Reihe Histoire(s) du Théâtre VI
Tiago Rodrigues
Akademietheater
Freitag, 30. Mai 2025

No Yogurt for the Dying – Metaphern gegen den Tod
Nadine O´Neal
„Wenn jemand stirbt, zünde ich mir eine Zigarette an“: a pior enfermeira do mundo (=portugiesisch für „die Schlechteste Krankenschwester der Welt“). Der Umgang mit dem eigenen Sterben und Tod einer geliebten oder geschätzten Person, kann sehr unterschiedlich bewältigt werden. Das Theater NO Yogurt FOR THE DEAD stellt diese psychologische Vielschichtigkeit, die sich bei der Konfrontation mit dem Sterben zeigt, dar. Auf der Metaebene kann das Stück gelesen werden als eine verarbeitende Auseinandersetzung mit dem Tod des eigenen Vaters. Der Regisseur Tiago Rodrigues behandelt darin annähernd biografisch den Sterbeweg seines Vaters Rogèrio, der auf Grund seiner Krebserkrankung seine letzten Tage im Krankenhaus verbrachte, und visualisiert dabei wie der Vater diese Momente erlebt haben könnte. Der Vater, der als Journalist tätig war, versuchte selbst den eigenen Tod noch zum Teil seiner Arbeit zu machen, indem er in einem Notizbuch diesen Endabschnitt seines Lebens festhielt. Sein Sohn und Regisseur macht es ihm gleich und verarbeitet seinen Verlust auch in der Erschaffung eines neuen Werks: von den recht unbrauchbaren Kritzeleien des Vaters inspiriert, erfindet er diese neu und übersetzt sie in das Theaterstück NO YOGURT FOR THE DEAD, das zwischen Leben und Tod, Freude und Trauer navigiert.
Based on a true story
Absage an die Geheimniskrämerei: NO YOGURT FOR THE DEAD versucht anders als viele andere Theater dem Publikum nicht bis zum Ende oder darüber hinaus seine wahre Identität vorzuenthalten. Wie ein Film, der in der Regel schon zu Beginn ankündigt auf wahren Begebenheiten zu basieren (dieses Label sollte jedoch immer mit starker Skepsis betrachtet werden), wagt das Stück noch einen Schritt weiter zu gehen. In den ersten Minuten klärt die Schauspielerin in der Rolle der Krankenschwester das Publikum über die Narration rund um Rodrigues und seinem sterbenden Vater auf. Auch die Aufführung selbst wird als Spiel „zwischen Wirklichkeit und Fiktion“ enttarnt und bezeichnet sich als „imaginierter Bericht“. Als sechster Teil der Reihe „Histoire(s) du Théâtre“ reflektiert NO YOGURT FOR THE DEAD über Theater als Form. Gesprochen wird in den Sprachen Niederländisch und Portugiesisch, was durch deutsche und englische Untertitel (formal aber über dem Bühnenbild angeordnet) übersetzt wird.
Aufgebaut wie ein Erzähltheater unterscheidet es sich von seiner klassischen Form vor allem in der Art des Erzählens. Die Schauspieler*innen sprechen direkt zum Publikum. Selbst, wenn sich zwei Rollen im Dialog miteinander befinden, sind die Akteur*innen auf der Bühne die meiste Zeit auf unnatürliche Weise mit Gesicht und Körper zum Publikum gewandt. Wozu diese Verfremdung? – zum Zwecke der Illusionsdistanzierung: Da es durch diese befremdlichen Elemente schwieriger für Zuseher*innen wird, sich in der Illusion des auf der Bühne Gezeigten zu verlieren und ihm hundertprozentigem Realitätsgehalt zuzusprechen, wird stattdessen die Einnahme einer kritischen Position zum Stück begünstigt. Dass zusätzlich von Anfang an klar ist, was auf eine*n inhaltlich zukommen wird, fällt es noch leichter sich andere Gedanken über das Stück zu machen wie, wie die Geschichte behandelt wird und welche Rolle seine Ästhetik spielt.
