Mémé

Konzept/Text/Performance: Sarah Vanhee, Theater Nestroyhof Hamakom, 26. Mai 2023

Mémé
© Bea Borgers

 

Wenn du geredet hättest, Großmutter 
(Klara Howorka)

Was wäre, wenn wir mit verstorbenen Verwandten sprechen könnten? In Mémé geht die belgische Künstlerin, Performerin und Autorin Sarah Vanhee ihrer westflämischen Herkunft auf den Grund. Sie selbst durfte ihre beiden Großmütter, die ihr Leben lang auf dem Feld arbeiteten, Kinder gebaren und diese großzogen, kaum mehr kennenlernen. Heute hat Vanhee selbst einen Sohn, dem sie die Lebensgeschichte von Oma und Mémé erzählen kann. Mithilfe eines „Beschwörungstanzes“, der nur von kleinen Kindern erfunden werden kann, ist es auch dem Publikum gestattet, diese beiden Frauen kennenzulernen.

Es folgt ein unfassbar emotionaler Theaterabend, bei dem drei Projektionsflächen die Geschichte Vanhees Vorfahrinnen transportieren: Zuerst werden verschieden große Figuren (gestaltet von Toztli Abril de Dios) aus schwarzen Säcken gezogen, die komplett frei von detaillierten Körperzügen sind und beinahe an kleine Geister erinnern.  Dann verwandelt sich die Bühne in ein Schattentheater. Zuletzt wird eine von der Decke hängende, dutzende Meter lange zusammengeflickte Decke eingesetzt, dessen Konstruktion ein enormes Maß an Geduld und (weiblicher) Arbeit abbildet. Die Wahl der Medien könnte als „kindlich“ bezeichnet werden, und ihre Wechsel lassen neugierig werden. Die einzelnen Kapitel werden durch Videoprojektionen mit Gastauftritten von Vanhees Sohn immer wieder unterbrochen, wodurch das Publikum in die Gegenwart zurückgeführt wird. Die Puppenspiele sind praktischerweise gerade noch simpel genug eingesetzt, um den Übersetzungen folgen zu können, welche notwendig sind, um die durch die westflämische Sprache lebendig gewordenen Großmütter verstehen zu können. Die Performerin wechselt sporadisch zwischen Englisch und Niederländisch und schlüpft dabei in verschiedene Rollen: sie wird zu ihren eigenen Großmüttern – kann aber deren Geschichten nur so weit nacherzählen, wie sie sie aus heutiger Sicht aus interpretieren kann.

Diese kindermärchenartige Form der Erzählung steht in einem starken Kontrast zu dem sehr schwer sitzenden Inhalt der Geschichte: Beide Großmütter weigerten sich nach mehreren blutigen Geburten ihre „eheliche Pflicht“ zu erfüllen, jedoch hatten sie keine andere Wahl und mussten viele weitere Kinder auf die Welt bringen. Die Aussage, dass „Frauen früher nicht arbeiten durften“, ist eine Simplifizierung, die Vanhee mit der Aufarbeitung der brutalen Realität jahrtausendlanger vergeschlechtlichter Tradition aufdeckt. Eine anerkannte Form der Arbeit war nicht möglich – und studieren erst recht nicht. Auch wenn dazu nicht direkt eingeladen wird, öffnet sich durch dieses Gespräch mit den Toten für das Publikum die Möglichkeit, über die eigene Großmutter nachzudenken sowie über die limitierten Handlungsräume, welchen Frauen bis heute noch ausgesetzt sind.

Vanhee streitet dabei ihre eigene Situiertheit niemals ab. Stets thematisiert sie ihre Position, stellt chronologisch Vergleiche zu ihren weiblichen Vorfahren auf: von neun Kindern, zu dreien und heute nur eines. Oder der Wandel von einem Feld zu einem Garten hin zu drei Blumentöpfen auf einem Balkon. Ein verändertes Frauenbild geht mit mehr Handlungsräumen aber auch mit in Vergessenheit geratenem Wissen einher.

Mémé ist ein Trauerprozess für das in Vergessenheit Geratene. Das Stück leistet Aufarbeitungsarbeit mittels Zärtlichkeit und Empathie für diejenigen, die nicht sprechen durften. Ähnlich wie in Christine Brückners Monologe-Zyklus Wenn du geredet hättest, Desdemona ist es gerade die Stille der Frauen, welche in Mémé aufgegriffen wird, um in ein erschütterndes und zugleich liebevolles Narrativ verpackt zu werden.


Eine hypnotisierende Reise der Verbundenheit: Mémé von Sarah Vanhee (Anna-Luisa Mahaffy)

Die belgische Theaterkünstlerin Sarah Vanhee entfacht mit ihrem faszinierenden Werk Mémé ein kraftvolles Feuer der Erinnerungen und Verbindungen. Ihre einzigartige Performance ist eine Hommage an die oft vergessenen Frauen der Vergangenheit, auf deren Rücken wir unsere heutige, emanzipiertere Gesellschaft aufbauen konnten. Das Stück erinnert an den weiblichen Körper, der ausschließlich der unbezahlten Arbeit und auch ungewollter Fortpflanzung zu dienen hatte. Durch Schichten von Geschichte und Emotionen gewebt, schafft Vanhee ein magisches Ritual, um ihre westflämischen Großmütter wieder zum Leben zu erwecken. Dabei wird die Performance durch ihre mehrsprachige Darbietung, die von Westflämisch über Niederländisch bis hin zu Englisch reicht, für das Publikum noch intensiver und zugänglicher. Mit persönlichen Geschichten und politischen Kontexten, Puppen, Schattenspielen, Geistern und musikalischer Begleitung wirft das Stück einen tiefgründigen und feministischen Blick auf die Wirren der europäischen Gesellschaft der letzten 100 Jahre. 

