New Creation

Regie: Bruno Beltrão, Halle G im MuseumsQuartier, 24. Mai 2022

New Creation © Wange Bergmann
New Creation – Eine Performance voller Leben, Bewegung und Leidenschaft (JayJay)

New Creation ist ganz klar ein Stück, dessen Hauptattraktion die Athletik, Ausdauer und Beweglichkeit des menschlichen Körpers ist. Bereits in den ersten Minuten dürfte einer jeden Person im Zuschauerraum klar geworden sein, dass alle zehn Akteur*innen des Kollektivs unglaublich gut darin sind, ihren Körper zu kontrollieren und genau nach ihren Vorstellungen zu bewegen. Was folgte, war eine ca. 50-minütige Demonstration allerlei Posen und Bewegungen, deren Durchführung viel Rumpfstabilität und Training erfordert. Am ehesten würde ich die Art des Tanzes mit Hip Hop, Breakdance, Ausdruckstanz aber auch Bewegungen aus dem Sport, wie etwa Ringen oder div. Kampfsportarten, assoziieren.
Auf der fast durchgehend mit warmen Farben beleuchteten Bühne agierten fünf Personen, die in Schwarz gekleidet waren und vier, die helle Kleidung trugen. Nur eine Person war ganz in Rot gekleidet. Man hätte meinen können, dass diese Farben dazu dienen sollten, um als Code zu fungieren, etwa um Lager bzw. einander bekämpfende Seiten zu markieren. Aber dem war nicht so bzw. ich persönlich konnte nicht einen solchen Sinn darin erkennen. Denn alle Akteur*innen schienen miteinander völlig unabhängig von Kleidung auf ähnliche Weise zu interagieren – sie schubsten, zogen, berührten und hielten einander. Eine Art Dress oder Uniform, die Zugehörigkeit symbolisiert, sollte die Kleidung demnach vermutlich nicht darstellen.
Generell habe ich bemerkt, dass die Akteur*innen in New Creation – vor allem verglichen mit den anderen Stücken, die wir gesehen haben – keinerlei Berührungsängste gezeigt haben. Es schien so, als kenne sich die Truppe bereits sehr gut und als bestünde völliges  Vertrauen zueinander.

Konfrontiert war das Publikum mit einer klassischen Guckkasten-Bühnen-Situation, und diese Bühne wurde vom Tänzer*innen-Kollektiv ausgiebig genutzt. Vom Beginn bis zum Schluss bewegte sich, ohne Pause, stets mindestens eine*r der zehn Akteur*innen energisch auf der Bühne – mal feurig wild, ein andermal langsam und ruhig. Zwar ging das Licht manchmal aus, doch Akte im engeren Sinne gab es keine. Die Bewegungen an sich waren nie vorhersehbar, und perfektionistische Ambitionen Richtung Busby Berkeley-artigen symmetrischen Formationen gab es auch nicht. Vielmehr wirkte alles wie ein organisiertes, perfekt einstudiertes Chaos, was ja zunächst wie ein Widerspruch in sich klingt. Hier hat es aber überraschend gut funktioniert. Denn so willkürlich, wie die Bewegungen auch schienen, gab es nie Momente, in denen der Fluss gestört wurde oder jemand gezögert hat. Alle wussten scheinbar stets, was sie zu tun hatten und was als nächstes passieren sollte.

Ein Kontrast zu einigen der von uns zuvor gesichteten Performances ergab sich für mich auf der auditiven Ebene. Sie war nicht etwa eine Art zweites Hauptaugenmerk, auf das man sich gleichzeitig mit der visuellen Ebene konzentrieren sollte, wie in Una Imagen Interior oder in To Speak Light Pours Out. Die Musik war latent präsent und hatte vielmehr eine stimmungsunterstützende Funktion. Hierdurch waren die Geräusche, die von den Akteur*innen selber stammten, sogar in der letzten Reihe noch vernehmbar. Für mich war dieses Detail extrem wichtig, denn es ruft in Erinnerung, dass hier Körper aus Fleisch und Blut auf der Bühne agieren, die atmen, stöhnen, keuchen und genau durch diese Anstrengung ihr Leben spüren und ihre Leidenschaft mit uns teilen. Natürlich hörte man z.B. auch das Quietschen der Schuhe oder aber Geräusche vom Aufprall der Körper auf die Bühne nach einem Sprung. Es war tatsächlich nur das direkt von der Bühne zu hören, denn es wurde im ganzen Stück kein einziges Wort gesprochen oder gesungen und es wurden auch keinerlei Requisiten verwendet.

Während das Publikum am Ende der Vorstellung hin und weg zu sein schien, habe ich mich hin- und hergerissen gefühlt. Denn was ich gesehen habe, hat mir sehr gut gefallen. Körper zu sehen, die mit solcher Kraft und Präzision Bewegungen durchführen, hat einfach etwas Faszinierendes an sich. Das Tänzer*innen-Kollektiv hat gezeigt, was es draufhat. Aber das war´s halt auch schon. Ich bin nicht generell der Meinung, dass ein Stück explizit politische Aussagen machen muss. Allerdings habe ich mich, angesichts der Tatsache, dass im Programmheft Stichworte wie „Konflikte“ und „Spaltung“ und andererseits „positive Visionen“ und „Solidarität“ fallen, um politische Aussagen betrogen gefühlt. Ich hätte mir nach der Lektüre des Programmhefts einfach mehr Spannung im dramaturgischen Sinne erhofft, also zumindest einen symbolhaften oder latent angedeuteten Konflikt. Stattdessen kommt es mir vor, dass die Kurzbeschreibung im Programmheft wie eine Einleitung zu einer Arbeit wirkt, deren Fazit sich nicht auf sie bezieht. Doch im großen Ganzen glaube ich, dass die Tänzer*innen die Aufmerksamkeit des Publikums durch eine andere Art von Spannung halten konnten, nämlich durch die rohe physische Energie, ihren Elan und ihre Begeisterung.