„Es gibt doch Lieder am Ende des Tages“
Auf der Bühne bildet sich ein Bild von Krankenhausbetten, Infusionsständern (, die auch als Laternen fungieren) und einem Berg aus Gestein ab. Immer wieder wird die Rolle des Vaters aus der Narration durch einen Nebel rausgerissen, der metaphorisch auf das jederzeit mögliche eintreten des Sterbens verweist. Traumhaft und zugleich wirklich erscheinend, malt das Stück die Erfahrung des Vaters nach. Als Indikator, ob er gerade mehr im Tod oder Leben steht, kann die Farbe des Lichts, die vom laternenhaften Infusionsständer ausgeht, herangezogen werden. Dieses oszilliert zwischen kühl-weißem und warm-gelbem Licht.
Insgesamt geht NO YOGURT FOR THE DEAD nicht gerade sparsam mit V-Effekten um, um Fiktives mit Realem verschmelzen zu lassen und Illusionsimmersion zu verhindern. So teilen sich zwei der drei Schauspielerinnen gleichzeitig die Rolle des Vaters und des Sohns. Wie im Film „The Mask“ (1994) befähigt das Aufsetzen des langen oder kurzen Barts beide dazu einmal in die eine und das andere Mal in die andere Rolle zu tauchen. Häufig wird die Narration mit der Musik einer E-Gitarre untermalt oder durch gesungene Lieder unterbrochen. Auch die „vierte Wand“ wird einmal durchbrochen als der Publikumsraum erhellt wird und die Zuseher*innen zu den Gästen des Begräbnisses vom Vater werden. Dass aber solche Verfremdungen für besonders starke Empathie sorgen, zeigt der Moment als der Weg des pflegebedürftigen und kranken Vaters zur Toilette als Bergaufstieg inszeniert wird.
In der Schwere der Thematik des Stücks rund um Abschied und Tod, finden sich zahlreiche schöne Momente, wie Augenblicke der Leichtigkeit und des Humors, die das Theater NO YOGURT FOR THE DEADniederschwellig und gut verständlich aufbereitet. Auch wenn der Vater am Ende tot ist, so hat er selbst im Sterben noch was gewonnen: die Fähigkeit zu lieben und die Freiheit, die mit dem plötzlichen Genuss am Joghurt essen verbunden ist. Nur den Toten fehlt es daran.
Letzte Notizen – NO YOGURT FOR THE DEAD
Emilia Louisa Sobotzik
In NO YOGURT FOR THE DEAD begleiten wir Tiago Rodrigues Vater Rogério Rodrigues im Spital während der letzten Wochen seines Lebens und begeben uns mit den Figuren auf eine Reise zwischen Fiktion und Realität.
Der genaue Zeitpunkt ist ungewiss, aber sicher ist, Rogério wird bald sterben. Die Bühne führt uns auf eine kahle Landschaft, die sowohl an Felsen oder Eis als auch an das Meer oder eine Kraterlandschaft zu erinnern vermag. Auf den zweiten Blick fällt nun die karge Krankenhausausrüstung auf der Bühne auf, etwa Krankenbetten oder Infusionsständer, die uns schnell daran erinnert, dass es an diesem Abend um das Sterben gehen soll.