Die Künstlerin Vanhee ist bekannt für den Einsatz von verschiedenen Medien. Dieser Stil ist auch in Mémé deutlich zu erkennen, denn der Szenenwechsel geht oftmals mit einem Medienwechsel einher.  Dabei ist jedes Medium – von der Videoinstallation, der Eingangserzählung mit den Puppen, dem Schattenspiel, bis hin zur bebilderten Geisterbeschwörung und dem Schluss-Dialog im „Schlafzimmer“ – mit äußerst viel Bedacht gewählt. Sie unterstützen die Erzählung und verleihen eine gewisse Tiefe und Intimität, ohne dabei abzulenken oder zu überfordern. Das Eingangsvideo mit Home-Movie-Charakter berührt durch seine faszinierende Natürlichkeit, eine kindliche Neugierde und den liebevollen Umgang zwischen Mutter und Kind, was das Publikum aufgrund der ganz speziellen, fast schon magischen Intimität in einen Bann zieht. Diese Eingangsszene spannt einen gefühlvollen Bogen, denn die Essenz des Videos zieht sich durch die gesamte Inszenierung. 

Die Zusammenarbeit mit dem Puppenmacher Toztli Abril de Dios und der Klangkünstlerin Ibelisse Guardia Ferragutti verleiht Mémé eine zusätzliche künstlerische Ebene. Der fiktive Dialog und die sanften Interaktionen zwischen Vanhee und den menschengroßen Puppen – ihren beiden Großmüttern – berührt und lässt das Publikum in eine andere Welt eintauchen. Die Klänge erschaffen eine akustisch begleitende Landschaft, die passend zur Szene mal achromatisch und unbequem, mal sanft und harmonisch ertönen. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten verstärkt die hypnotische Atmosphäre und lässt die Vergangenheit in einer zarten Balance mit der Gegenwart verschmelzen.

Mémé bestaunt durch fesselnde Erzählungen der beiden Großmütter und schafft dabei eine Verknüpfung zur heutigen Zeit. Wie verhält es sich mit den vergessenen Frauen von früher in Bezug auf die Frauen von heute, deren Arbeit und Bemühungen immer noch ausgenutzt werden? Diese tiefgreifende Frage, die in Mémé aufgeworfen wird, regt dazu an, über die fortwährenden Herausforderungen und Ungerechtigkeiten nachzudenken, mit denen Frauen in unserer Gesellschaft konfrontiert sind. Es erinnert uns daran, dass die Geschichte sowohl durch die Arbeit unsichtbarer Frauen geprägt wurde als auch weiterhin geprägt wird. Am Ende stellen wir uns die Frage, welche enormen Erwartungen wir an Mütter hatten und haben.


Vergessene Leben und traurige Wahrheiten
(Anna-Mara Bernhofer)

Sarah Vanhee richtet sich mit ihrer 90-minütigen Soloperformance direkt an das Publikum und teilt mit uns eine tragikomische Hommage, die zum Nachdenken anregt. Die gebürtige Belgierin beschäftigt sich in und mit dieser Performance mit den Leben einer vergessenen Frauengeneration, indem sie in einen Dialog mit ihren verstorbenen Großmüttern tritt. Komisch-rituell beschwört sie ihre Präsenz und verhandelt auf Westflämisch, Niederländisch und Englisch deren Leben. Geprägt von harter Arbeit, vielen Kindern und einem starken Glauben trotzten diese Frauen den historisch schwierigen, vom Krieg geprägten Zeiten. Vanhee hinterfragt durch ihre Großmütter die Rolle von Frauen über die Jahrzehnte hinweg. Was hat sich für die Frauen in ihrer Familie verändert? Was können wir von unseren vergessenen Mémés noch lernen? Wie aus der Performance hervorgeht, waren die Leben ihrer zwei Großmütter sehr unterschiedlich. 

Oma hatte sieben Kinder, doch wollte sie nur drei. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und trauerte stets um ihre versäumte Bildung. Mémé hingegen hatte neun Kinder und wurde als Frau auf ihre Fähigkeit, diese zu gebären und großzuziehen, reduziert. Während Vanhees Oma eher abweisend dargestellt wird, steht die Wärme von Mémé demgegenüber. Dennoch wurden beide Frauen gleichermaßen von ihren Umständen geprägt und mussten sich in einer Welt mit strengen patriarchalen Strukturen zurechtfinden.

Vanhee inszeniert ein sehr persönliches Stück und eröffnet dem Publikum einen intimen Blick in ihre Welt, wobei sie nicht nur die Leben ihrer Großmütter wiedergibt. Sie lädt uns in ihr Zuhause ein, stellt uns ihren Sohn vor, und ermöglicht dem Publikum, sie durch seine Augen neu kennenzulernen. Formal bedient sich Vanhee bei der Umsetzung an Videoeinspielungen, einer Nebelmaschine und Puppen. Während ihrer Performance arrangiert sie diese Elemente auf der Bühne und betätigt hierfür auch selbst den Schnürboden. Besonders markant präsentiert sich am Ende der Performance ein großer Quilt, auf dem sie mit ihren von Puppen verkörperten Großmüttern Platz nimmt. Die Decke symbolisierte hierbei eine Innigkeit, die Vanhee im körperlichen Umgang mit den Puppen spiegelt. 

