Keine private Angelegenheit
von Eva Bauer
Jede*r hat eine Meinung zu allem, immer. Vor allem auf X (né Twitter). Allerdings ist dieses Problem nicht neu, sondern nur verstärkt worden durch Online-Plattformen. Bereits 1962 musste sich eine Mutter einem „Shitstorm“ stellen. Als Frau des öffentlichen Lebens kann Sherri Finkbine ihre Privatsphäre nicht verteidigen, besonders in Kombination mit dem Tabuthema des Schwangerschaftsabbruchs mischt die breite Masse lautstark mit. Auf diese Weise inszeniert jedenfalls Joan Micklin Silver die wahre Geschichte der Fernsehmoderatorin in dem HBO-Drama A Private Matter.1
Sherri Finkbine hat bereits vier Kinder und lebt den amerikanischen Vorstadttraum, als sie erfährt, dass ihre aktuelle Schwangerschaft durch die Einnahme von Thalidomid beeinträchtigt ist. Als eines der ersten Opfer des Contergan-Skandals würde ihr Kind mit starken Fehlbildungen zur Welt kommen. Abtreibungen sind 1962 in Arizona verboten, mit einer Ausnahme, nämlich wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Um vor den Gefahren des Medikamentes zu warnen und in dem Glauben an das Versprechen des Journalisten, ihre Identität zu schützen, vertraut sie einer Zeitung ihre Geschichte an. Daraufhin müssen die Finkbines mit Meinungen von allen Seiten umgehen und die größtenteils negativen Kommentare ertragen – beide Eltern verlieren sogar ihren Arbeitsplatz.
Die Beschäftigung mit diesem Film ist insofern besonders spannend, weil drei unterschiedlichen Zeitebenen und Kontexte aufeinandertreffen. Das Narrativ entfaltet sich im Jahr 1962, während der Film 1992 veröffentlicht wurde und wir mit einer Distanz aus dem Jahr 2025 auf diese Ereignisse zurückblicken können. Dabei ist es interessant zu betrachten, wie diese Punkte in die Zeitachse der Abtreibungsrechte und -debatten fallen und ob sich diese in den letzten 60 Jahren geändert haben.
Um die drei Ebenen genauer zu erläutern: 1962 wird vom Contergan-Skandal geprägt, die analoge Presse dominiert. Im Jahr der Veröffentlichung von A Private Matter wird als Folge des Urteils von Planned Parenthood v. Casey2 das Abtreibungsrecht ausgeweitet und die Digitalisierung nimmt langsam Form an. Heute werden die Vereinigten Staaten von reaktionärer Politik in Sachen reproduktiver Gesundheit bestimmt und durch die Omnipräsenz der Sozialen Medien werden, im Vergleich zu den 60er Jahren, Prozesse des Journalismus und der Meinungsbildung exponentiell beschleunigt.
Um den Kontext der Zeit in Bezug auf Abtreibung und Medienlenkung zu verstehen, hilft die Argumentationslinie des Historikers Felix Krämer. Er skizziert die Mediensituation in den USA zu kontroversen Themen folgendermaßen:
„Zusammenhänge bestanden beispielsweise zwischen Berichten über ‚Feminismus‘, ‚Abtreibung‘ und der Thematisierung von ‚Abortion‘ innerhalb der evangelikalen Bewegung, zu jener Zeit in den 1970er Jahren als die Frage nach Schwangerschaftsabbrüchen zum politisch-moralischen Argument wurde.“3
Zwischen dem Fall Sherri Finkbine und dessen Verfilmung erlebten die Vereinigten Staaten eine turbulente Zeit, die eine neue Welle christlicher Religiosität mit sich brachte.4 Krämer betont die Rolle der Kirche als meinungsbildendes Organ, das durch TV-Auftritte mehr Reichweite erlangte. Nachrichtensendungen befragten damals kaum Ärzt*innen oder Expert*innen aus dem Gesundheitsbereich, sondern „Vertreter der katholischen Kirche“, die natürlich gegen Abtreibungen Position bezogen.5 Die Haltung der Kirche ist wenig überraschend, denn geistliche Personen kontrollieren unter dem Deckmantel der Moral und mit dem Argument, das ungeborene Kind schützen zu wollen, die Körper von Frauen*.