In einem Interview mit Jonas Mayeur spricht Tiago Rodrigues davon, für NO YOGURT FOR THE DEAD mit seinem verstorbenen Vater zusammenzuarbeiten, ähnlich wie er es in anderen Inszenierungen mit bereits verstorbenen Autor*innen, etwa Tschechow oder Virginia Woolf, bereits getan hat. Während der letzten Wochen seines Lebens führte Rogério Rodrigues im Spital ein Notizbuch, das Tiago Rodrigues nach dem Tod seines Vaters überraschender-weise nur mit abstrakten Zeichnungen, Punkten und Linien gefüllt vorfand. Der Abend nimmt uns mit auf eine Reise zwischen Fiktion und Realität, die den Inhalt des Notizbuches imaginiert und auf diese Weise Einblick in Rogério Rodrigues Leben gibt. Ein beeindruckendes Ensemble nimmt uns mit auf eine Reise durch diese fragmentarischen Erinnerungen – auf Niederländisch und Portugiesisch, begleitet von viel Musik und Gesang. Gleich zu Beginn begegnen wir Lisah Adeaga als „schlechteste Krankenschwester der Welt“, die Rogério Rodrigues während seiner letzten Tage im Spital begleitet. Manuela Azevedo und Beatriz Brás verkörpern Rogério, Tiago und weitere Figuren aus den Erinnerungen der beiden. Auch hier wird durch auf der Bühne vollzogene sichtbare Rollenwechsel weiter mit dem Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion gearbeitet. Azevedo und Brás, die beide abwechselnd Vater und Sohn verkörpern, überzeugen im Laufe des Stückes auch durch ihre Gesangseinlagen. Die vom portugiesischen Musikstil Fado inspirierten musikalischen Momente des Abends sorgen sowohl für Sentimentalität als auch für Leichtigkeit, denn obwohl wir uns in den Bereich des Sterbens und Trauerns bewegen, schafft es Rodrigues, die Geschichte mit leichten und humorhaften Momenten zu füllen. Außerdem Teil des Ensembles ist der portugiesische Komponist Hélder Gonçalves, der den Abend mit der E-Gitarre von der felsenartigen Landschaft aus musikalisch begleitet.
NO YOGURT FOR THE DEAD nimmt uns mit in die Erinnerungen Rogério Rodrigues, aber auch in die Gedanken Tiago Rodrigues dazu und verweist währenddessen immer wieder auf das Spiel der Kombination fiktiver und realer Inhalte.
Mit überraschend viel Gesang und einem überzeugenden Ensemble zeigt sich der Abend als gefühlvolle, aber auch humoristische Auseinandersetzung mit dem Sterben und Erinnerungen und lässt Zuschauende nicht zuletzt mit mal schmerzhaften, mal schönen Erinnerungen an eigene Geliebte Menschen zurück.
Ein Tod eingehüllt in Lieder
Coura-Lale Tall
Nach dem intensiven Einstieg in den Festwochen Campus 2025 mit der immersiven Erfahrung des eigenen Sterbe Prozesses in SIGNA‘s DAS LETZTE JAHR, findet die Woche für mich einen gelungenen thematischen Abschluss in Tiago Rodrigues Produktion NO YOGURT FOR THE DEAD. Als 6. Teil der Histoire(s) du Théatre Reihe, beschäftigt sich Rodrigues in der Auseinandersetzung mit dem Tod seines Vaters mit den imaginativen Möglichkeitsräumen von Theater. In einem Beitrag über sein Theaterschaffen schreibt er: „[…] Nur die Lebenden können sich die Streifzüge des Todes vorstellen und sie in eine Geschichte übertragen.“ Im Krankenhaus schrieb Rodrigues‘ Vater, der 40 Jahre als Journalist gearbeitet hatte, an einer letzten Reportage. Nach dessen Tod stellte sich jedoch heraus, dass dieser Bericht nur aus unzusammenhängenden Linien und Kritzeleien bestand. Was der Vater nicht mehr selbst vermitteln konnte, wird nun auf der Bühne re-imaginiert, in dem die Wissenslücken, das Nicht-Gesagte, das Ungreifbare mit einer Mischung aus realen und fiktiven Erinnerungen, Gesprächen, Konflikten, Versöhnungen und vor allem Musik gefüllt wird. Die Darstellenden wechseln im Laufe des Stückes immer wieder ihre Rollen und narrativen Funktionen. Die „schlechteste Krankenschwester der Welt“, die den Vater in seinen letzten Monaten im Krankenhaus begleitet hat, fungiert zunächst als Erzählinstanz. Bei vollem Saallicht hält sie