Im Rahmen ihrer Projekte beschäftigt sich Vanhee häufig mit unterrepräsentierten Narrativen, und so wirft sie mit dieser Performance ebenfalls ein Licht auf die übersehenen Heldinnen der Vergangenheit. Vanhee kreiert ein sehr persönliches Werk, welches viele Dimensionen des Frauseins und der Mutterschaft zeigt. Sie reflektiert die Vergangenheit ihrer Großmütter im Hinblick auf unsere Gegenwart und mögliche Zukunft, und zeigt auf, wie andersartig sich die Welt der Frauen heutzutage gestaltet. Gleichermaßen ist es ein Weckruf. Vanhee bewirkt mit ihrer Performance ein Nachdenken: Welche Frauen werden heute noch ausgebeutet, um jenen dieses Leben zu ermöglichen? Mémé birgt die Chance, jene Frauen, die den Weg ebneten, wiederaufleben zu lassen und deren Arbeit anzuerkennen.


Eine Ode an Mémé
(anonym)

In Mémé spricht Sarah Vanhee ganz grundlegende Dinge an, die uns alle betreffen. Sie beginnt mit einer Art Ahnentafel in Form von Figuren, die sie eine nach der anderen aus einem Beutel holt und auf den Boden stellt. Die Figuren, oder besser gesagt Puppen, haben keine Gesichter oder Geschlechter, aber die erste Generation der Puppen haben alle Namen, Beine und manche haben Arme. Die Generation danach hat kürzere Beine und kann nicht mehr stehen, sie müssen auf dem Boden sitzen. Es werden immer mehr Kinder und die Generationen vermehren sich, bis eine ganze Gruppe von Figuren einen beachtlichen Teil des Bodens einnimmt. Die letzte Generation, also Sarahs Kinder, sind nur noch Kugeln als Köpfe auf dem Boden und es fällt auf, dass die Zahl der Kinder deutlich abnimmt. In ihrem Monolog erzählt sie währenddessen, dass sie in einer ländlichen Gegend im flämischen Belgien aufgewachsen ist. Ihre vorangegangenen Generationen waren vor allem auf dem Land als Bauern tätig, hier spielt die körperliche Arbeit eine zentrale Rolle. Ihre Großmutter und ihre Mutter gaben beide ihre Körper dem Haushalt und den Ehemännern hin. Sie hatten kein Recht, Sex zu verweigern oder weniger Kinder zu gebären. Ihre Körper waren Werkzeuge und gehörten nicht ihnen selbst. Das Gleiche gilt für das Land, auf dem sie arbeiteten. Es wurde nie die Natur und die damit verbundene Ruhe und Schönheit geschätzt, sondern sie wurde immer nur aus einem funktionalen Aspekt herausbetrachtet. Diese Konflikte macht Vanhee auf der Bühne für das Publikum sehr greifbar und erlebbar. Sie stellt ihre eigene Mutterschaft mit ihrem Sohn Leander in Form von Videos mit Singen und Tanzen der Beziehungenmit ihrer Mémé (Mutter) und ihrer Großmutter gegenüber. Sie teilt ihre Rolle der fürsorgenden Mutter mit dem Publikum und gibt einen Raum für Gemeinsamkeit und Träumen. Dies macht sie sehr passend anhand des Bühnenbildes, sieh baut eine Art Oase und Liegefläche auf, auf der dann ihre Mémé und Oma in Form von Puppen liegen und sich über Themen wie Feminismus und Bücherempfehlungen unterhalten.

Ein sehr wichtiger und grundlegender Aspekt ist, dass Vanhee ihr Theater und ihre Bühne während des Spielsaufbaut. Die Aufführung wird von ihr allein manuell aufgebaut und jeder Schritt ist für das Publikum sichtbar. Dadurch wird auch wieder die manuelle Arbeit von ihr und ihren Vorfahrinnen thematisiert sowie aufgegriffen. Wir unternehmen mit Vanhee eine fiktionale Reise in ihre Vergangenheit und lernen ihre Mémé und Oma kennen. Wir lernen, dass alle drei ihre Mutterrolle sehr ernst meinen, aber dass die Bedingungen sehr unterschiedlich waren bzw. sind. Wir hören, wie sie auf Flämisch mit beiden korrespondiert und versucht, das vergangene Leben und Leiden beider zu würdigen.


(No) trace in history
(A. H.)

Sarah Vanhee erzählt in ihrer Soloperformance „Mémé“ die Geschichten ihrer Großmütter, die stellvertretend für eine ganze Generation stehen. Eine intime und persönliche sowie gleichzeitig hochpolitische Performance, die sich jede Generation anschauen sollte. 

Der Raum im Theater Nestroyhof Hamakom ist klein und es gibt kaum Distanz zur Bühne, wodurch diese zutiefst persönliche Performance von Vanhee zusätzlich intensiviert wird. Jede kleinste Bewegung wäre zu hören, und so schaut und hört das Publikum mucksmäuschenstill zu. 

Die Performance beginnt mit einem Video. Vanhee spricht mit ihrem Sohn Leander, der seine Großmütter nie kennengelernt hat. Ihm will sie “Oma” und “Mémé”, ihre familiäre Herkunft und den westflämischen Dialekt vermitteln. Und genauso gestaltet sich die Performance, als ob Vanhee mit einem Kind sprechen würde. Sie setzt Puppen, Gewänder und Schattenspiele ein, um die Geschichte zu erzählen. Dabei spricht sie als eine ihrer Großmütter oder zu Leander im westflämischen Akzent. Spricht sie zum Publikum, spricht sie auf Englisch. Wir sind die Zuschauenden eines privaten Gesprächs.

