Mamma Mia, here AI go again?

ABBA-Voyage zwischen Reproduktion und Einmaligkeit

von Lisa Hagn

„Couldn’t escape, if I wanted to“, „ich könnte nicht fliehen, auch wenn ich es wollte“ singt die schwedische Band ABBA in ihrem Song ‚Waterloo‘ von 1974. [1] Die Musikgruppe thematisiert mit dieser Zeile die letzte Schlacht Napoleons [2], doch sie kann durchaus auch auf Praktiken Künstlicher Intelligenz (KI) bezogen werden. Denn inzwischen sind KI-Anwendungen im gesellschaftlichen Alltag verbreitet und bringen weitreichende Veränderungen mit sich – auch im Bereich der Musik. In welchem Ausmaß die Gestaltung von Live-Events unter dem Einfluss solcher technologischen Veränderungen steht und sich dadurch neue Formen des Erlebens etablieren, eröffnet ein weites Untersuchungsfeld. Für viel Aufmerksamkeit sorgte in diesem Zusammenhang vor allem das Projekt ABBA-Voyage. Es kann exemplarisch für einen Wandel von Live-Performances gesehen werden. Dieser Beitrag beleuchtet daher die Fragestellung, ob der Einsatz Künstlicher Intelligenz bei Live-Veranstaltungen, wie ABBA-Voyage, einen digitalen ‚Reset und Refresh‘ im Sinne eines grundlegenden Zurücksetzens und Neudenkens des Konzepts von Live-Aufführungen markiert. Dabei werden Formen ihrer Weiterentwicklung und technisch vermittelter Re-Inszenierung fokussiert, durch die herkömmliche Formen von Präsenz und Performance neu gedacht werden könnten.

Mit ABBA-Voyage veröffentlichte die schwedische Band ABBA 2022 [3] ein neues Album sowie ein außergewöhnliches und neuartiges Konzertkonzept. [4] Besonders macht das Event die Tatsache, dass nicht mehr die Bandmitglieder selbst auf der Bühne performen. An ihrer Stelle tritt eine digitale Version von ABBA auf. [5] Das Konzerterlebnis stellt damit vor allem eine mediale Zeitreise dar [6], die das Publikum in die Epoche der ersten Auftritte der Band zurückversetzt und die Live-Erfahrung von damals möglichst authentisch imitieren soll. Digitale Avatare, sogenannte ‚ABBAtare‘ [7], erscheinen auf der Bühne und präsentieren die Lieder. [8] Sie verfügen wie Hologramme statt einer physischen Präsenz im Raum über eine visuelle und virtuelle. [9] Die neue Medialität wurde schon bei der Weltpremiere eindrücklich sichtbar, insbesondere weil die noch lebenden ABBA-Mitglieder die Performance vor Ort aus den Publikumsrängen beobachteten. Damit wurde das Spannungsfeld zwischen real und virtuell deutlich. 