eine anekdotenhafte Ansprache an das Publikum, erklärt die Entstehungsgeschichte des Theaterstückes und stellt sich selbst dabei als eine der Figuren vor. Damit werden zu Beginn gleich mehrere narrative Ebenen etabliert: Neben dialogischen Szenen zwischen Vater und Sohn, gibt es eine Reflexions-Ebene, die mit selbstreferenziellen Kommentaren, Unterbrechungen und Ankündigungen arbeitet. Dabei bilden die Rollenwechsel und die an der Fado Tradition orientierten musikalischen Einlagen einen interessanten Zwischenraum. Einerseits wird die Künstlichkeit der Figuren – zugespitzt durch die Namensgebung „Langbart“ (Vater) und „Kurzbart“ (Sohn) – gezielt ausgestellt, wenn sich die weiblichen Darstellerinnen die jeweiligen Bart Attrappen überstülpen. Die Flüchtigkeit der Figuren und ihr wechselndes Erscheinungsbild lassen andererseits die Darstellerinnen hinter den Rollen präsenter werden. Besonders wenn sie zu singen beginnen und ihre wunderschönen, beeindruckend kraftvollen Stimmen den ganzen Theatersaal ausfüllen, scheint sich die Figur für kurze Zeit in der unmittelbaren Körperlichkeit der Darstellerinnen aufzulösen. Dass sich die Gesangsnummern im Laufe des Stückes zum primären Ausdrucksmittel entwickeln und die zweite Hälfte des Abends eher an ein Musik- als ein Sprechtheater erinnert, ist jedoch keine willkürliche Entscheidung, sondern geschickt in den dramaturgischen Rahmen des Stückes eingebettet. Bereits zu Beginn erfährt das Publikum vom melodiösen Stöhnen des Patienten im Krankenhausbett neben Rodrigues’ Vater. Gemimt durch eine E-Gitarre, ertönt aus dem besagten Bett die jeweilige instrumentale Begleitung der Gesangsstücke. „Ich sterbe eingehüllt von Liedern“, sagt der Vater an einer Stelle und während mit der fortschreitenden Krankheit allmählich die Gesichter und Namen seiner Angehörigen verschwimmen, bleiben ihm einzelne Melodien aus seinem Leben präsent im Kopf. Die Idee, dass es nicht die geschriebenen Worte sind über die Rodrigues einen Zugang zu seinem verstorbenen Vater findet, sondern die Musik wird auch am Ende wieder aufgegriffen. Die fehlenden Worte des Vaters wurden von einer Sängerin, die mit den Patienten im Krankenhaus musiziert hat, zu den Liedern verarbeitet, die den ganzen Abend über erklungen sind.
Seine Geschichte über das Sterben und den Tod mit Humor und Leichtigkeit zu erzählen und dabei trotzdem Raum für Verletzlichkeit und kontemplative Momente zu lassen, gelingt Rodrigues durch eine enge Verflechtung verschiedenster Motive und Themen. Ein scheinbar banaler Konflikt über die angemessene Farbe eines Kugelschreibers, steht stellvertretend für alle Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Sohn bis hin zur politischen Einstellung. Joghurt wird zum Symbol für Menschlichkeit und Individualität, weil Essen das Einzige ist, für das sich der Vater noch selbst entschieden kann. Auch seine journalistische Arbeit wird mit Bedeutung aufgeladen, wenn auf der Beerdigung schließlich statt einer Ansprache ein Artikel des Vaters verlesen wird, der sich überraschend von einem neutralen Bericht zu einer eigenen kleinen Erzählung über Ungerechtigkeit und Widerstand entwickelt.
Die traum-ähnliche Qualität des Stückes, welches frei von einer chronologischen Zeitlichkeit, durch eine inhärente Logik zusammengehalten wird, spiegelt sich auch in der surrealen Atmosphäre des Bühnenbildes. Neben dem Krankenhausbett des Vaters türmen sich zwei unebene Gebilde wie tektonische Erdplatten übereinander und bilden eine Schräge, die von den Darstellenden bespielt werden kann. Im kontrastreichen Lichtdesign, welches von vollem Saallicht bis zu vollständiger Dunkelheit reicht, scheint die starre Masse der Platten ständig in Bewegung zu sein: Mal heben helle weiße Scheinwerfer die kalte schroffe Oberfläche hervor, mal lassen schwache Lichtstreifen das Gebilde schattenhaft fragil wirken.