Ruhig und undramatisch erzählt sie zwei dramatische Lebensgeschichten. Das Leben der beiden Großmütter ist sehr ähnlich verlaufen: „Kinder gebären und arbeiten”. Beide lebten ein armes Leben auf dem Lande, konnten nicht die Bildung erhalten, die sie haben wollten, gebaren in einer lieblosen Beziehung 9 bzw. 7 Kinder und arbeiteten täglich hart an der Bewirtschaftung des Landes sowie für den Haushalt. Schlussendlich starben beide allein im Altersheim. Keine der 9 bzw. 7 Kinder pflegte die Mutter. Und schlussendlich gibt es „no tracy in history” von den beiden Frauen. Die Geschichten ihrer Großmütter stehen stellvertretend für die Geschichten einer ganzen Generation von Frauen, die nicht erzählt werden. Vanhee wirft nicht nur Fragen über patriarchale Strukturen, Chancengerechtigkeit, Bildung und Selbstbestimmung auf, sondern auch Fragen über Geschichtsschreibung: Wer schreibt Geschichte, wer ist in ihr enthalten und wie wird die jeweilige Geschichte medial aufgegriffen? 

In der Performance wird der Unterschied der drei Generationen dargestellt. Vanhees Leben ist ganz anders als das ihrer Großmütter. „Von 9 (Kindern), zu 3 zu 1”, „von einem Acker, zu einem Garten, zu einem Balkon”. Durch das Gespräch mit ihren Großmüttern zeigt Vanhee jedoch auch, wie nah sich diese Generationen und ihre Geschichte sind. Eine Realität, die sich nicht nur auf Belgien und Vanhees Leben reduzieren lässt, sondern mit der sich viele Zuschauende im Publikum identifizieren.
Sicher ist, dass diese multimediale Performance, die an manchen Stellen etwas überladen wirkt, für verschiedene Generationen eine andere (Aus-) Wirkung haben wird – und das ist das Bemerkenswerte. 
Mémé – Ein wichtiges Stück Geschichte, das sich unterschiedliche Generationen miteinander anschauen sollten, um miteinander in Dialog zu treten. Ein emotionaler, mutiger und wichtiger Abend. 


Mémé – Ein Theaterstück, das die stummen Stimmen erhellt (Gabriel Radwan)

Die Bühne ist in Schatten gehüllt. Sarah Vanhee sitzt geduldig in der Dunkelheit – wartet bis es Zeit ist, die Soloperformance Mémé zu beginnen. Über den Abend hinweg wird sie einen sehr intimen Einblick in die Geschichte ihrer Familie, vor allem über ihre Großmütter, geben. Dabei macht sie von einer multimedialen Inszenierung Nutzen, welche von Filmprojektionen über Puppen, bis hin zu Schattenspielen reicht. Die verschiedenen Formen scheinen einen Sinn zu haben. Sie machen das Erlebnis abwechslungsreicher, spannender – im Publikum fragt man sich stets, was sich im nächsten Sack befindet, die sie spannungsvoll von der Decke herunterlässt. Meistens sind es Puppen, die Platzhalter für ihre abwesenden Familienmitglieder sein sollen. Denn diese Geschichte ist im Kern ein Appell an die Verunsichtbarung und Verstummung ihrer beiden Großmütter, die sie Mémé (westflämisch für „Omi“) und Oma nennt.

Die Geschichte von Mémé ist die einer von ihren neun Kindern geliebten Mutter. Tagtäglich schuftete sie auf dem Acker, erzog die Kinder und ging sogar den haushälterischen Tätigkeiten nach. „Blut, Blut, Blut – beinahe wäre ich gestorben“ wiederholt Sarah Vanhee bei den Geburten der Kinder von Mémé. Sie nimmt die Rolle ihrer Großmutter ein, spricht zum Publikum in Westflämisch sowie Englisch und möchte uns verdeutlichen, wie sich ihre Großmutter für ihre Familie aufgeopfert hat. Bei jeder Geburt wäre sie fast gestorben, schuftete tagein tagaus, doch heute gibt es weder Bilder noch Aufzeichnungen von ihr. 
Sarah Vanhee muss ihren Großmüttern die Stimme geben. Auch für ihre Oma, der Mutter ihres Vaters, zeigt sie Empathie und Verständnis. Ihr Tanten und Onkel zeigten sich ihr gegenüber eher abneigend. Sie sei aufgrund der „Kälte in ihrem Herzen“ kalt und freudlos gewesen, wie Sarah Vanhee poetisch ausspricht. Vanhee sieht in ihrer Oma ein weiteres Opfer des Patriarchats. Sie wollte keine sieben Kinder, hatte jedoch keine Wahl. Dies hätte ihr die Freude und jegliches Streben im Leben genommen. Doch wie so viele Frauen hatte sie kein Mitspracherecht, war sie ja nur dazu da, um zu arbeiten und Kinder zu gebären.

Sarah Vanhee zeigt sich während der Aufführung gelegentlich zynisch, aber auch einfühlsam, um diese Ungerechtigkeiten anzusprechen. Um ihre Großmütter endlich sichtbar zu machen, lässt sie sie als lebensgroße Puppen dem letzten Teil des Stücks beiwohnen. Sie spricht sensibel mit den Puppen, als ob sie tatsächlich die Inkarnation ihrer Großmütter wären. „Ist es in Ordnung, wenn ich dich so anfasse?“ fragt sie sie, da ihnen wohl nie diese Frage gestellt wurde. Sie hatten keine Handlungsmöglichkeiten und haben auch jetzt keine. Sarah Vanhee erzählt dem Publikum, dass sie nicht weiß, was sie ihre Großmütter antworten lassen solle. So wie die Puppen waren auch ihre beiden Großmütter stumm und ohne Handlungsfähigkeit. Ihre Enkelin kann nur, lange nach ihrem Ableben, dafür sorgen, dass ihre Geschichten endlich in rührenden 90 Minuten gehört werden.


