Über das Aufbrechen von Mythen und Mustern: „Fotografinnen im Fokus“

Von Lea Dalfen und Julia Bauereiß

Die Geschichte der Fotografie ist aufgrund ihrer vielfältigen Zugänge und Funktionsweisen sowie ihrer schnellen technischen Weiterentwicklung, eine schwer zu charakterisierende Disziplin. Dennoch hat sich über die Zeit ein fotografischer Kanon ausgebildet, der „Fragen der Rezeption und des Publikums, der Subjektivität und der Sinnproduktion, der Ideologie und der Darstellung“ [1] kulturell manifestiert.

Paola Paredes, Melancholia of Virgins, 2017.

Dieser als allgemeingültig interpretierte Rahmen ist seit jeher fast ausschließlich auf Arbeiten männlicher Fotografen zurückzuführen und durch deren Ideologien und Wahrnehmungen geprägt. Frauen hatten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung für lange Zeit nicht die Möglichkeit, der Ausbildung eines fotografischen Kanons zuzuarbeiten, was sich bis in die Gegenwart bemerkbar macht, denn noch heute ist die Fotografie eine überwiegend männlich geprägte Domäne. [2] Täglich rezipieren wir unzählige analoge und digitale Fotos, die unsere Wahrnehmung maßgeblich mitbeeinflussen. Wir sind mit einer Vielzahl von Abbildern konfrontiert, die überwiegend eine männliche Perspektive auf Themen, Dinge und unsere Umwelt darstellen. Dieser Blickwinkel kann als kulturell normiert angesehen werden und lenkt unsere Meinungsbildung und Sinnproduktion in Bezug auf Themen und Objekte. Um daran zu erinnern, wie unterrepräsentiert die weibliche Perspektive in der Fotografie ist, hat die FOTO WIEN dieses Thema zu einem ihrer diesjährigen Schwerpunkte auserkoren. In einer der beiden Hauptausstellungen, Fotografinnen im Fokus, werden demnach gezielt Arbeiten von Frauen präsentiert. Zu sehen sind höchst unterschiedliche Werke, die gesellschaftliche und politische Themen aus einer dezidiert weiblichen Sichtweise darstellen und reflektieren. Jahrhundertelang tabuisierte Themen, wie die Menstruation, die Rolle von Frauen in Beziehungen, die Verhüllung der Frau und das Ausbrechen aus normierten Mustern, werden in den vielfältigen Arbeiten befragt. Positionen junger zeitgenössischer Fotografinnen treffen dabei auf Arbeiten bereits etablierter Künstlerinnen.

Permanente Demonstration – Annegret Soltau

Eine bedeutsame und wirkungsstarke Perspektive auf die Rolle der Frau in den 70er-Jahren liefert die Künstlerin Annegret Soltau mit ihrer performativen Arbeit Permanente Demonstration, die in der Hauptausstellung des Festivals zu sehen ist. Die Performance selbst stammt bereits aus dem Jahr 1975, hat seither aber keineswegs an Aktualität verloren. Die von der Künstlerin befragten Themen nach Befreiung und Selbstbestimmung sind auch nach fast einem halben Jahrhundert noch immer virulent und müssen verstärkt in den öffentlichen Diskurs geraten.

Zu Beginn ihres künstlerischen Schaffens zeichnete Soltau Portraits umgarnt von hauchdünnen Bleistiftlinien. Im Zuge von Performances griff sie aber schon bald zum realen schwarzen Garn und begann sich selbst und ihr nahestehende Personen damit zu umwickeln.

Annegret Soltau, „self“, 1975. Ausstellungsansicht

Die in der Ausstellung gezeigten Fotografien stammen aus einer Performance, für die die Künstlerin selbst als Modell fungierte. Zu sehen sind fünfzehn einzelne Schwarz-Weiß-Fotos, die schrittweise den Prozess des Einspinnens von Soltaus eigenem Kopf darstellen. Die Aufnahmen erinnern stark an die frühen Zeichnungen, die Soltau vor diesem Projekt anfertigte. Zwei von diesen hängen auf Augenhöhe links und rechts neben der Fotoserie der Performance. Zuerst wirken die wenigen Fäden in ihrem Gesicht noch sehr leicht, dünn und ungefährlich. Soltau selbst wirkt unbeeinträchtigt. Doch bereits wenige Umgarnungen später wird ersichtlich, wie schnell sich dieses Gefühl von Leichtigkeit ganz wortwörtlich zuschnürt. Das Garn schneidet sich zunehmend in das Gesicht der Künstlerin ein und schon bald ist es Soltau nicht mehr möglich zu blinzeln oder gar zu sprechen. Auch um ihren Hals und um ihre Schultern wickelt sie das Garn – es wirkt beängstigend, beinahe als würde sie daran ersticken. Bei den Betrachter*innen wird hier auf eindrucksvolle Weise ein geradezu physisches Gefühl von Bedrängung vermittelt. Ganz so, wie es Frauen erleben, wenn sie belästigt oder in vorgeformte Rollenbilder als Ehefrau, Hausfrau oder Mutter gezwungen werden. Auf den letzten drei Fotos kommt es schließlich zur Befreiung: Mit einer großen Schere beginnt die Künstlerin entlang ihres Gesichts, die Fäden aufzuschneiden. Eine radikale Handlung, die für das Ausbrechen aus den normierten Mustern und Strukturen steht, in denen Frauen in den 70er-Jahren gefangen waren – Aktualitätsbezug inklusive.