So bewegt sich das Stück auf einer dünnen Linie zwischen Realität und Fiktion, Leben und Tod, Licht und Dunkelheit. Ob die Vaterfigur am Ende greifbarer geworden ist, liegt im Auge der Betrachter*innen. Inwiefern man sich mit theatralen Mitteln überhaupt an das Erleben eines anderen Menschen annähern kann, wird auch von Rodrigues bewusst infrage gestellt: „Sind es Fragen oder Annahmen?“, wird am Ende in den Raum geworfen. Die Antwort ist wohl jeder Person selbst überlassen.
Yogurt it is
Merle Proll
Rogèrio Rodrigues erzählt uns mit seinem Stück NO YOGURT FOR THE DEAD eine ganz persönliche Geschichte. Es geht um die Aufarbeitung des Todes seines Vaters und dessen letzte Zeit davor im Krankenhaus. Rodrigues ist nicht viel davon geblieben, außer dem Satz: „There is no Yogurt for the Dead“ in einem Heft. In knapp zwei Stunden erlebt das Publikum Interpretationen beziehungsweise Imaginationen dieses Satzes. Er selber schreibt sich als Figur ein, zwei Schauspielende wechseln zwischen Vater- und Sohnfigur, womit deutlich wird, dass sein Vater in diesen Szenen nur Gedankenspiel seiner selbst ist. Den Yogurt erklärt er nicht nur zum Titel, zum Ausgangspunkt alledem, sondern auch zur Metapher des einzig zurückgebliebenen Gefühl des autonomen Menschseins, weil er Entscheidungen zulässt, die sonst in dieser Phase des Lebens bzw. im Krankenhaus nicht mehr zu existieren scheinen.
Das Stück ist schlicht und einfach gehalten. Rodrigues legt alles offen, bereits zu Beginn wird ganz genau erklärt, worum es hier geht. Der Einstieg lässt verstehen, nachvollziehen, ist ungewohnt einfach für zeitgenössisches Theater. Es kommt die Frage auf, warum sich das Publikum meist gegen das Erklärende wehrt, warum einfach oft mit negativer Wertung verknüpft ist. Ist es denn nicht gut, wenn verstanden und abgeholt wird? Vielleicht mögen wir das Gefühl der Bevormundung nicht.
Auch visuell bedient Rodrigues bekannte Bilder. Er lässt seinen Vater mehrmals sterben, bis der „Fährmann“ (die Krankenschwester) ihn letztendlich doch in das Reich der Toten führt. Oft bleibt unklar, wie man sich diese Geschichte auf eine allgemeinere Ebene heben lässt und nicht in einer privaten Erzählung versandet. Eingearbeitete Musikeinlagen, die sich mit der Zeit verdichten, sträuben sich gegen klassisches Sprechtheater, bedienen aber trotzdem eine Form des Erzähltheaters, weit gedacht, wie vorherige Angaben zeigen. Musikalisch sehr stark, emotional aufgeladen und berührend, kommt die Sprache meines Erachtens zwischen den Zeilen zu kurz. Bei den Liedern bleibt ungewiss, ob sie wirklich vom Vater stammen oder nicht. Realität und Imagination verschwimmen miteinander, oder gibt es überhaupt einen Unterschied oder bedingt sich beides nicht sogar?
Lieder zum Übergang ins Jenseits
Johann
Tiago Rodrigues kann Theater erzählen, und gekonnt Theater machen, das erzählt. Ein bisschen Realismus, dezent abstrahierendes Bühnenbild, ein bisschen Nebel und viel Gesang. Die Figuren singen Fado bis zeitgenössisch Chansoneskes, ein E-Gitarrist auf der Bühne schafft mühelose Übergänge von Einem zum Nächsten.
Die Woche am Festwochencampus hatten wir mit Mariano Pensottis ebenso klassischer Theaterverwebung von Realität und Fiktion Ein gefräßiger Schatten begonnen, jetzt scheinen wir bei Rodrigues fast an den gleichen Ort wieder zurückgekehrt zu sein. Auch dieser sucht nach seinem Vater, nur ist der diesmal kein früh verstorbener, sondern ein schrullig bis fieser Einzelgängervater, der seine Pflegerinnen beschimpft und dem Sohn, der ihn besuchen kommt und eines Tages ein Stück über ihn schreiben wird, ob der falschen Tintenfarbe des Kugelschreibers, um den er ihn gebeten hatte, Vorwürfe macht. Kein physisch, sondern emotional abwesender Vater. Was ist wohl schwieriger zu erreichen, das spirituelle Jenseits oder das zwischenmenschliche – den anderen, der sich nicht berühren lässt?