Fürsorge. Fürsorge. Fürsorge.
– Nein. Nein. Nein.
(Franziska Undis)

„Ich glaube, ich muss meine Mama anrufen“, war die erste Reaktion eines Kommilitonen, nachdem Sarah Vanhee ihre 90-minütige Aufführung beendet. Mémé ist eine Hommage an Vanhees weibliche Vorfahren, vor allem an ihre Großmütter. Ein Stück, das uns selbst zum Nachdenken über unsere eigenen Vorfahrinnen anregt. Durch verschiedene künstlerische Elemente wie Videoaufnahmen, Schattenspiele oder Puppenkonstellationen versucht die Performerin und Autorin Generationen zu verknüpfen und sie zu zelebrieren. Als würde sie eine Erinnerung erleben, sitzt sie hinter einem Vorhang oder schwelgt, von Nebel umhüllt, in alten Geschichten und Pointen ihrer Vorfahrinnen. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ ist einer dieser Sprichwörter, die sich Vanhee auch in ihrem Stück zu Herzen nimmt, indem sie immer wieder Stille erlaubt und so einerseits einen Raum zum Nachdenken und andererseits einen Raum für ihre verstorbenen Verwandten schafft, die sie immer wieder geistig hervorzurufen versucht. 

Vor beziehungsweise auf einem Quilt sitzend, der für eine Zusammensetzung aus verschiedenen Generationen symbolischer nicht sein könnte, schwelgt Sarah Vanhee in ihrer Soloperformance zusammen mit den als Puppen anwesenden Figuren, die ihre Großmütter darstellen sollen, in der Vergangenheit. Zu den Puppen sucht sie physischen Kontakt und lässt hier körperliche Nähe zu, die sie so zwischenmenschlich nie miteinander erfahren konnten. So wie eine Mutter ihr weinendes Kind in die Arme nimmt, umarmt auch Vanhee die stellvertretenden Körper ihrer verstorbenen Vorfahrinnen und versichert ihnen, dass alles gut wird und sie, die ihr ganzes Leben dafür geopfert haben, andere zufriedenzustellen, das Recht haben, diese Fürsorge und Liebe zurückzubekommen. 

Mit dem Erzählen der Schicksale ihrer eigenen Vorfahrinnen will Vanhee zeigen, dass unsere Mütter, Großmütter oder Urgroßmütter bevor sie zu diesen wurden, selbst einst nur Frauen waren, die Träume und Wünsche hatten. Und dass diese sich oft hinter ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter vergessen haben. Zwar ist es schön, persönliche Geschichten von Vanhees Vorfahrinnen zu erfahren, die sicherlich viele andere Frauen auf ähnliche Art und Weise erlebt haben, aber hier hätte dennoch die Thematik genutzt werden können, um auf die Verbindung zu den Problematiken heutiger Frauen einzugehen: „Well A säg, mot auk B sägen“ (dt. „Wer A sagt, muss auch B sagen“). Denn all die Probleme und Ängste ihrer Vorfahrinnen, die Vanhee ausführlich schildert, hängen heute immer noch wie eine Nebelwolke über vielen Frauen auf unserer Welt. 

Die Botschaft, die Vanhee vermitteln will, kommt zwar an, nimmt dabei aber durch die Übersetzungen auf den Tafeln Umwege, da sie das Publikum dazu zwingen, dauerhaft mitlesen zu müssen, um den Inhalt des Stücks zu verstehen. Neben der Gleichzeitigkeit von Übersetzungen, Filmmaterialien und Bühnengeschehen bleibt also der Mut zur Lücke. Dass die Übersetzungen, die über mehrere Sprachen und Ebenen erfolgt, dabei unterschiedliche Bedeutungen haben können, lässt die Frage offen, ob hier nicht einzelne Elemente über die Übersetzung verloren gehen. Die Pausen, in denen Vanhee ihre Puppen aufbaut, wirken oft langatmig und gezwungen.

Obwohl es sich bei Mémé um eine Hommage handelt, will Vanhee ihre Vorfahrinnen keineswegs als unfehlbar darstellen. Viel mehr betont sie ebenfalls deren Fehler, die sie in ihrem Leben in Bezug auf die Erziehung und dem Umgang mit der Natur, z.B. durch die Verwendung von Pestiziden, gemacht haben. Damit will sie unterstreichen, dass jeder Mensch fehlerhaft ist, dass jeder Mensch Träume und Sehnsüchte hat und dass gerade Frauen in früheren Zeiten – und auch heute noch, wie Vanhee leider außer Acht lässt – diese für ihre eigenen Kinder begraben mussten. Eine Theaterperformance mit Potenzial (und Luft nach oben), die in vielerlei Hinsicht zwar alle ansprechen soll, aber gerade von einem weiblichen Publikum und hier vor allem von Müttern und Großmüttern viel intensiver verstanden werden kann.