Gesellschaftliche Blitzlichter (S.W.)

 New Creation heißt das neue Stück von Bruno Beltrão und der Grupo de Rua. Die Premiere ist ausverkauft und der Applaus nach nur ca. 60 Minuten tobend. Der Schweiß der acht Tänzer und der zwei Tänzerinnen ist nach einer körperlich intensiven Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Gewalt, Solidarität und Gemeinsamkeit deutlich sichtbar. Wie kann gemeinsam gehandelt und gelebt werden, wenn die gesellschaftliche Spaltung (in Brasilien) so groß ist?

Der Anfang startet schnell: wir sind gefühlt direkt auf den Straßen Brasiliens und bekommen durch kurze Blitzlichter einen Einblick in gesellschaftliche Dynamiken, die im weiteren Verlauf des Stückes immer wieder aufgegriffen und vertieft werden. Die kahle große Bühne ist hauptsächlich mit Scheinwerfern befüllt, welche die Tänzer*innen in neue Szenarien einleitet, sie begleitet oder unterbricht. Am Rande der Bühnenseiten stehen sie, die Tänzer*innen, und treten ein, fliegen oder fallen in das Geschehen. Trotz der vielen Licht-an-Licht-aus-Momente entsteht durch die Begleitung der abstrakten E-Musik (Lucas Marcier) und den dynamischen, immer weiter aufbauenden Bewegungen ein Fluss. Die Performance zieht die Zuseher*innen in den Bann. Am Ende war meine erste Reaktion: zu kurz.

Es ist eine heterogene Gruppe, die letztlich beinahe homogen wirkt. Die Tänzer*innen sind Projektionsflächen, haben, so scheint es, keine fixen Rollen, sondern zeigen gemeinsam in unterschiedlichen Facetten die oben genannte Thematik auf. Eine Frau, rot angezogen, fällt auf, unter neun ansonsten in Schwarz oder Weiß gekleideten Menschen; abgesehen davon ist sie jedoch fest in dieselben Mechanismen wie die anderen eingebettet. Genauso wie ein Mann, dessen Kostüm aussieht wie eine Kutte, womit auch die Kirche fest in die Mechanismen eingebunden erscheint. Ebenso das Militär findet sich in einem Kostüm wieder, verstärkt repräsentiert durch die in einen festen Pferdeschwanz gebundenen Haare und die vielen wütenden und kämpfenden Bewegungen der zweiten Frau im Ensemble. Dass zwei Frauen Teil der Gruppe sind, hat mich persönlich erst einmal irritiert. Sie stachen zu sehr heraus und verwischten die Tatsache, dass es nicht um sie als Person ging, sondern um die Bewegungen: der Tanz erzählt die Geschichte. Eine reine Männergruppe oder eine geschlechtlich ausgewogene, gemischte Gruppe hätte für mich assoziativer mehr Spielraum geboten, das Geschlecht mehr aufgehoben und den Bewegungen mehr Raum gelassen.

Die Bewegungsmuster waren beeindruckend. Es war ein ständiges Spiel darum, sich zu verbiegen und zu brechen, um etwas zu schaffen, nicht standhaft sein zu können, von umliegenden Personen oder Kräften, die wir nicht sehen, herumgeschubst zu werden, ein erneuter Versuch dem anderen den Kopf zu halten, ihn aufzubauen und zu schützen, aber dabei zu scheitern. Darüber hinaus beobachten wir auch viele Bewegungen, die uns, neben all den Darstellungen von Gewalt, zum Lächeln bringen und uns überdies amüsieren sollen, um auf die Absurdität hinweisen, in der wir uns befinden. 

Assoziationen haben Platz, Fragen bleiben offen. Eine Spur Entschleunigung hätte ich mir gewünscht, denn so viel Bewegungen und Geschehen auf einmal – und in so kurzer Zeit – wirken zeitweise überfordernd. Aber ich vermute, das ist das Leben. Mit allem. Voll. Geladen.


Kampf gegen eine unsichtbare Macht (Katharina Langels)

Bruno Beltrãos neues Stück wurde schon sehnsüchtig erwartet. Da ist es auch in Ordnung, wenn das Stück noch nicht ganz fertig ist, der Titel (vielleicht?) noch nicht festgelegt und an den Schritten eventuell noch weiter gefeilt wird. Und so lässt man sich auf den Abend ein, schaut mit Spannung, wie das angekündigte politische Potential verhandelt wird und stellt sich die Frage: Kann Tanz widerständig sein?

Das Setting
In der ausverkauften Halle G im MuseumsQuartier empfängt ein schwarzer Bühnenraum das Publikum, der abgesehen von Scheinwerfern an den Seiten auch leer bleibt. Nacheinander betreten die zwölf Tänzer*innen die Bühne. Dass auch zwei Frauen unter ihnen sind, ist ein Novum für Beltrãos Grupo de Rua. Alle tragen sie einfarbige, weite und schlichte Kostüme, die viel Bewegungsfreiheit zulassen. Das Licht ist abwechslungsreich und abhängig vom Geschehen auf der Bühne, doch nie blendet es. Es begleitet die Tänzer*innen unterstützend.

Der Ablauf
Das Stück ist zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Episoden, bei denen mal eine*r, mal mehrere Tänzer*innen die Bühne betreten, während die anderen die meiste Zeit am Bühnenrand warten. Geht das Licht aus, gehen sie ab und es folgen die nächsten und eine neue Szene beginnt. Die Musik wird dann ebenfalls unterbrochen, setzt aber zum Teil auch wieder dort ein, wo sie aufgehört hat. Sie ist ruhig, besteht aus synthetischen ruhigen Klängen oder aber auch aus Vogelgezwitscher. Auffallend ist, dass sie fast nie die Szenerie auf der Bühne überstrahlt und so sind das Quietschen der Schuhe sowie der Atem der Tänzer*innen deutlich zu hören. Diese untermalen den augenscheinlichen Anspruch des Stückes, keine realitätsferne Fantasie abzubilden, sondern vielmehr einen Bezug zur Wirklichkeit und zum Hier und Jetzt darzustellen.

