv konnotiert sind. Betrachtet man nun das Ganze durch ein Medium der Vergrößerung oder durch die Linse einer Kamera, verändert sich die Welt, das Weltbild und die Realität des sehend Auges durch die Beschaffenheit dieser Medien. In dem Film sind einige der Aufnahmen durch eine Filmkamera aufgezeichnet worden, obwohl diese nicht richtig gesichert war und der Film so eigentlich nicht hätte belichtet werden können. Dennoch war die Aufnahme intakt. Ein Zeichen? Dann präsentiert sie uns Bilder, Aufnahmen der eigenen Vision die durch ein Medium festgehalten wurden. Ein Medium, das mittlerweile wegen der schwachen oder veränderten Farbwiedergabe veraltet ist? Auch Störfaktoren wie Erschütterungen oder schwarze Flecken bei der Wiedergabe des Materials stellen keine Seltenheit dar. Aber was ist unter einer veralteten Farbwiedergabe zu verstehen, sind die Farben nicht einfach anders, sind sie nicht dennoch Teil der unendlich großen Farbpalette dieser Welt, die jeder von uns individuell betrachtet.
Deragh Campell besuchte mit ihrem Freund die Ausstellung von Wassily Kandinsky. Wegen der positiven Erinnerung zu diesem Ereignis zog es sie zurück in diese Ausstellung, in der sie die verschiedenen Formen und Farben in jedem einzelnen Bild mit ihrem Freund betrachtete. Auch wenn dieser unter Farbenblindheit litt, verstand er die Kunst auf seine Weise und verspürte positive Anziehung durch sie, wie ein Magnet zu einem Kühlschrank. Auch er kaufte sich Magnete, auf denen die Kunstwerke der Ausstellung abgebildet waren, verband also seine positiven Gefühle mit der positiven Anziehung der Magnete, wenn er diese anhand der Liniengebung betrachtete, um sich seine ganz eigene Version der farbenfrohen Gemälde zu schaffen.
Das schwarze Quadrat von Malewitsch oder ein schwarzer Magnet: Für die einen bedeutet er alles, ist anziehend, er symbolisiert das Nichts, den Anfang von allem und wirkt genauso abstoßend auf manche Rezipienten. Für den einen der Anfang des Lebens, für den anderen das Ende der Kunst. Das schwarze Quadrat stellt die Funktion der Vision des eigenen Sehens in Frage. Wie Bilder auf einem schwarzen, leicht durchsichtigen Film bleiben Bilder, die unsere Realität in Momenten festhalten können und dennoch auch auf die Funktion unseres Sehens und auf der Funktion der Apparatur angewiesen sind. Egal ob nach der Vision eines Verstorbenen zu suchen oder der Funktion der Vision des eigenen Sehens, ob negativ oder positiv, Anfang oder Ende, alles was wir rezipieren, erleben, festhalten, abstoßen oder anziehen, hängt von unserer Wahrnehmung, unseren Gefühlen und unseren Visionen ab und egal ob Freunde, Apparaturen, physikalische Gesetzte, Errungenschaften oder Künstler, liegt die Wahrnehmung doch an jedem einzelnen von uns ohne jemals von anderen verstanden werden zu können denn,
MEIN ROT ist MEIN ROT und DEIN ROT ist DEIN ROT.