Erinnerungen aus der Black Box: die vergoldete Stille meiner Mémé auf dem weiten Feld
(Valentin Seißler)

Im Hamakon steht eine Black Box. Ein dunkles, aus der Zeit gegriffenes, choreographisches Feld, in das uns Sarah Vanhee einlädt, ihr zuzuhören. Es sei die Geschichte ihrer westflämischen Herkunft, die gar nicht so lange her erscheint und doch so ganz anders aufgestellt war. Denn kaum zwei Generationen vor ihr mussten sich zwei Frauen – ihre Großmütter (väterlicher- wie mütterlicherseits) – für ein beschwerliches Leben zwischen zahlreichem Kinderkriegen, den Ehemann und das Dorf beglücken und der tagtäglichen Arbeit auf dem Feld sowie am Hof entscheiden. Die eine, Mémé genannt, bekommt standesgemäß die 9 Kinder (bei jeder Geburt: „Blut, Blut, Blut, fast wäre ich umgekommen“), lernt aber in all der patriarchal geführten Härte des Alltags ihren Theatertext bei der frühmorgendlichen Feldarbeit und geht in ihrer gesellschaftlichen Rolle ‚der Mutter’ auf, sodass sie noch am Sterbebett davon begeistert ist, ihre ganze Familie versammelt zu sehen. Die andere wiederum, Oma Denischen genannt, wollte eigentlich, dass ab 3 Kindern Schluss ist, aber es kamen noch 4 hinzu (bei jeder Geburt: „Neeeiiiin, Neeeiiiin“). Letztlich geht sie an dem rauen Alltag und der Welt, in der sie nicht für sich leben konnte, sondern nur im Sinne einer Produktivität für den Erhalt des Familienstammbaums und dem Ertrag auf dem Feld sorgen musste, zugrunde. 

Diese persönlichen Einblicke und Erinnerungen, die sich nicht davor scheuen, ins Traumhafte abzudriften, teilt Sarah Vanhee in feinfühliger Hingabe: sie verwandelt das Nachdenken über das großmütterliche Andenken in ein Spiel mit Puppen und auf multimedialer Fläche um. In der Black Box wird regelmäßig eine Leinwand heruntergekurbelt, auf der gezeigt wird, wie Vanhees kleiner Sohn Leander mit ihr im Bett liegend spricht oder uns direkt adressiert sowie mit einer Kamera ausgestattet den Wohnraum zeigt. Im letzten Drittel wird auf einer überdimensionalen Schichtdecke im Quilting-Stil mit lebensgroßen Puppen gekuschelt (nie dargebrachte Zärtlichkeit, die Vanhee ihren Omas schenken wollte? „Entschuldigung, dass ich euch berühre. Sagt mir bitte, ob es okay ist“). Keine Arbeit im Bühnenraum für das Bühnengeschehen bleibt ungesehen.

Das Nachdenken über Mutterschaft als normalisierter Arbeitsmodus sowie über unfreiwillige, weil geforderte, Lebenseinstellungen wird angeregt und damit einhergehend die Frage nach der Produktivität von Intimität und Fürsorge in diesem archaischen Miteinander gestellt. Sarah Vanhee schenkt dem Publikum in ihrem Solostück großes Vertrauen, nämlich mit der von ihr gezeigten Intimität bedacht umzugehen. Lange verharren wir auf den Großaufnahmen der Leinwand, während Leander mit der Handkamera jeden Winkel des Körpers seiner Mutter begutachtet, sie dazu ausfragt und sich über die körperliche Verfassung offen wundern darf. Ein Sich-Annähern an die Vergangenheit über den Körper der Mutter. Das, was er leistet und geleistet hat, was er für Zärtlichkeit und gleichzeitige Zähigkeit ausstrahlt und wie eine doch so spezielle Verortung einer Familiengeschichte in einer bestimmten Zeit universell berühren kann und auf Verständnis trifft. In der Black Box wurde Sarah Vanhee für ihre intime Reflexion groß bejubelt. Ich musste im Nachhinein an eine ähnliche, filmische Aufarbeitung denken: Sarah Polleys Stories we tell (2012, CA). Jedes Versatzstück eines Menschen erzählt eine neue Geschichte über dessen Beziehung zu ihm, die Mutter als erste große Liebe, die Mutter als ewig Fernes, das so ungreifbar erscheint und dennoch tief in uns rumort.


Zwischen persönlicher und universeller Erfahrung: Sarah Vanhee und die Bedeutung der Weitergabe von geteilten Geschichten (Pauline Deschamps)

Sarah Vanhee lädt uns in diesem Stück ein, mit ihr – und ihrem Sohn – auf die Suche nach der Geschichte ihrer Vorfahren zu gehen. Sie befragt die Vergangenheit ihrer Familie und insbesondere die Geschichte der Frauen in ihrer Familie. Auf dem Weg dieser sehr persönlichen Suche schlägt Sarah Vanhee uns vor, die  Gepflogenheiten einer bestimmten Epoche zu hinterfragen. Die Erfahrungen, die die Großmütter der Performerin gemacht haben, erinnern sicherlich so manchen von uns an die Erfahrungen unserer Großmütter oder Urgroßmütter.

Die Performerin empfängt uns in einer Ecke sitzend in ihrer Black Box, im Dunkeln lauernd und darauf wartend, dass das Saallicht ausgeschaltet und die Bühnenbeleuchtung eingeschaltet wird. Dann erscheint sie, allein und in alltäglicher Kleidung. Die Bühne besteht aus drei schwarzen Wänden, es gibt kein Bühnenbild. Sarah Vanhee ist da, um uns einfach und ungekünstelt ihr Wissen und ihre Geschichte zu vermitteln. Wenn man nach oben schaut, bemerkt man schwarze Säcke, die von der Decke hängen. Darin enthalten sind Gegenstände – Stoffpuppen und Kleidungsstücke ihrer Großmütter – mit denen Vanhee ihre Geschichte auf intime Weise illustriert. Leise steht sie auf, nimmt einen Faden ab und lässt eine weiße Leinwand herunter, auf der ein Video projiziert wird. Es erscheint Sarah Vanhee, die mit ihrem Sohn Leander im Bett liegt. Gemeinsam sprechen sie über die Frage der Sprache. Kann Leander die Sprache seiner Vorfahren sprechen? Es scheint, dass die Wurzeln seiner Urgroßeltern von der neuen Generation vergessen werden. Vanhee fragt ihn: „Willst du mehr über deine Großmütter erfahren?“. Und so begeben wir uns auf eine große Reise, um Oma, die Großmutter väterlicherseits, und Mémé, die Großmutter mütterlicherseits, zu finden.