Die Bewegungen
Im Programmheft fragt Beltrão, wie es möglich ist, in Bewegung zu bleiben, wenn die Politik jeden Widerstand lähmt. Diese Bewegungen zeigt er, indem die Tänzer*innen einander halten und stützen, im Kollektiv gegeneinander oder auch gegen eine unsichtbare Macht boxen, die Fäuste in die Luft recken, sich tragen, heben, schubsen. In gebeugten Haltungen, bei denen die Tänzer*innen aussehen, als hätten sie keinen Kopf mehr, spiegelt sich eine Erniedrigung wider, die es zu ertragen gilt. Durch synchrone Bewegungen wird verdeutlicht, wie die Menschen einander folgen und einem Gruppenzwang ausgesetzt werden. Ein Trippeln in gebückter Haltung zeigt, wie man sich klein machen kann oder auch, wie man klein gehalten werden kann. Doch es gibt auch Ausbrüche aus der breiten Masse: Aus einer liegenden Position springen die Tänzer*innen nacheinander auf, um in verkehrter Richtung von der Bühne abzugehen – sie richten sich gegen den Strom und die Unterdrückung. Hier werden besonders die Hip-Hop.Einflüsse und Talente der Grupo de Rua deutlich, die sich im ersten Teil der Performance noch eher in einer zeitgenössischen Tanzsprache befunden haben. Auf athletische und beeindruckende Weise springen sie durch die Luft und wirbeln am Boden, es ist ein wahrhaftiges Aufbäumen, was hier zu sehen ist.

Die Message
Mit seiner Choreografie lässt Beltrão viel Raum für Interpretationen und eigene Lesarten zu. Antworten auf die Frage, ob Tanz eine widerständige Antwort auf Politik sein kann, gibt es nicht, aber es werden Bewegungsmuster erkennbar, die einen Widerstand darstellen und die Unterdrückung sowie Lähmung zeigen, die aber auch die Ermüdung sichtbar machen, die ein Kampf mit sich bringt. Beltrão hinterfragt, wem gefolgt wird, welche Auswirkungen das haben kann und verdeutlicht, welche Macht das Kollektiv haben kann.
Ob diese Lesart allerdings für jede*n ersichtlich war, sei dahingestellt, denn die ausgefallenen Bewegungen waren nicht immer einfach zu deuten und liegen natürlich auch immer im Auge des*r subjektiven Betrachter*in. Manch eine*r mag sich vielleicht noch eindeutigere Botschaften gewünscht haben, dennoch war es ein eindrucksvoller Tanzabend und ein gelungener Abschluss des Festwochen Campus.


Die Straße ist der Ort des Widerstands (A.V.)

Bruno Beltrão und die Grupo de Rua präsentierten am Dienstagabend in der Premiere von New Creation bei den Wiener Festwochen eine pulsierende Performance voller Energie, Urbanität, Konfrontation und Widerstand, die das Publikum in Begeisterung versetzte.

Bruno Beltrão, der bekannt ist für seine Fusion von Streetdance und zeitgenössischem Tanz, zeigt uns, wie Machtverhältnisse und Gruppendynamiken durch Tanz greif- und spürbar werden. Die zehn Tänzer*innen agieren als Individuen innerhalb eines Kollektivs, die ihre Beziehungen und Konflikte untereinander auf der Bühne austragen. Die Tänzer*innen unterscheiden sich sowohl optisch als auch durch ihre Techniken und Körpersprachen voneinander. Man könnte meinen, sie verkörpern die Elemente, Wasser, Erde, Feuer und Luft. Teils verschmelzen diese Individuen miteinander zu etwas Größerem, an anderer Stelle entsteht eine bedrohliche Dynamik, die einer Kampfszene gleicht. Trotz alldem stehen die Konfrontationen und Begegnungen im Kollektiv im Mittelpunkt. Nicht verwunderlich, da Beltrão dafür bekannt ist, durch seine Kunst auch Protest am vorherrschenden politischen System in Brasilien zu äußern. Jair Bolsonaro, der rechtsextreme Präsident des Landes, treibt die politische und soziale Spaltung immer weiter voran. Doch Widerstand kommt meist immer von der Straße, und Streetdance kann, wie New Creation zeigt, auf einer Bühne eine kraftvolle Repräsentationsfläche dieser Energien sein.

Auf der ästhetischen Ebene wird das Bühnenbild schlicht gehalten. Die Bühne besteht aus einem Tanzboden, der von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Die Beleuchtung nimmt dabei einen wichtigen dramaturgischen Part ein. Gleich zu Beginn werden uns durch prägnante Lichtcuts verschiedene Beziehungen und Situationen vorgestellt, indem wir jeweils zwei oder drei Tänzer*innen sehen, die miteinander interagieren. Diese Situationen werden auf der auditiven Ebene durch Soundscapes in verschiedene Räume verortet. Anfangs irritiert durch die maschinell wirkenden Bewegungen der Tänzer*innen, muss man diese erst als Individuen identifizieren, die in Interaktion miteinander stehen. Weiteres dienen Lichteffekte durch Monitore vorerst als Störungen, betten sich dann aber in die Ästhetik der visuellen Ebene ein. Die urbanen Einflüsse sind im Bühnenbild aber auch im Tanzstil nicht zu übersehen. Umso spannender sind die Gruppendynamiken, die dabei entstehen, wenn viele Personen auf der Straße/Bühne miteinander kollidieren. Bruno Beltrão setzt mit seinem Werk New Creation ein Statement bei den Wiener Festwochen, dessen Botschaft weit über die Grenzen Brasiliens verstanden und assoziiert werden kann. Denn in einem menschenfeindlichen System, das versucht seine Gegner*innen zu lähmen und verstummen zu lassen, geht es vor allem darum, in Bewegung zu bleiben.