Bei Rodrigues dokumentarisch-fiktionaler Erzählung kommen erstaunlich viele Menschen zum Begräbnis des Vaters, – das Saallicht erhellt die Köpfe der Zuschauenden; wir alle sind gekommen, um uns mit dem Autor gemeinsam von seinem Vater zu verabschieden, die wir ihn tatsächlich nicht kannten. Ob wir es hier mit Rodrigues eigener Sorge zu tun haben, den Vater in Einsamkeit sterben zu sehen, so konnten wir vielleicht alle Statistinnen im fingierten Szenario werden, und so ein Stück persönlicher Hoffnung gemeinsam vollziehen.
Das ‚Stell dir vor, es wäre so‘ führt der Abend auch mit den drei Schauspielerinnen vor, die mit wechselnden Bart-Masken sowohl Vater als auch Sohn verkörpern und ihre Stimmen dabei erstaunlich versiert variieren, dabei einen feinen Grat zwischen Ernst und Komik beschreiten und betänzeln. Den wirklichen Ernst, die schwere Wahrheit gibt es hier nur im poetischen Gesang, der dramatisch wie lyrisch zunehmend Raum einnimmt, je näher der endgültige Tod anrückt. Wie viel Pathos man bei einer solchen Innigkeit anzunehmen bereit ist, ist erstaunlich. Vielleicht ist es die Erschöpfung am Ende unseres einwöchigen Stückemarathons, die mich für die allmähliche Auflösung von Text in musikalische Unendlichkeit sehr dankbar werden lässt. Nach all dem Denken und Durchdenken in einen dunklen, aber erlösenden Schlaf gesungen zu werden, so macht No Yogurt for the Dead das Loslassen verführerisch bekömmlich. Viel ist nicht passiert, wenig hat überrascht. Ein weiteres Lied, an die Liebe, die nicht, oder vielleicht doch kommt, an den Tod, der immer schon präsent war. Licht aus, Applaus.
Lieben und sterben, sterben und lieben
Amba Botland
… könnte das Motto der Dramaturgie unserer Festwochen-Woche lauten. Diese hat mit einem klassischen Theaterstück angefangen – Ein gefräßiger Schatten – und endete auch mit einem: No Yogurt for the Dead von Tiago Rodrigues. Dazwischen war ganz viel anderes. Ganz anderes – ganz viel davon.
So war ich nach No Yogurt for the Dead fast schon erleichtert, dass es so etwas wie klassisches Erzähltheater überhaupt noch auf den Festwochenbühnen gibt – und dass es mir obendrein auch noch gefällt. Die Befürchtung war da, dass ich nach dieser Woche nur noch von Extremen angesprochen werde, SIGNA und The Second Woman zum Beispiel. Manchmal kann Theater auch einfach Theater sein, ohne sich dabei neu zu erfinden.
Das Stück war irrsinnig charmant. Die Lieder waren toll und gefühlsvoll, teilweise etwas zu dick aufgetragen – man denke an die betuchte Mutter, die von dem eisigen Berg herab ihren Sohn zu sich ruft –, aber auch das war im Rahmen des Stücks. Ein wenig Meta, ein wenig selbstreferenziell, ein wenig mit Publikumsinteraktion – aber nichts, wodurch man sich attackiert fühlte bzw. gezwungen war, aktiv mitzumachen. Zum Beispiel fällt All About Earthquakes auch in die Kategorie von Stücken, die sich wie Theater anfühlen; jedoch war es mir teilweise unangenehm, wie explizit das Publikum adressiert wurde bzw. dann auf die (ausbleibenden) Reaktionen Bezug genommen wurde.
Bei No Yogurt konnte man zuhören, mitfühlen – wenn man wollte und in der ersten Reihe saß, sogar das Glas heben –, aber es war auch in Ordnung, wenn nicht. Es änderte nichts am Stück. Herrlich entspannt.