Krämer zeigt aber auch die Ausmaße der Debatte auf, die über einfache „gut vs. schlecht“-Binaritäten hinausgehen:
„Aber das Recht auf Abtreibung war tatsächlich mehr als eine Forderung der Frauenbewegung. Kulturell überschritt die Frage nach Schwangerschaftsabbrüchen und der Selbstbestimmung des Körpers die feministische Bewegung in mehreren Dimensionen. Abtreibung war eine Größe, über die sexuelle Praktiken, soziale Bindungen, Familien, Hierarchien, mögliche Weiblichkeiten und Männlichkeiten verhandelt wurden. In der Frage nach dem Recht und der Möglichkeit auf Abtreibung kreuzten sich Bevölkerungspolitik, Klassenprivileg, Individualität und Familie.“6
Schon damals war die Abtreibungsdebatte ein polarisierendes Thema, genauso wie heute. Um diese Parallele zu verdeutlichen, hilft ein Blick auf die Interviewszene7 aus A Private Matter und auf zeitgenössische YouTube-Formate, die das gleiche Thema behandeln.
Sherri Finkbine und ihr Ehemann Bob sitzen in ihrem Wohnzimmer, während sich ein Kamerateam und ein Interviewer auf das folgende Gespräch vorbereiten. Der Interviewer sitzt dem Paar gegenüber und beruhigt die beiden, versichert ihnen, dass es eine stressfreie Situation sei. Zunächst sind die Fragen harmlos, doch das Interview eskaliert schnell, als die Phrase „kill your own baby“ fällt. Bob schreitet ein, indem er die Frage abweist und den Interviewer korrigiert: „We’re talking about a fetus.“ Er zieht wortwörtlich den Stecker und vertreibt das Team aus seinem Haus.

Screenshot: A Private Matter – 0:51:03
Emotionale Argumente und aufgehetzte Stimmung findet man heute auf YouTube wieder, wo beispielsweise der Kanal Jubilee Menschen mit gegensätzlichen Ansichten zu einem Thema zusammenbringt, um eine (nur teilweise gesittete) Diskussion zu fördern. Seit 2017 sind sechs Videos auf dem Kanal erschienen, die sich spezifisch mit der „Abortion“-Thematik beschäftigen.8
Das neueste davon ist Teil eines Formats namens „Surrounded“, welches eine sehr ungesunde Gesprächskultur fördert. In „Can 1 Pro-Lifer Survive 25 Pro-Abortion Activists? (feat. Lila Rose) | Surrounded“9 sitzt die Pro-Life-Aktivistin Lila Rose in der Mitte eines Sesselkreises, aus dem nach einem vorgelesenen Argument eine Person ausbricht und in die Mitte sprintet, in einem Rennen um die Chance, mit ihr zu diskutieren. Die außen sitzenden Personen haben die unterschiedlichsten Vergangenheiten und Hintergründe, glauben aber alle an das Recht, selbst zu entscheiden. Wenn die Mehrheit der Zuhörenden mit den Argumenten der sprechenden Person nicht einverstanden ist, wird das Gespräch abgebrochen und ein*e nächste*r Kandidat*in läuft in die Mitte.

Screenshot: „Can 1 Pro-Lifer Survive 25 Pro-Abortion Activists? (feat. Lila Rose) | Surrounded“ – 0:43:07
Dieser abrupte Abbruch eines Gesprächs, zusammen mit der Emotionalität des Themas erinnert an die Interviewszene aus A Private Matter, nur wird die Situation auf YouTube überdramatisiert und durch das unangenehme Format künstlich verstärkt – um das Viralitätspotenzial zu erhöhen und sogenanntes „Rage Bait“10 zu produzieren. Bemerkenswert ist auch, dass exakt die gleichen Argumente wie im Film fallen. Der Unterschied zwischen Fötus und Baby wird besprochen, das Recht des Kindes, zu leben, wird dem Recht der Mutter*, zu entscheiden, gegenübergestellt und wirklich produktiv sind die Diskussionen nicht.