Vulkan-Taste (Anabel Priemer)

Das im April 2022 in Frankfurt am Main im Künstlerhaus Mousonturm uraufgeführte Stück Bruno Beltrãos wird im Katalog der Wiener Festwochen als widerständige Antwort auf die gesellschaftliche Spaltung Brasiliens und menschenfeindlichen Politik des aktuellen Präsidenten angekündigt. Trocken und heiß, wie in einer noch oder bald qualmenden Vulkanlandschaft aus mattschwarzem, magmatischem Gestein wird in sieben kurzen und vier langen Szenen, die jeweils durch ein Blackout markiert sind, die Funktionen des menschlichen Körpers von der Grupo de Rua de Niteroi neu verhandelt.

Die Gruppe, so auch der Choreograph, nahm ihren Anfang im klassischen Hip Hop und in der Breakdance-Szene. Deren ästhetische Prinzipien von sich im Cipher mit ausholenden, lockeren Bewegungen Platz schaffenden Gesten und des gegeneinander Antretens – des sich Battelns – lassen sich an der ein oder anderen Stelle noch wage erkennen, bevor der Moment wie Asche in sich zerfällt. Die Soundkulisse ähnelt zu Beginn der eines Maschinenraums, einer abflugbereiten Flugmaschine, dessen Turbinen schon angelaufen sind, bevor sie sich in einen Trommelwirbel mit Infrabass verwandelt. Wechsel von hell zu dunkel. Eine leere schwarze Halle mit schwarzem Tanzboden gibt den elf Tänzer*innen Wallyson Amorim, Camila Dias, Renann Fontoura, Eduardo Hermanson, Alci Junior, Silvia Kamyla, Ronielson Araújo ’Kapu’, Leonardo Laureano, Leandro Rodrigues, Antonio Carlos Silva, gekleidet in den Farben beige, schwarz, rot, schwarz, schwarz, beige, weiß, weiß, grau, schwarz, beige, grau, genug Platz. Das Tanzstück ist ein zum Leben erwachtes Gemälde, wobei die Körper wie Farbtupfer sind und synkopisch ihre Spuren gegenseitig nachziehen, überkreuzen, verwischen. Die mikromaschinelle Passung, die sich in den menschlichen Körper mittlerweile eingeschrieben zu haben scheint, drückt sich in vibrationsnahen, hochfrequentierten und kleinteiligen Bewegungen der Tänzer*innen aus. Im Wechsel von Angleichen und Abtrennen, von Anziehen und Abstoßen wird der Raum auf allen Achsen von den schier unermüdlichen Tanzenden in Stücke gerissen. Wenn es dunkel wird, kann sich die Luft erholen.


“Brazil is burning and we’re just performing a lot of abstract gestures.” (Nele Hofmann)

Brasilien brennt und wir performen nur abstrakte Gesten. Was 2019 auf die großen Amazonas-Brände hinwies, kann auch in einem abstrahierten Sinne auf die generelle politische Situation in Brasilien unter Bolsonaro bezogen werden. Das Zitat stammt von dem Choreographen Bruno Beltrão selbst, in dessen neue Performance New Creation ich hier (m)einen Einblick ermöglichen will. Bei der Recherche zur allgemeinen Auffassung von Beltrãos Arbeit bin ich fast ausschließlich auf die Betonung einer politischen Dimension gestoßen. Während ein grundlegender politischer Ursprung der Streetdance Szene, aus welcher Beltrão kommt, nicht zu leugnen ist, muss ich mich bezüglich aller weiteren Überlegungen dem Künstler und seiner Aussage von 2019 anschließen. Konkrete politische Bezüge liefert die Performance nicht. Was nicht heißen soll, dass ihr nichts abzugewinnen ist. Ganz im Gegenteil.

Die zehn Performer*innen (davon erstmals in Beltrãos Arbeit auch zwei Frauen: Camila Dias und Silvia Kamyla) präsentieren ein breites Repertoire an Bewegungen, mit denen sie in unterschiedlichen Konstellationen den Bühnenraum einnehmen. Diese räumliche Dimension wird von der hervorragenden Lichttechnik Renato Machados unterstützt, mit dessen Hilfe ein überaus ästhetisches Gesamtwerk geschaffen wird. Die schwarze, einfach gehaltene Bühne wird durch das Licht in ihrer räumlichen Wirkung ständig verändert. Teilweise werden die Ränder mit gezielten Lichtstreifen abgezeichnet und in anderen Momenten ist überhaupt kein Ende des Raumes zu erkennen und die von warmen Scheinwerfern beleuchteten Körper der Tänzer*innen wirken freischwebend in einer schwarzen Endlosigkeit. Durch diese erzeugte Fragmentierung und die Interaktion der Tanzenden untereinander wird ein Hin und Her zwischen Kollektiv und Einzelner erzeugt. Gegenseitige Unterstützung verwandelt sich schnell in eine Art Kampf. Die Tanzenden wirken wie Krieger*innen, die gegeneinander, gegen etwas Größeres (hier wäre jetzt wieder der Anschlusspunkt für eine politische Interpretation) oder auch gegen sich selbst kämpfen, um wiederum in einer Umarmung zu enden. Die Musik steigert sich von Backround-Stadtgeräuschen zu experimentellen elektronischen Klängen, erzeugt von Lucas Marcier, die in Kombination mit Streetdance Elementen eine ungewohnte Atmosphäre schaffen. Wenn man das Suchen nach konkreten Zusammenhängen aufgibt, kann eine anregende sehr beeindruckende Tanzperformance genossen werden, deren Verantwortung es ja auch nicht sein muss, bestimmte Aussagen zu kreieren. Stattdessen lässt sie Körper für sich sprechen. Körper über die die absolut talentierten Perfomer*innen eine unglaubliche Kontrolle haben.