Ich glaube, für etwas anderes hätte ich auch gar kein Hirn mehr übrig gehabt. Eigentlich habe ich das generell nicht mehr und merke auch, dass ich nichts mehr zu dem Stück zu sagen habe – außer, dass es ein guter Abschluss einer sehr intensiven Woche war und es mir sehr gut gefallen hat. Da mir aber noch eine Nachtkritik fehlt, muss ich wohl doch etwas dazu sagen.
Bei dem Stück habe ich auch den Zusammenhang von Liebe und Sterben bzw. Liebe und Pflegen noch einmal deutlich gespürt – ein Motiv, das sich ebenfalls durch unsere Festwochen-Dramaturgie zieht. Während mir SIGNA ein ungutes Gefühl in die Knochen gejagt hat (auf die bestmögliche Art!), nähert sich No Yogurt for the Dead auf eine sehr weiche, liebevolle Art der Thematik an. Es war einfach sehr rührend.
Was ich auch gelernt habe, ist, dass ich anscheinend einen genau gegensätzlichen Theatergeschmack habe wie Dominik. Wenn er also das nächste Mal ein Stück kritisiert, werde ich nicht zögern, mir Karten zu besorgen – mit der Sicherheit, dass ich es lieben werde.
Ein Appell an alle Lebenden: Genießt euren Yogurt, solange ihr könnt!
Adel Ermak
Eine Generation, zweite Generation
Mit No Yogurt for the Dead stellt Rodrigues sein sechstes Stück in der Reihe der „Histoire(s) du Théâtre“ auf die Bühne. Wir haben im Rahmen der Festwochen die Möglichkeit, dieses im gemütlichen Saal des Akademietheaters zu erleben. Alles dreht sich um den Vater des Regisseurs – „Langbart“. Dieser war erfolgreicher Journalist und schrieb auch in seinen letzten Tagen im Krankenhaus weiterhin an einem Artikel, in dem es um seinen Alltag gehen sollte. Als Rodrigues jedoch nach dem Tod seines Vaters das Notizbuch durchblättert, merkt er, dass das Geschriebene eher dem Gekritzel eines Kleinkindes gleicht – es ist unleserlich. Dieser Theaterabend ist der Imagination gewidmet – der Vorstellung und Reflektion dessen, was „Langbart“ im Krankenhaus erlebt haben könnte, welche Gedanken durch seinen Kopf schwirren und welche Menschen ihn beschäftigt haben könnten.
Berge, Infusionslaternen, Krankenbetten, Groove
Das Bühnenbild ist beeindruckend simpel: Eine Berglandschaft prägt die abstrahierte Ästhetik, zwei Krankenbetten erinnern an die reale Thematik der Krankheit. Auf dem höchsten Punkt des Berges, in einem der Betten, befindet sich durchgehend eine Figur, die im Verlauf des Stückes unklar bleibt: Es handelt sich um einen Gitarristen, der aber gleichzeitig auch Mitpatient ist. „Langbart“ beschreibt, wie sein Zimmernachbar stöhnt – ob im Schlaf oder vor Schmerzen. Das Stöhnen können die Zuschauenden in Form des Gitarrenklangs nachvollziehen. Bitter, aber amüsant. Das Publikum lacht.
Is this… a musical???
Nach etwa der Hälfte der Vorstellungsdauer tendiert die Vorstellung immer mehr zur Musikalität. Neben des Gitarrenspiels singen die Spielenden nun auch, und das hervorragend. Der Eindruck eines Genrewechsels vom Sprechtheater zum deprimierenden Musical bleibt leider der einzige hervorzuhebende Aspekt dieser Inszenierung. Mittel, die auf den ersten Blick spannend wirken – wie beispielsweise die Infusionsständer, die auch gleichzeitig Laternen sind – wiederholen sich zu sehr, der Abend zieht sich in die Länge. Dennoch bleibt dem Regisseur zu wünschen, dass diese Arbeit ihn bei seiner Trauer begleiten und vielleicht auch unterstützen konnte.