Es wird sehr schnell klar, dass die beiden Frauen – Oma und Mémé – in einer Zeit gelebt haben, in der die weibliche Subjektivität nur wenig oder gar nicht berücksichtigt wurde. Sie waren nur Körper. Körper, die müssen. Körper, die keine Wahl haben. Körper, die arbeiten, unterhalten, sich reproduzieren. Das zeigt Vanhee, als sie die Kinder der beiden Frauen zählt. Auf der einen Seite das Blut und die Angst, beim Gebären zu sterben. Auf der anderen Seite der – nicht erfüllte – Wunsch, nicht noch ein Kind zu bekommen. Die Mutterschaft wird für beide Frauen als etwas Obligatorisches, eine mühsame, schwierige Pflicht angegangen. Sarah Vanhee, die die Erwartungen, die damals an Frauen gestellt wurden, kritisch betrachtet, möchte ihren Großmüttern das bieten, was sie nicht kennenlernen durften. Eine liebevolle Umgebung. Feministisches Lernen: Da der Zugang zur Bildung für diese beiden Frauen unmöglich war, schenkt Vanhee ihnen – metaphorisch gesprochen – Bücher, damit sie endlich ihr eigenes Wissen aufbauen und sich von dem System emanzipieren können, das sie ihr Leben lang eingesperrt hat. Sie bietet ihnen die Freiheit zu entscheiden, ob sie berührt werden wollen oder nicht. Das erste Mal, dass sie generell um ihre Zustimmung gebeten wurden, war sicherlich, als Vanhee sie – genauer gesagt die Puppen – fragte, ob sie damit einverstanden seien, so berührt zu werden. Was mich auch an eine Art Umkehrung der fehlenden Zustimmung denken lässt, wenn Kindern Küsse und Umarmungen von Verwandten oder der Familie selbst aufgezwungen werden. Diese fast lebensgroßen Puppen, die die beiden Großmütter darstellen, sind vielleicht eine doppelte Umkehrung, da sie sowohl die Kindheit als auch die Sexualität repräsentieren. Obgleich es für Sarah Vanhees Großmütter zu spät ist, ist es wichtig, diese Geschichten zu teilen, um sich des Weges und der Fortschritte in Bezug auf Feminismus und Frauenrechte bewusst zu bleiben.

Diese Geschichten, die Sarah Vanhee in diesem so scheinbar unpersönlichen Bühnenraum auf Niederländisch erzählt, stehen im Kontrast zu den Videos, die wir auf der Leinwand projiziert sehen. Sarah erscheint dort mit ihrem Sohn in dem intimen Raum ihres Schlafzimmers. Die Multimedialität schafft eine Trennung zwischen dem persönlichen Leben der Künstlerin und dieser Geschichte, die ebenfalls persönlich, aber gleichzeitig universell ist.

Dieses Stück zeigt uns die Wichtigkeit von Erinnerungen. Es stellt uns Fragen über das Verschwinden von Menschen. Wie erinnert man sich an Menschen, die man nicht gekannt hat? Kann man sie vergessen, wenn sie Teil unserer Familie und unserer Geschichte sind? Auch Fragen über das Teilen von Geschichten zwischen den Generationen werden gestellt: Wie kann man Geschichten weitergeben? Müssen sie weitergegeben werden? Warum sollte man sie weitergeben? Für Sarah Vanhee scheint es, dass die Weitergabe von Wissen, Dingen und Personen, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten sind, wichtig ist, um sich selbst und andere besser kennenlernen zu können. Und vor allem, um besser zusammenleben zu können.


Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
(Till Kanis)

Die eigene Familie und damit sich selbst zum Stoff einer Inszenierung zu machen, zeugt nicht nur von großem Mut und der Akzeptanz der eigenen Vulnerabilität, sondern auch von der Überzeugung, dass die zur Verfügung stehende Geschichte interessant genug sei, um einen ganzen Abend auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu füllen. Unter diesen Voraussetzungen zeigt die in Brüssel lebende Künstlerin und Performerin Sarah Vanhee ihre Ein-Personen-Performance Mémé

Mémé ist ein westflämisches Kosewort für Oma und dementsprechend erzählt Vanhee über 90 Minuten die Geschichten ihrer beiden Großmütter. Diese führten ein hartes und beschwerliches Leben in den Nachkriegsjahren, bekamen insgesamt 16 Kinder und stellten ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte für das Wohl ihrer Familien zurück. Die Kinder wurden hart, aber bestimmt erzogen, und wann immer die jeweiligen Männer von der Arbeit nach Hause kamen, wurde mit zunehmendem Unmut ein neues Kind gezeugt. 