Where is my mind? (Anna Sophie Weber)

Mit dem Titel New Creation seiner neuen Inszenierung fragt man sich, ob Bruno Beltrão etwas Neues auf die Bühne bringen will oder ob es sich nur um seine persönliche neue Kreation handelt. Mit 10 Tänzer*innen füllt er die leere Bühne in der Halle G im Museumsquartier wahlweise komplett, wahlweise partiell.

Auf einer leeren Bühne, in deren hinterer linken Ecke ausschließlich ein schwarzer Monitor hängt, beginnt die Inszenierung mit vielen kleinen Szenen. Die Musik suggeriert durch Vogelzwitscher oder Baustellengeräusche Natur und Stadt. Die Tänzer*innen bewegen sich teilweise im Rhythmus oder kontrastieren ihn. Schwirren dort Insekten auf der Bühne?

Die Szenen werden länger. Durch rhythmisches Hin und Her erkennt man Kämpfe der Tänzer*innen untereinander oder das Finden zueinander. Der Insektengedanke hält hier nicht stand. Durch Breakdance, Hip-Hop und Modern Dance sucht jede*r seinen/ihren Platz, seine/ihre Gemeinschaft, seine/ihre Menschen. Doch keine*r scheint dies dauerhaft zu finden: jede*r erfährt ständige Anziehung und Abstoßung. Die Gewalt und Sehnsucht ist greifbar und wird tänzerisch sowie musikalisch immer weiter gesteigert.

Durch den Einsatz des Monitors scheint Polizeigewalt ein weiteres Motiv zu sein. Das Thema scheint sich durch die zweite Hälfte der Inszenierung zu ziehen. Es wird kurz ein Streifen roten Lichts auf dem Monitor angezeigt, später ein blauer. Gegen Ende erscheint eine Art buntes Kräuseln. Es erinnert an das Blaulicht und die Sirene des Polizeiwagens. Währenddessen finden immer wieder Kämpfe auf der Bühne statt.

In einer Szene befinden sich alle Tänzer*innen auf der Bühne. Mit den Köpfen nach unten und den Füßen in der Luft. Manche verlassen kurze Zeit darauf die Bühne, andere drehen sich. Im Kopf schaltet sich der Song Where is my mind von The Pixies ein: „With your feet on the air and your head on the ground. Try this trick and spin it.“ Wo ist der Verstand in dieser Welt der Kämpfe? Wo findet man Gemeinschaft und Solidarität? Diese Fragen werden nicht beantwortet, aber das ist auch nicht der Anspruch.

Die Lichteffekte lenken den Blick des Publikums. In den Anfangsszenen wird es immer wieder dunkel, wenn die kurzen Passagen vorbei sind. Es ist klar: eine neue Szene beginnt. Der Bewegungsraum der Figuren wird durch das Licht erweitert oder eingeschränkt. Es wird der gesamte Bühnenraum gezeigt oder einzelne Ausschnitte.

Durch den Einsatz des Lichts, Monitors, Musik und der Tänzer*innen wird die Zuschauer*innen in der 60-minütigen Inszenierung in einer Welt der Gewalt, Ungerechtigkeit und Versuche der Vergemeinschaftung gebannt gehalten. Obwohl im Programmblatt auf die Spaltung Brasiliens und den dortigen Hass verwiesen wird, scheint sich das Publikum in den Fragen nach Solidarität in einer Welt der Gewalt wiederzufinden: der tosende Applaus am Ende bestätigt dies.


Von Rio nach Wien – Tanz als universelle Sprache (A. H.)

New Creation heißt das neue Stück des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrão, welches er mit seiner Tanzgruppe Grupo de Rua heute in der Halle G im Museumsquartier auf die Bühne bringt. Diese ist, bis auf die beidseitig angebrachten Scheinwerfer und einem Bildschirm links oben, komplett leer. Diese Leere wird jedoch gefüllt, sobald die Tänzer*innen die kahle Bühne betreten und mit ihren ausdrucksstarken Bewegungen zum Leben erwecken. Die Bewegungen werden unterstrichen durch den gezielten Einsatz des Lichts, das immer wieder bewusste Akzente setzt und eine Soundkulisse, welche die Message des Stücks klangtechnisch unterstützt. Die Tänzer*innen sind in schlichte, einfarbige Gewänder gekleidet. Wer sich also ein extravagantes Bühnenbild im Stile des Karnevals in Rio de Janeiro erhofft hat, dürfte enttäuscht werden. Die minimalistische Szenerie lenkt die Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Bewegungen.

Zu Beginn folgen ein paar kurze, abgehackte Sequenzen, die durch Licht voneinander getrennt werden. Danach werden die einzelnen Szenen länger. Der Sound besteht anfänglich aus Alltagsgeräuschen wie Vogelgezwitscher und Straßenlärm. Mit der Zeit baut sich jedoch Spannung auf, welche besonders durch den Sound spürbar ist: die Alltagsgeräusche und ruhigen Klänge weichen bedrohlicher, angespannter Musik. Diese unterstreicht die Unruhe, die auf der Bühne im Gange ist und soll die prekäre Lage im gespaltenen Brasilien widerspiegeln. Auch wenn der Sound zwischendurch laut wird, können trotzdem die Geräusche vernommen werden, die während des Tanzens durch den Kontakt zwischen Körpern und Bühne entstehen. Es wird während des gesamten Stückes kein einziges Wort gesprochen. Stattdessen werden Tanz und Bewegung als Sprache genutzt, um die Message zu übermitteln.