ABBA-Voyage zielt darauf ab, vergangene Bühnenperformances der Band rekonstruierend nachzustellen. Künstliche Intelligenz half insbesondere diverse Musikvideos der Band zu scannen und neu zu mastern. [10] Auch bei der Gesichtsanimation, Emotionserkennung und Mimik-Synthese war KI wichtig, ebenso wie bei der Verhaltensmodellierung, dem Scan der Körpersprache und der Synchronisation von Stimme und Gesang. [11] Doch auch und besonders die ABBA-Mitglieder selbst brachten den Entstehungsprozess des Konzerterlebnisses voran: Fünf Wochen lang wurden ihre Bewegungen, Anatomie und Mimik mithilfe von Spezialanzügen analysiert. [12] Dieses Verfahren wird ‚Motion Capture‘ genannt. [13] Die Aufnahmen von 160 Kameras, die das Verhalten der Band aufzeichneten, wurden digital nachbearbeitet [14] und die Realitätsnähe mithilfe des Verfahrens des sogenannten ‚Retargets‘ verbessert [15], auch hier half Künstliche Intelligenz mit algorithmischem Lernen. Um Authentizität zu generieren, wird versucht, so zu inszenieren, dass „Original und Reproduktion voneinander nicht mehr unterscheidbar sind und identisch scheinen“. [16] Vor diesem Hintergrund lässt sich ABBA-Voyage an die Theorie von Walter Benjamin anknüpfen. „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura“. [17] Da bei ABBA-Voyage nicht die lebende Band auf der Bühne performt, sondern ihre ABBAtare als technisch reproduzierte Formen ihrer jüngeren Versionen, würde dies nach Benjamin die Aura zerstören. Die Einmaligkeit des Konzerterlebnisses als Kunstwerk (in Form der physischen Präsenz der Bandmitglieder) fehlt. [18] Denn das „Hier und Jetzt des Originals macht [für ihn] den Begriff seiner Echtheit aus“. [19] Doch viele Rezipierenden sind von der Veranstaltung tief ergriffen. [20] Interessant ist also, ob Aura im digitalen Zeitalter neu hergestellt werden kann. Bei ABBA-Voyage und dem Einsatz algorithmisch gesteuerter Künstlicher Intelligenz stellt sich, besonders unter Berücksichtigung maschinellen Lernens, die Frage, ob trotz der Wiederholbarkeit und Abwesenheit der lebenden Band dennoch von einer Form von Aura gesprochen werden kann. Dies erscheint insofern plausibel, da die Performance sich durch adaptive Lernprozesse von Künstlicher Intelligenz stetig weiterentwickelt und nicht bloß mechanisch reproduziert wird. Beispielsweise werden bei ABBA-Voyage mithilfe von ‚Motion Capture‘ Tanzbewegungen analysiert und kontinuierlich um weitere Elemente ergänzt. Dadurch entsteht eine dynamische, technikbasierte Re-Inszenierung, die sich nicht bloß auf identische Wiederholung beschränkt. Vielmehr ist ein auratischer Effekt des Kunstwerks möglicherweise nicht trotz, sondern gerade durch Technologie gegeben. 

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz erweitert damit das Spannungsfeld technischer Reproduzierbarkeit und dem Verkümmern der Aura um Aspekte der postdigitalen Entwicklung. Während Benjamin von Fotografie und Film als Formen der technischen Reproduktion sprach [21], geht ABBA-Voyage einen Schritt weiter: Das Konzerterlebnis fusioniert algorithmische und immersive Elemente mit Aspekten der interaktiven Choreographie. Künstliche Intelligenz übernimmt nicht nur technische, sondern auch kreative Aufgaben. So ist die Reproduktion statt einer Kopie auch eine neue, virtuell erstellte Originalität. Damit stellt sich die Frage, ob die reproduktive Form Künstlicher Intelligenz Aura vernichtet oder eine andere Art davon schafft. ABBA-Voyage ist also möglicherweise ein Beispiel digitaler Aura als neue Form, die statt durch Einmaligkeit und Präsenz durch Simulation, KI-gestützte und adaptive Gestaltung entsteht und sich aus der immateriellen Erfahrung ergibt. Benjamins Theorie lässt sich damit mit den veränderten Bedingungen des digitalen Zeitalters neu interpretieren und ABBA-Voyage kann als Grenzfall gelten, der zeigt, dass Aura möglicherweise transformiert statt zerstört wird. 

Ein Auftritt der Band ABBA als etwas Bekanntes wird insofern fremdgestellt. Ein bewusstes Zurückkehren an den Start und Neudenken soll durch Mittel der Künstlichen Intelligenz erreicht werden. Wie ein solcher Refresh bietet der KI-Einsatz bei Live-Performances wie ABBA-Voyage neue Möglichkeiten, Inhalte aber auch Unklarheiten.

Da durch die verwendete Hologramm-Technik nicht verstorbene Menschen dargestellt werden, sondern das Konzerterlebnis von den lebenden ABBA-Mitgliedern aktiv mitgestaltet wurde, findet in gewisser Weise ein Reset der Autor*innenschaft statt. Nicht mehr nur der Mensch als kreativ schaffende Instanz steht im Mittelpunkt, sondern auch das medientechnische Dispositiv. Damit ist es nicht mehr nur eine technisierte Wiederaufführung von bereits Bekanntem, sondern eine Fusionierung und Verbindung lebendiger (wie beispielsweise durch das Verfahren des ‚Retargets‘ an den Bandmitgliedern) und virtueller, unbelebter Elemente der Hologrammtechnik mithilfe der KI-Methoden. Auf diese Art werden neue Möglichkeiten präsentiert. 