Soltau leistete mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag für die weibliche Perspektive im Kanon der Kunst- und Fotografiegeschichte und wurde zu einer bekannten Vertreterin der Feministischen Avantgarde der 70er Jahre. Auch weitere Arbeiten der Künstlerin – etwa in ihren Fotovernähungen, für die sie Porträts von Frauen zerreißt und anschließend mit Nadel und Faden wieder zusammennäht – sind längst anerkannte Pionierinnen-Leistungen, die maßgeblichen Einfluss auf die Kunstproduktion nahmen.

Zwischen Misogynie und Mythos

Gleich einen ganzen Ausstellungsraum der Fotografinnen im Fokus füllt Laia Abril, eine zeitgenössische katalanische Künstlerin, mit ihrer Arbeit Menstruation Myths. Die Wände des Ausstellungsraums werden auf Augenhöhe gesäumt von großformatigen Fotos in auffälligen Rot- und Türkistönen, darunter befinden sich Texte, deren Umfang überrascht. Gerade diese Texte – seien es Auflistungen von PMS Symptomen, persönlichen Erfahrungen oder Umfrageauswertungen – sind es jedoch, die den inhaltlichen Kern der Arbeit bilden und die Fotos erst in einen konkreten Zusammenhang setzen.

Laia Abril: „Menstruation Myths“ 2020. Ausstellungsansicht

So werden auf einer Wandhälfte in unterschiedlichen Sprachen kuriose Umschreibungen für die Menstruation gelistet: „Les anglais ont débarqué dans ma culotte“ (Die Britische Armee ist in meiner Unterwäsche gelandet) oder „Shark Week“ (eine Anspielung auf den Aberglauben, man dürfe während der Menstruation nicht schwimmen gehen, da die Blutung Haie anlocken könnte) und darüber ein Foto von einem Haifisch. Während es durchaus amüsant sein kann, all diese skurrilen Umschreibungen zu lesen, wird gleichzeitig deutlich, wie einfallsreich Menschen sein können, wenn es darum geht, nicht die schambesetzten Worte „Menstruation“, „Regel“ oder „Blutung“ auszusprechen. Ebendiese Tabuisierung, dieses Nicht-Aussprechen, wurde in einer Studie untersucht, der sich die Künstlerin ebenfalls widmet. In unterschiedlichen Ländern wurden Mädchen und junge Frauen über die letzten zehn Jahre hinweg zum Thema der Menstruation befragt – mit erschreckenden Ergebnissen. So wurde erhoben, ob und wie oft junge Frauen aufgrund ihrer Monatsblutung den Schulunterricht verpassen, ob sie in ihren Schulen Zugang zu Sanitäranlagen und sauberem Wasser haben, ob sie bereits vor der Menarche von der Menstruation wussten, oder ob sie gar denken, die Menstruation sei eine Krankheit. Dieser gravierende Mangel an Aufklärung steht in einer engen Wechselwirkung mit diversen Mythen, die diese Wissenslücken mit abstrusen Geschichten und Aberglauben füllen und so einer Stigmatisierung den Weg bereiten. Durch die geschickte und oft auch witzige Kombination von Bildern und Texten, gelingt es der Künstlerin, die zahlreichen Mythen rund um die Menstruation lächerlich zu machen und zu entlarven.

Menstruation Myths ist Teil Abrils umfassender Arbeit A History of Misogyny, in der sie sich mit Themen wie Abtreibung, Femizid und Vergewaltigung auseinandersetzt. Ein zentrales Kapitel dabei bildet On Mass Hysteria, worin die Fotografin die Belastung jahrhundertelanger Unterdrückung durch das Patriarchat auf die Psyche von FLINTA*-Personen visualisiert. In Form der Arbeiten der Fotografin Paola Paredes thematisiert die Ausstellung Fotografinnen im Fokus auch das patriarchal formulierte Krankheitsbild der Hysterie. In Melancholia of Virgins bezieht sich die ecuadorianische Künstlerin auf historische Aufnahmen des französischen Neurologen Jean-Martin Charcot, der im 19. Jahrhundert zahlreiche Frauen mit Hysterie diagnostiziert und ihre oftmals erst durch seine pseudomedizinischen Behandlungen hervorgerufenen Symptome fotografisch dokumentiert. Einzelne Bildausschnitte ersetzt Paredes durch kurze Video- oder Animationssequenzen. So setzt sie etwa eine Venusfliegenfalle an die Stelle des Uterus. Es entstehen Bilder, die – ähnlich wie bei den Arbeiten Abrils – ihr gesellschaftspolitisches Anliegen über den Weg der Komik und des Grotesken formulieren.

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