Die Tänzer*innen führen eine Mischung aus Urban Dance und Modern Dance mit akrobatischen Elementen auf. Mal sind die abstrakten Bewegungen hektisch und ruckartig, mal langsam und fließend. Es sind immer unterschiedlich viele Tänzer*innen auf der Bühne, mal isoliert voneinander, dann wieder zu zweit oder als Gruppe vereint. Zeitweise sieht es aus, als würden sie miteinander kämpfen, dann scheinen sie wieder wie in einer Symbiose miteinander zu verschmelzen. Obwohl die Tanzbewegungen oft asynchron sind und nicht mit der Musik übereinstimmen, entsteht durch den Rhythmus und die enge Begegnung der Körper ein Gefühl von Zusammenhalt zwischen den Tänzer*innen. Der flackernde Bildschirm erscheint auf den ersten Blick irritierend und wirkt, als handele es sich um einen technischen Fehler. Im Kontext mit dem Geschehen auf der Bühne wird jedoch klar, dass dies gewollt ist: Er ist defekt, so wie vieles in Brasilien, einem von Armut und Kriminalität geprägten Land mit einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Diese Spaltung wird durch den Präsidenten Jair Bolsonaro und seine menschenfeindliche Politik noch weiter verstärkt. Ziel des Stücks ist es, die Proteste und Aufstände gegen diese kritische Lage von den Straßen Brasiliens auf die Bühne und somit der Welt näher zu bringen und gleichzeitig zu zeigen, dass es dennoch Hoffnung und Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung gibt.

Die politische Message, die im Programm der Wiener Festwochen angekündigt wird, bleibt durch das Weglassen gesprochener Sprache oder Untertitel sehr subtil und lässt Raum für Interpretation. Wie man die Performance auch deuten mag, die Tänzer*innen schaffen es, das Publikum durch ihre ausdrucksstarken Bewegungen in ihren Bann zu ziehen und zu zeigen, dass auch Tanz eine Sprache sein kann – und zwar eine universelle, die international verstanden wird.


New Creation – New Realization (Nefeli Giolas)

Vorher
Das Tanzquartier ist an diesem Abend ungewöhnlich voll. Schulklassen und wichtig aussehende Menschen stehen dichtgedrängt in der Eingangshalle, um sich die Premiere von Bruno Beltrãos New Creationanzusehen. Auf das Stück habe ich mich besonders gefreut. Ich bin gespannt auf die Grupo de Rua, der Straßengruppe, die aus Niterói und der Hip-Hop Szene kommt, nun um die ganze Welt tourt und heute Abend auf der Bühne der Wiener Festwoche stehen wird. Wie wird ihnen die Vermischung von zeitgenössischem Tanz und Formen des Hip-Hops gelingen? Wie kann Tanz eine politische Botschaft vermitteln? Ich stellte mir vor, wie ich von dem Stück gleich in den Bann gezogen werden, so wie es Tanz manchmal vermag, wenn ich die Energie der Bewegung in meinem eigenen Körper nachspüren kann und die Choreographie in schönen Formen mit der Musik verschmilzt.

Bühne
Als erstes sehe ich die leere Bühne. So wie es häufiger bei zeitgenössischen Choreographien der Fall ist, gibt es kein oder nur ein sehr minimalistisches Bühnenbild. Der Raum ist schwarz, doch dann kommt das Licht zum Einsatz.

Licht
Das Licht nimmt in dem Stück eine zentrale Rolle ein. Es gibt den Takt vor. Anfangs wechselt es häufig seine Formen. Kleine Gruppen aus Tänzer*innen beginnen sich in den Reihen, Kreisen und Rechtecken des Lichts zu bewegen. Sie nehmen Fahrt auf und schaffen in der Gruppe ein „Movement“. Abrupt geht das Licht wieder aus und wechselt in eine neue Form. Es schneidet die Bewegung der Tänzer*innen ab und lässt die Tanzsprache verstummen. Ich denke an die politische Situation in Brasilien. Wie kann man etwas Neues schaffen, Teil einer Bewegung sein, wenn die Politik im eigenen Land es einem verbietet? New Creation ist nur der Arbeitstitel des neun Stücks von Beltrão. Eigentlich passt er aber ziemlich gut, finde ich.

Kompanie
Es sind zehn Tänzer*innen auf der Bühne. Anfangs wechseln sie sich in kleinen Gruppen ab. Später stehen die zehn Tänzer*innen gemeinsam vor dem Publikum. Man spürt, dass sich die Gruppe gegenseitig vertraut. Es entwickelt sich eine eigene Dynamik zwischen ihnen. Gleichzeitig kommt der persönliche Stil der Mitglieder zum Ausdruck. Wie muss es für die „B-Boys“ und „B-Girls“ der Grupo de Rua wohl sein, vor dem Wiener Publikum zu stehen, frage ich mich und schweife schon wieder mit meinen Gedanken ab.

Kostüm
Die Tänzer*innen tragen lockere Gewänder, die jeweils ihren persönlichen Stil zusätzlich unterstreichen. Das Kostüm formt aus der Kompanie eine Gruppe, die in verwaschenem Schwarz und Beige gekleidet ist. Nur eine Tänzerin sticht mit ihrer roten Kleidung heraus. Erneut muss ich an die politische Botschaft des Stücks denken. Steht die rote Kleidung für den Widerstand und für die Kraft, sich der Gruppe zu widersetzen?