Damit nähert man sich dem Spektakelbegriff von Tom Gunnings Theorie des ‚Cinema of Attractions‘ an. Er geht davon aus, dass zur Zeit des Frühen Kinos [22] das Kunstwerk exhibitionistischer Natur war und darauf ausgerichtet, visuelle Neugierde zu wecken. [23] Die Geschichte diente als Vorwand, um einen Rahmen zu schaffen, um durch die Szenografie des Spektakels und der Zurschaustellung zu führen. [24] Für Gunning ist Attraktion eher im Sinne einer außergewöhnlichen Seherfahrung definiert [25] und die Stimulierung von Affekten wie Schock oder Überraschung dominierend. [26] Das Kunstwerk zielt auf sensorisches Vergnügen ab. [27] Vor diesem Kontext kann auch ABBA-Voyageuntersucht werden. Das audiovisuelle Ereignis bedient sich solcher Elemente und hat Spektakelcharakter. Das Staunen über die technischen Möglichkeiten wie ‚Motion Capture‘, die detailgetreue Mimik und Gestik sowie Licht- und Soundeffekte knüpft an die Affektorientierung an, die auch für Tom Gunning wichtig ist. [28] Der Effekt des Erlebens ist umso bedeutender. Da die lebenden Bandmitglieder das Spektakel aus den Publikumsrängen beobachten können, zeigt die Show ihre eigene Künstlichkeit. Den Rezipierenden ist bewusst, dass die Figuren nicht real sind und gerade dieser Fakt wirkt faszinierend. Die technischen Mittel werden damit nicht verborgen, sondern sogar inszeniert, vergleichbar mit den frühen Filmtricks von Méliès, die Gunning beschreibt. [29] ABBA-Voyage lässt sich damit, in Anlehnung an Tom Gunnings technologischen Attraktionsraums des Frühen Kinos als postdigitales Spektakel interpretieren. Digitale Rekonstruktion, der KI-Einsatz und seine Anwendungen werden nicht nur angewandt, sondern auch präsentiert. Das Konzerterlebnis ordnet sich damit in die Kette der medialen Sensation ein und markiert einen neuen Meilenstein in der Entwicklung von Live-Performances, diesmal jedoch auf der Ebene der digitalen Simulation. Zusammenfassend kann ABBA-Voyage vor dem Hintergrund eines digitalen Resets und Refreshs als zeitgenössische Form eines postdigitalen ‚Cinema of Attractions‘ interpretiert werden. „Where do we go from here?“, „Wie geht es nun weiter?“, heißt es in einer kürzlich von ABBA-Mitglied Agnetha veröffentlichten Single. [30] Mögliche zukünftige Entwicklungen zeigen, dass die Potenziale von Künstlicher Intelligenz noch nicht ausgeschöpft sind. Zunehmend kann man etwa bereits gemeinsam mit Freund*innen von unterschiedlichen Orten aus an Konzerten von Bands per Virtual-Reality-Brille teilnehmen. Oder man performt in der virtuellen Welt sogar gemeinsam mit den musikalischen Idolen Lieder auf der Bühne. Doch es ist auch denkbar, dass Hologramm-Shows zukünftig herkömmliche Tourneen ersetzen könnten und so Arbeitsplätze in der Live-Musikbranche bedrohen. Auch wenn konkrete Prognosen schwierig bleiben, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass KI-Technologien weiterhin Transformationen in verschiedenen Bereichen mit sich bringen werden. Um es abschließend mit den Worten des ABBA-Mitglieds Björn Ulvaeus zu formulieren: „It has been and it is and it’s going to be a voyage“, „es war und ist und wird eine Reise sein“. [31]


Referenzen und Anmerkungen

[1] Vgl. Jürgen Winzer, ABBA. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten, Essen: Klartext 2022, S. 21.

[2] A. a. O., S. 16ff.

[3] Vgl. Mark Savage, „Abba Voyage: The band’s virtual concert needs to be seen to be believed“, BBC News, 27.05.2022, https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-61592104, 05.06.2025. 

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Vgl. Jo Plaete et al., „ABBA Voyage: High Volume Facial Likeness and Performance Pipeline”, Special Interest Group on Computer Graphics and Interactive Techniques Conference Talks, hg. v. Munkhtsetseg Nandigjav/Chris Redmann, New York: ACM 2022, S. 1-2, hier S. 1.

[7] Vgl. Mark Savage, „Abba Voyage: The band’s virtual concert needs to be seen to be believed“, BBC News, 27.05.2022, https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-61592104, 05.06.2025.