Auf einer simplen, aber multimedialen Bühne widmet sich Vanhee diesem Thema und illustriert mit Hilfe von Puppen und Schattenspiel das arbeitsreiche Leben der beiden Frauen. Dabei erklärt sie dem Publikum eine Menge über die Familienumstände und wechselt stets zwischen Westflämisch, Niederländisch und Englisch hin und her. Nachdem die beiden Geschichten mit sämtlichen Kindern schließlich umrissen sind, widmet sich Vanhee sich selbst und ihrer Beziehung zu den beiden Protagonistinnen. Einigermaßen rührend setzt sie sich mit ihnen auseinander und erzählt dem Publikum, was sie den beiden gerne gesagt, gefragt und mitgegeben hätte. Immer wieder taucht auf einer Videoleinwand Vanhees eigener Sohn auf, der mit kindlicher Freude das eigene Zimmer erkundet und mit seiner Mutter spielt. Hin und wieder richtet er das Wort an seine Urgroßmütter. 

Nun ist dieser sehr persönliche Stoff überaus rührend und emotional aufgeladen. Mit fast schon bedächtiger Andacht wird sich auf der Bühne der eigenen Familie gewidmet und das Leben fremder Menschen nachgezeichnet. Allerdings will dabei der Funke oftmals nicht richtig überspringen und Vanhee verliert einen Teil des Publikums irgendwo zwischen den Namen ihrer diversen Verwanden und dem unaufhörlichen Redefluss in einer fremden Sprache. Zwar ist die Familiengeschichte vor allem am Anfang noch interessant, jedoch gelingt es ihr leider nicht, das gesamte Publikum emotional einzubinden. Zu lang sind die einzelnen Passagen, und zu energielos oder langsam gibt sich Vanhee auf der Bühne. Darüber hinaus funktioniert der eigespielte Sohn nur bedingt als inszenatorisches Mittel. Denn dieser ist in seiner kindlichen Freude zwar wirklich unterhaltsam anzuschauen, driftet aber nach einigen Minuten ins Belanglose ab. Trotzdem ist es der Performerin hoch anzurechnen, sich so auf diese Art auf der Bühne zu öffnen und dem Publikum wenigstens die Möglichkeit zu geben, sich von dieser Ode an die Großmütter mitreißen zu lassen. Am Ende bleiben jedoch vor allem zwiegespaltene Besucher*innen und eine Menge Diskussionsbedarf.


Mémé – Familienaufstellung mit Längen
(Katrin Firlinger)

Im Rahmen der Wiener Festwochen hatten wir die Möglichkeit das Performance-Theaterstück Mémé am 26.5.2023 im Theater Nestroyhof Hamakom zu besuchen. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt dieSchauspielerin, Performerin und Autorin Sarah Vanhee in Mémé die Lebensgeschichten ihrer beiden Großmütter und versucht so, diese mittlerweile verlorengegangene Kriegsgeneration ihrem eigenen Sohn näherzubringen.        
Gemeinsam mit kleinen und größeren anschaulichen Hilfsmitteln wird nach und nach eine Familienaufstellung gemacht. Während dieser Aufstellung behandelt sie eingehend Themen, z.B. wie das Leben als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft aussah. Des Weiteren versucht sie ihre eigenen Generationenkonflikte aufzulösen und letzten Endes auch entstandene Generationentraumata aufzuarbeiten. Dies geschieht – ihrer eigenen Herkunft entsprechend – mehrsprachig, meistens auf Westflämisch, dem Dialekt ihrer Großmütter, gefolgt von Niederländisch, aber auch Englisch.   

Optisch untermalt wird die Performance von wenigen Bühnenteilen wie Leinwänden, Polstern, oder einer Decke vor einem sonst leeren Bühnenbild. Als Requisiten nutzt Vanhee vermehrt Stoffpuppen in allen Größen, die nicht nur als Anschauungsobjekt genutzt werden, sondern mit denen sie auch interagiert. Diese nimmt sie als Platzhalter für ihre verstorbenen Großmütter her und gibt ihnen die Möglichkeit, sich auf diese Art und Weise nach ihrem Tod neu in einer anderen Zeit zu verwirklichen, in der Frauen nicht mehr lediglich als Gebärmaschinen fungieren. Ergänzt wird das Ganze von gelegentlichen Videoeinblendungen der jüngsten Generation der Familie, Vanhees Sohn. Mit Liebe zum Detail erschafft Vanhee zur Veranschaulichung ebenso Schattenspiele, anhand derer sie das Leben ihrer Großmutter nacherzählt.      

Auch wenn das Stück mit viel Liebe zum Detail aufgearbeitet ist und zum Nachdenken anregt, habe ich den Theaterabend mit gemischten Gefühlen verlassen. Vanhee selbst fehlte es leider an nötiger Bühnenpräsenz. Trotz der intimen Atmosphäre, die zum Teil der Größe des Theaters zuzuschreiben war, fühlte man sich als Publikum nicht von ihr angesprochen. Das Bühnengeschehen ist vielmehr eine Nacherzählung mit Hilfsmitteln als ein theatraler Akt. Das führte, gemeinsam mit den sich in die Länge ziehenden Videoeinblendungen, dazu, dass dem Ganzen ein dokumentarischer Charakter verliehen wurde, der sich nicht mit meinen Vorstellungen von Performance verbinden ließ. Vanhee wurde damit zur Geschichtenerzählerin, nicht zur Persona. Durch ihre Präsenz sind indes die Übertitel negativ aufgefallen, die aufgrund des minimalistischen Geschehens auf der Bühne das Hauptaugenmerk auf sich gezogen haben, wobei das Lesen eben dieser für einen beträchtlichen Teil des Abends das Einzige war, was man als Zuseher*in zu tun hatte. Es stand demnach nicht der menschliche Körper im Vordergrund, sondern eben besagte Videoeinblendungen. Das Stück hätte wohl genauso gut als dokumentarisch angelegter Film funktioniert.