Chorographie
Der Tanz ist eine spannende Mischung aus Elementen des Hip-Hops und des zeitgenössischen Tanzes. Die Bewegungen sind so dynamisch und kraftvoll, wie ich mir die „Dance Battles“ vorstelle, aus denen der Breakdance hervorgegangen ist und die eine Alternative zu der Gewalt der Straßengangs darstellten. Gleichzeig haben die Bewegungen etwas Fließendes, fast Zartes, was ich aus klassischen und zeitgenössischen Stücken kenne. Der Tanz entfaltet sich einzeln sowie in der Gruppe kraftvoll und wird dann wieder gehemmt. Einzelne Tänzer*innen werden von der Gruppe nach unten gedrückt. Mehr nehme ich nicht wahr. Die Chorographie zieht an mir vorbei.

Klang
Es ertönt ein Dröhnen und ich denke an Una imagen interior, welches wir ein paar Tage zuvor in demselben Raum gesehen haben. Ich höre verschiedene Klänge und kann ein Vogelgezwitscher ausmachen, weiß aber nicht, wie ich es einordnen soll. Stehen die Geräusche für die Straßen Brasiliens? Es setzt dann doch noch Musik ein. Anfangs ist sie ruhiger, entwickelt sich aber dramatisch. Die Musik bleibt dabei so leise, dass man die kraftvollen Bewegungen der Tänzer*innen hören kann.  Durch den Einsatz von Klängen und der relativ leisen Musik bleiben das Auditive und das Visuelle getrennt. Die Choreographie ordnet sich nicht der Musik unter. Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich aber, dass Musik für mich eine wichtige Rolle spielt, wenn ich in eine Choreographie eintauchen will. In New Creation packt mich die Musik nicht und so schweife ich mit meinen Gedanken immer wieder ab und rutsche an den Bewegungen der Tänzer*innen wie an einer glatten Glaswand ab.

Nachher
Das Licht und die Musik gehen aus. Ich notiere mir „Pause“ und hoffe, dass gleich noch etwas kommt, das es das Stück endlich schafft, mich zu berühren. Stattdessen geht das Licht im Zuschauerraum an und tosender Applaus setzt ein. Ich höre wie zwei ältere Damen hinter mir von der Akrobatik in dem Stück schwärmen. „Akrobatik? – Ist mir gar nicht aufgefallen“, denke ich und bin generell verwundert, wie begeistert das Publikum zu sein scheint. Vielleicht liegt es daran, dass es nun das siebte Stück in Folge ist, das wir schauen und ich an diesem Abend nicht mehr so aufnahmefähig bin. Vielleicht liegt es auch daran, dass die letzten Stücke, die wir gesehen haben, das Publikum intensiv mit einbezogen haben und eine ganz besondere Erfahrung für mich darstellten. Letzen Endes zieht New Creation an mir vorbei wie ein lauwarmer Luftzug. Das Stück macht nichts mit mir und ich kann es nicht greifen.

Obwohl ich mir für den Festwochen Campus einen krönenden Abschluss gewünscht hätte, gibt mir New Creation eine andere wichtige Botschaft mit auf den Weg aus dieser intensiven Woche und in den normalen Alltag zurück. Das Stück zeigt mir, welche große Rolle die eigene Verfassung, Einstellung und Herangehensweise an ein Stück spielen und wie unterschiedlich so die Wahrnehmung ausfallen kann. Ein Stück ist nicht nur Objekt, sondern immer auch eine subjektive Erfahrung.


New Creation – eine weitere polyrhythmische, neue Kreation (Juliana Furthner)

Das fast banal als „neue Kreation“ betitelte Stück, sofern dieser Titel überhaupt endgültig ist, empfängt uns mit gedimmten Lichtern, die die schwarze Bühne leicht in ein warmes Gelb tauchen. Bei der Betrachtung des gestalteten oder eben nicht gestalteten und konstruierten Raumes sowie den ersten Minuten des Stücks, wird klar, es geht auch hier um Körper. Die eher minimalistisch eingesetzten Gestaltungsmittel, die sich hauptsächlich auf ein Spiel mit Licht beschränken, lassen uns unsere Aufmerksamkeit fast uneingeschränkt auf die Körper der Tänzer*innen richten. Und alldem, was in, um und zwischen diesen Körpern stattfindet.
Eine Art von Zerrissenheit hängt über dem ganzen Stück, eigentlich auch der ganzen tänzerischen und choreographischen Praxis von Bruno Beltrão. Ursprünglich aus dem urbanen Kontext des Hip-Hops kommend, studierte dieser anschließend zeitgenössischen Tanz. Eine Bewegung zwischen zwei Welten. Zwischen urbanen Kulturen sowie Sub-Kulturen, die oft als Zufluchtsort für jene dienen, denen in der Gesellschaft sonst kein Platz zugesprochen wird, und institutioneller Bildungseinrichtung. Eine Zerrissenheit lässt sich aber auch in Brasilien, dem Herkunftsland Beltrãos wiederfinden, vor allem gesellschaftlich. Dass die Stücke von Beltrão, in denen Hip-Hop und zeitgenössischer Tanz vereint werden, nun auf den Theaterbühnen Europas zu finden sind, ist vielleicht auch ein Bewegen zwischen zwei Welten. In New Creation findet sich diese Zerrissenheit inner- und außerhalb der Körper der Tänzer*innen. Zu Beginn des Stücks folgen einige Sequenzen aufeinander, in denen fast schlagartig zwischen hell und dunkel gewechselt wird. Während sich das Licht im Laufe der ersten Minuten beruhigt, scheint sich diese Hin- und Hergerissenheit jedoch in den Tänzer*innen auszubreiten. Oft scheint es eine Art Spiel zu sein. Ein Spiel, in dem sich die Tänzer*innen zwischen voller Kontrolle über den eigenen Körper und der Grenze zum Kontrollverlust bewegen. Ein Spiel zwischen den Tänzer*innen, indem sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht gebracht wird, in dem aber auch oft nur durch eine andere Person das eigene Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann. Obwohl das Tanzen einer gemeinsamen Choreografie ausbleibt, entsteht so ein starkes Miteinander. Es lassen sich immer wieder einzelne Bewegungskonzepte erkennen, mit denen sich die Tänzer*innen gleichzeitig, aber doch individuell, beschäftigen. Ruckartig werden deren Körper in halbe Drehungen gerissen, als würde sie ein Windstoß für kurze Zeit mitnehmen – für mich ein Konzept des zeitgenössischen Tanzes. Beinahe auf dem Boden hockend wird über die Bühne gegangen, ein Verweis auf den „Duckwalk“ im Vogueing? Ein Fokus auf die exakte Bewegung der Hände am Anfang könnte an „Tutting“ erinnern, genauso wie einzelne Fragmente und Strukturen von Schritten oder Grooves sowie akrobatische Elemente doch manchmal an Hip-Hop und Breakdance erinnern.