Madison A. Krall analysiert die Zeitungsnarrative der 60er Jahre rund um den Fall Sherri Finkbine und findet drei Hauptargumente: Erstens, Frauen* seien zu hysterisch, um Entscheidungen zu treffen. Zweitens, Frauen* seien von Natur aus abhängig und drittens, nur Experten und nicht weibliche Patienten könnten vor gesundheitlichen Katastrophen schützen.11 Krall argumentiert, dass diese medialen Narrative für die Kontrolle von Frauen* und reproduktiver Gesundheit in den USA mitverantwortlich sind.12
Eine andere Szene des Films erinnert ebenso – wenn nicht noch stärker – an aktuelle Medienmechanismen. Bob telefoniert mit der Polizei und liest die Hass- und Drohbriefe vor, die an Sherri geschickt wurden. Sie betritt den Raum mit ihrem Baby im Arm und sichtet ebenfalls die Briefe. In einem steht in roter Schrift: „God will punish you!“ Damit werden wir an die religiöse Motivation der Abtreibungsgegner erinnert. Andere Briefe sind explizite Morddrohungen, wie etwa: „We know where you live. We’ll come after you.“13

Screenshot: A Private Matter – 0:55:37
Von hier aus ist es nicht schwierig, die Verbindung zu Hasskommentaren auf Social Media zu sehen, oder mittlerweile auch zu ganzen Videos, die eine Meinung vertreten. Sowohl die Verfasser*innen der Briefe, als auch der Online-Kommentare verstecken sich hinter ihrer Anonymität, was Sherri nicht mehr kann. Eines der prominentesten Beispiele dafür ist Nick Fuentes‘ X-Posting, in dem er nach dem Sieg Trumps bei der Präsidentschaftswahl 2024 schreibt: „Your body, my choice. Forever.“14 Es gibt zahllose konservative Creator*innen, die mithilfe von Jesus oder „killing babies“ gegen Schwangerschaftsabbrüche wettern.15
Von Anti-Abtreibungsaktivismus ist es nicht weit zu generellem Sexismus, der sich in den Sozialen Medien immer weiter ausbreitet. Sarah Banet-Weiser benennt zwei gegensätzliche Online-Strömungen, nämlich „popular feminism“ und „popular misogyny“:
„The technological affordances of social media have authorized popular misogynistic expressions in a similar manner as popular feminism – the audience is wider, the circulation happens on many interconnected networks with relative ease, and the broader cultural political context, symbolized by the election of Trump, as well as other extreme-right successes around the world, endorses an aggressive, defensive popular misogyny.“16
Dieser Begriff der „popular misogyny“ ist so passend, weil er die Aspekte einer öffentlichen Diskreditierung benennt, die Sherri Finkbine ertragen musste. Banet-Weiser sieht ihn als die Reduktion von Frauen* auf ihre Körper, auf ihre Instrumentalisierung als Objekte – und das alles in einer organisierten Form, in Netzwerken.17
Im Film wird Sherri Finkbines Schicksal durch ihre Bekanntheit plötzlich zu einer Angelegenheit der ganzen Stadt, bzw. der ganzen Welt. Die Aufteilung des Privaten und Öffentlichen wird auf den Kopf gestellt, sodass ihre Sicherheit in Gefahr ist, weswegen die Finkbines auch Polizeischutz erhalten. Es wird der Öffentlichkeit ermöglicht, sie privat zu attackieren.
Frauen* in der Öffentlichkeit sind auch heute noch diesen Hetzkampagnen ausgesetzt, wie etwa die Schauspielerin Blake Lively, deren gesamtes Image innerhalb weniger Monate durch einen kalkulierten Plan angegriffen wurde – vielleicht sogar irreparabel. Ihr Co-Star Justin Baldoni hatte Berichten zufolge den Willen und die Mittel, ihr öffentliches Ansehen zu vernichten.18 So wurde sie von einer sympathischen Schauspielerin zu einer Frau, die ohne Ernsthaftigkeit einen Film über häusliche Gewalt dreht und als Produzentin unpassende Entscheidungen trifft.
Es wird deutlich, dass die Hassnarrative um Frauen*, egal ob 1962 oder 2025, sich immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten zeigen. Vor allem die Abtreibungsthematik macht keine Fortschritte, wie auch Krall erkennt:
„The circulating warrants from Sherri Chessen Finkbine’s mediated health narrative continuously re-emerged in later regulatory discourses and helped create the discursive infrastructure for the Supreme Court to overturn Roe, dramatically changing the abortion landscape of the U.S. and forcing women to experience both new and old forms of regulatory oppression.“19
Teilweise religiös motiviert, sind Abtreibungsgegner*innen Teil eines Aktivismus, das seine wahren Intentionen geheim hält. Es geht nicht um den Schutz von Kinderleben – wenn dem so wäre, gäbe es strengere Waffengesetze in den USA. Es geht um die Kontrolle weiblicher Körper, um die Kontrolle der Medien zugunsten der eigenen Ansichten und um Kontrolle des Narrativs.
Literaturverzeichnis:
Banet-Weiser, Sarah: Empowered: Popular Feminism and Popular Misogyny. New York, USA: Duke University Press 2018.
Fuentes, Nicholas J.: 06.11.2024, 05:19 (MEZ), X: https://x.com/NickJFuentes/status/1854015641218355621, 15.03.2025.