[8] Vgl. Silke Wünsch, „ABBA-Show feiert Premiere in London”, Deutsche Welle, 27.05.2022, https://www.dw.com/de/abba-voyage-premiere-london/a-61928889, 05.06.2025.

[9] Vgl. bendelo, „Die ABBAtare in London”, Informationsethik.net, 27.05.2025, https://www.informationsethik.net/die-abbatare-in-london/, 05.06.2025.

[10] Vgl. Jo Plaete et al., „ABBA Voyage: High Volume Facial Likeness and Performance Pipeline”, Special Interest Group on Computer Graphics and Interactive Techniques Conference Talks, hg. v. Munkhtsetseg Nandigjav/Chris Redmann, New York: ACM 2022, S. 1-2, hier S. 2. 

[11] Vgl. Leonie Mercedes, „How ABBA Voyage was made“, ingenia, 2024, https://www.ingenia.org.uk/articles/how-abba-voyage-was-made/, 09.06.2025. 

[12] Vgl. Miriam Meckel, „Sein oder Nichtsein: Die Virtualisierung der Unterhaltungsbranche“, Handelsblatt, 18.08.2022, https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/kolumne-kreative-zerstoerung-sein-oder-nichtsein-die-virtualisierung-der-unterhaltungsbranche/28601652.html, 05.06.2025.

[13] Vgl. dpa / Redaktion digitalfernsehen.de, „Abba Voyage: So läuft die digitale Konzert-Show ab”, digitalfernsehen.de, 22.05.2022, https://www.digitalfernsehen.de/news/technik/video/abba-voyage-so-laeuft-die-digitale-konzert-show-ab-605831/, 05.06.2025.

[14] Vgl. BBC News, „Abba delight fans with new 10-song album and virtual concert”, BBC, 02.09.2021, https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-58423452, 05.06.2025.

[15] Vgl. Jo Plaete et al., „ABBA Voyage: High Volume Facial Likeness and Performance Pipeline”, Special Interest Group on Computer Graphics and Interactive Techniques Conference Talks, hg. v. Munkhtsetseg Nandigjav/Chris Redmann, New York: ACM 2022, S. 1-2, hier S. 2.

[16] Norbert Schläbitz et al., Die Turing-Galaxis. Zur Ästhetik digitaler Musik und zum diskreten Charme der Neuen Medien, Osnabrück:  Electronic Publishing Osnabrück 2022, S. 131. 

[17] Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“,  Anthologie Kulturpolitik. Einführende Beiträge zu Geschichte, Funktionen und Diskursen der Kulturpolitikforschung, hg. v.  Martin Tröndle/Claudia Steigerwald, transcript Verlag 2019, S. 629–634, S. 632.

[18] A. a. O., S. 631.

[19] A. a. O., S. 631.

[20] Vgl. Mark Savage, „Abba Voyage: The band’s virtual concert needs to be seen to be believed“, BBC News, 27.05.2022, https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-61592104, 05.06.2025.

[21] Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“,  Anthologie Kulturpolitik. Einführende Beiträge zu Geschichte, Funktionen und Diskursen der Kulturpolitikforschung, hg. v.  Martin Tröndle/Claudia Steigerwald, transcript Verlag 2019, S. 629–634, S. 632.

[22] Vgl. Tom Gunning, „Attractions: How They Came into the World“,  The Cinema of Attractions Reloaded, hg. v. Wanda Strauven, Amsterdam: Amsterdam University Press (Film culture in transition) 2006, S. 31–40, S. 36.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Vgl. Tom Gunning, „The Cinema of Attraction[s]: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde“, The Cinema of Attractions Reloaded, hg. v. Wanda Strauven,  Amsterdam: Amsterdam University Press (Film culture in transition) 2006, S. 381–388, S. 383.

[26] A. a. O., S. 384.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 383.

[30] Vgl. DER SPIEGEL, „Abba-Sängerin: Agnetha Fältskog veröffentlicht neue Solosingle”, DER SPIEGEL, 31.08.2023, https://www.spiegel.de/kultur/musik/agnetha-faeltskog-abba-saengerin-veroeffentlicht-solosingle-where-do-we-go-from-here-a-fa00951f-4241-4cae-9b5d-b23fbcd445fa, 06.06.2025.

[31] Vgl. „Prominent! Spezial – Das ABBA-Comeback. Interview mit Björn Ulvaeus (VOX)“, R.: André Selbach, 11.11.2021, https://www.youtube.com/watch?v=Znm9WTVrzOQ, 06.06.2025.