Die verwendete Musik führt uns jedoch weg von typischen Hip-Hop Kontexten. Sie scheint auch nicht dazu zu dienen, jegliche sonstige Geräusche auf der Bühne und im Raum zu übertönen oder zu verschlucken. Bewegungen, Schritte und der Atem der Tänzer*innen sind die meiste Zeit Teil der Geräuschkulisse. Schritte und Bewegungen der einzelnen Performer*innen erzeugen Rhythmen. Mit Gedanken an die Performance von Kate McIntosh scheint das Thema der Polyrhythmik auch in diesem Stück eine Rolle zu spielen und vielleicht ebenfalls auf die Möglichkeit eines Neben- und Miteinanders individueller Stimmen zu verweisen. Die Polyrhythmik, ein für viele von uns scheinbar schwer begreifliches, unnatürliches Konzept, das jedoch beispielsweise in vielen afrikanischen Kulturen eine lange Tradition hat. Kulturen, aus denen sich wiederum Hip-Hop und viele andere Tanz“stile“ – beziehungsweise ein Bewegungsvokabular, das wir heute in Stile einordnen – entwickelt hat. Vielleicht doch ein Konzept, dem wir uns musikalisch, aber auch im übertragenen Sinne gesellschaftlich annähern könnten und sollten.


Politische Revolution durch Tanz (Tsvetelina Topalova)

Nach seiner Uraufführung im April im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main fand gestern Abend im MuseumsQuartier in Wien mit vollem Publikum und viel Spannung die Premiere der tänzerischen Performance New Creation statt. Der weltweit bekannte brasilianische Choreograf Bruno Beltrão trat mit seinem Tanzkollektiv mit voller Energie und Präzision auf der Wiener Bühne auf.

Zuerst wurden ein paar einzelne Tanzsequenzen von je zwei oder drei Tänzer*innen gezeigt, die verschiedene Geschichten vermittelten. Die sich abwechselnden intensiven und verlangsamten Körperbewegungen deuteten auf kommende Konflikte zwischen den Figuren. Auf Dauer kamen immer mehr Tänzer*innen dazu, womit sich auch deren Interaktion intensivierte. Die Musik war harmonisch und langsam wurde eine steigende Spannung aufgebaut. Die Choreographie bestand aus einer Mischung aus Hip-Hop (Break Dance) und zeitgenössischem Tanz und schaffte durch ihre eher schnellen sowie aggressiven Tanzbewegungen einen Kontrast zur Musik. Das Licht auf der Bühne wechselte von leicht dunkel zu sehr hell. Das gesamte tänzerische Bild wies auf eine Dekonstruktion des urbanen Tanzes und der unauflösbaren Konflikte hin, die dem Publikum nur durch die körperliche Sprache dargestellt wurden. Das gezielte laute Ausatmen der Tänzer*innen verstärkte die spannende Atmosphäre der Performance. Normalerweise ist die Straße die „Bühne“ des Hip-Hops. Heute Abend wurde die Bühne selbst ein Ort der Street Dance Kultur und der gemeinsamen Stimme der Menschen. Die Zuschauer*innen wurden in eine andere Realität hingezogen.

Die Interaktion zwischen den Tänzer*innen fiel sehr energiegeladen aus. Sie nutzten die Musik und Raum, um das Publikum auf eine politisch-gesellschaftliche Ebene zu involvieren. Die sich immer vertiefenden Konflikte auf der Bühne konnten als gegensätzliche Entwicklungen und Widerstände innerhalb der Gesellschaft und Politik Brasiliens, woher die Tanzdarsteller*innern kommen, interpretiert werden. Die tänzerischen „Kämpfe“ und die körperlichen Auseinandersetzungen auf der Bühne vermittelten das Gefühl von Hass, Spaltung und Hetze als Gegenreaktion zu rechtsextremen politischen Praktiken. Die hohen Sprünge, „Headspins“ und Bodendrehungen wirkten als eine Art Widerstandsbewegung, durch die die menschenfeindliche Realität konfrontiert und gemeinsam bewältigt werden könnte.

Kompromisslos, wütend, aber auch mit dem Wunsch nach Gemeinschaft vermittelte die brasilianische Tanzgruppe von Bruno Beltrão den revolutionären Geist der brasilianischen Gesellschaft und die Hoffnung auf eine positive und kollektive Zukunft des Landes. Die Performance betonte die Bedeutung der politischen Dimension des Tanzes und zeigte, dass durch Tanz radikale Gefühle und politische Haltungen erfolgreich räsoniert werden können. Ob auf der Straße oder auf der Bühne, die Suche nach Gemeinsamkeit und Solidarität war die Botschaft der Show New Creation bei seiner Premiere heute Abend in Wien. Die dynamischen Brüche und die beeindruckende Energie der Tanzgruppe brachte das Publikum am Ende auf die Beine.