Jokic, Katrin: „Was ist Rage Bait?“, in: Stuttgarter Nachrichten, 23.08.2024, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.rage-bait-mhsd.fde85dc5-b07f-4b2a-a53c-25513649fcbe.html, (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025).
Krall, Madison A.: „Regulatory Rhetoric and Mediated Health Narratives: Justifying Oversight in the Sherri Chessen Finkbine Thalidomide Story“, in: Rhetoric of Health & Medicine, 6/3, 2023, S. 304-334.
Krämer, Felix: Moral Leaders. Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre. Bielefeld: transcript Verlag 2015.
„Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992)“, in: justia.com, https://supreme.justia.com/cases/federal/us/505/833/, (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025).
Twohey, Megan et al.: „The Waging of an Alleged Smear Campaign Against Blake Lively“, in: The New York Times, 21.12.2024, https://www.nytimes.com/video/arts/100000009874263/the-waging-of-an-alleged-smear-campaign-against-blake-lively.html, (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025).
Filmverzeichnis:
A Private Matter, R.: Joan Micklin Silver, USA 1992. DVD, HBO 2006.
„Can 1 Pro-Lifer Survive 25 Pro-Abortion Activists? (feat. Lila Rose) | Surrounded“, R.: Jubilee, 12.01.2025, https://youtu.be/3-ACDhvL2j0?si=gry4E8GghxoR6pBL (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025).
- A Private Matter, R.: Joan Micklin Silver, USA 1992. ↩︎
- „Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992)“, in: justia.com, https://supreme.justia.com/cases/federal/us/505/833/, (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025). ↩︎
- Felix Krämer: Moral Leaders. Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre. Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 29. ↩︎
- Ebd. S. 7. ↩︎
- Ebd. S. 50. ↩︎
- Ebd. S. 109. ↩︎
- A Private Matter, R.: Joan Micklin Silver, USA 1992, Min. 0:49:24-0:51:21. ↩︎
- In anderen Videos wird das Thema ebenfalls besprochen, allerdings wird es in diesen sechs explizit im Titel erwähnt: „Can 1 Pro-Lifer Survive 25 Pro-Abortion Activists? (feat. Lila Rose) | Surrounded“, „Should Men Have A Say? Pro vs Anti Abortion Teens | Middle Ground“, „Is Abortion Murder? | Middle Ground“, „Pro-Choice And Pro-Life Supporters Search For Common Ground | Middle Ground“, „Pro-Life Women vs Pro-Choice Men | Middle Ground“, „Pro-Choice vs Pro-Life: Can They See Eye To Eye? | Middle Ground“. ↩︎
- „Can 1 Pro-Lifer Survive 25 Pro-Abortion Activists? (feat. Lila Rose) | Surrounded“, R.: Jubilee, 12.01.2025, https://youtu.be/3-ACDhvL2j0?si=gry4E8GghxoR6pBL (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025). ↩︎
- Vgl. Katrin Jokic: „Was ist Rage Bait?“, in: Stuttgarter Nachrichten, 23.08.2024, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.rage-bait-mhsd.fde85dc5-b07f-4b2a-a53c-25513649fcbe.html, (zuletzt aufgerufen: 15.03.2025). ↩︎
- Madison A. Krall: „Regulatory Rhetoric and Mediated Health Narratives: Justifying Oversight in the Sherri Chessen Finkbine Thalidomide Story“, in: Rhetoric of Health & Medicine, 6/3, 2023, S. 304-334, hier: S. 327. ↩︎
- Ebd. S. 328. ↩︎
- A Private Matter, R.: Joan Micklin Silver, US 1992, Min. 0:54:37-0:55:59. ↩︎
- Nicholas J. Fuentes, 06.11.2024, 05:19 (MEZ), X: https://x.com/NickJFuentes/status/1854015641218355621, 15.03.2025. ↩︎
- Vgl. Catholic Answers, @catholicanswers; Kristan Hawkins, @kristanmercerhawkins; Maya, @liveitloudmaya. ↩︎
- Sarah Banet-Weiser: Empowered: Popular Feminism and Popular Misogyny. New York, USA: Duke University Press 2018, S. 32. ↩︎
- Ebd. S. 2. ↩︎
- Megan Twohey et al.: „The Waging of an Alleged Smear Campaign Against Blake Lively“, in: The New York Times, 21.12.2024, https://www.nytimes.com/video/arts/100000009874263/the-waging-of-an-alleged-smear-campaign-against-blake-lively.html, 15.03.2025. ↩︎
- Krall, „Regulatory Rhetoric and Mediated Health Narratives“, S. 329. ↩︎