KITTY

Satoko Ichihara
MQ Halle G
Mittwoch, 27. Mai 2025

© Toshiaki Nakatani

Invertierte Verfremdung[1]
Tom Kauth

Das Problem von Entfremdung ist, dass der Ausgangspunkt dabei immer eine Form von Eigentlichkeit ist, die eben ent- oder im Theater ver-fremdet wird. Sexualität ‘verdirbt’ in diesem Narrativ beispielsweise durch Pornographie. In einem diskursiven Verständnis verkompliziert sich dieses Denken dahingehend, dass sich jede Idee von reiner Ursprünglichkeit als überzeitliche Essentialisierung herausstellt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass gegenwärtige Umstände gleich affirmiert werden. Im Theater hat die Verfremdung des epischen Theaters eine lange, explizit politisch subversiv motivierte Tradition, den stillschweigenden Bann des Absurden und Pervertierten überhaupt erst adressierbar zu machen. Was aber, wenn die Ent-/Verfremdung der narrative Ausgangspunkt ist?

Genau diese Form der invertierten Verfremdung kommt bei KITTY von Satoko Ichihara zum Tragen. Die Marke ‘Hello Kitty’ ist in der diegetischen Anrufung nicht mehr nur eine figurative Identität als Teil unserer Welt, sondern steht für einen ganzen Realitäts-Modus. Alles ist bereits Ware. Pornographie dient hier wortwörtlich der Veranschaulichung von Sexualität in einem schiefen, sexualisierten Machtgefälle von patriarchaler Männlichkeit, die anderen hegemonialen Männlichkeiten signalisieren muss, Sex zu haben. Kitty ist zwar nur Statist*in in Pornos, aber dabei maßgeblich in der Rolle dieser Form des An-erkennens. Die Marke Hello Kitty in einer kindlichen, ‘cuten’ Unschuld ist in dieser Rahmung eben genau das nicht mehr: unschuldig. Im Gegenteil ist gerade diese immer schon vollzogene Verschmelzung von Kindlichkeit, Cuteness, sexualisierter Körperlichkeit und Warenförmigkeit Teil einer ständigen Reproduktion der Verhältnisse. Eine pornographische Welt (im schirchsten Sinne) ohne Außen und vorher. Damit ist die zentrale Frage, die auch das Programmheft ziert, und die Aufführung motiviert, gestellt: Wie können wir dieser pornographischen Welt entkommen?

Der durchgespielte Weg führt auf einen Apfelstern, auf dem Kitty dem berühmten Hang zu Apfelkuchen nachgeht und den Fleischkonsum, der in der Argumentation des Stücks zu diesem Punkt mit pornographischem Körperkonsum verbunden wurde, abschafft. Auf diesem Stern, der mittels KI-generierter Bilder erzählt wird, wird dann eine Utopie erdacht und erzählt. Kollektives Zusammenleben ohne Kernfamilien, Sexualität ohne Reproduktions-Zwang, wobei selbst eine aktive Sexualität keinen Zwang darstellt. Der ausbleibende Fleischkonsum scheint die neue Gesellschaftsform allerdings wieder einzuholen, was dazu führt, dass die Bewohner*innen beginnen sich selbst anzuknabbern und die eigene Wesensstruktur in bester Sci-Fi Manier langfristig zu Zellen-ähnlichen, sich selbst-teilenden und damit reproduzierenden Organismen zu verändern. Der Weg führt schlussendlich – im alten Raumschiff – wieder zurück zur nur noch in Mythen existierenden Erde. Der narrative Kreis kehrt über den Weg einer utopischen Verfremdung wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Utopie als Verfremdung, oder: Invertierte Verfremdung.

Ichiharas Praxis zwischen Theater und Performance ist damit ganz sicher eine politisch-ästhetische Praxis. Die hier formulierte Idee einer invertierten (utopischen) Verfremdung ist allerdings nur ein skizzenhafter, affirmativer Versuch, mit der Überfülle und atem(be)raubenden Dichte des Abends umzugehen.


[1] Der grundlegende Impuls, Verfremdung als analytische Kategorie anhand zeitgenössischer Theaterpraxen im weitesten Sinne neu zu befragen, schließt an einen Vortrag von Felix Stenger an, dessen Publikation noch aussteht. Stenger argumentiert hier entlang dem Theater von Susanne Kennedy. Vgl. „Entfremdung als Kategorie für ein Theater des 21. Jahrhunderts.” Thewis 12/1 (2025, angenommen).


Wie viel kawaii ist zu viel kawaii?
Anja Döllinger 

Satoko Ichiharas Theaterstück KITTY ist eine provokante und visuell beeindruckende Auseinandersetzung mit Themen wie Pornografie, Sexarbeit, patriarchale Gesellschaften und Konsumismus. Inspiriert von der Comicfigur Hello Kitty, zieht Ichihara das Symbol der Niedlichkeit durch das ganze Stück. Anstatt es aber in seiner harmlosen Art darzustellen, verfremdet sie dies bewusst. Die Idee des Süßen und Niedlichen wird überspitzt, parodiert und ins Groteske übersteigert – bis sie fast schon unheimlich und absurd wirkt. Ichihara nutzt dieses verzerrte Bild der kawaii Ästhetik, um die dunklen Seiten einer durchsexualisierten und konsumorientierten Welt kritisch zu hinterfragen. 

Das Publikum betritt den Theaterraum und wird sofort von einem in kräftigem Rot/Pink gehaltenen, extravaganten Bühnenbild empfangen. Ein silberner Tisch mit einem massiven Fleischklotz, ein glänzendes Regalgestell und eine schmale, billboardartige Leinwand stechen ins Auge. Auf der Leinwand blinken Schriftzüge wie Kitty, süß und verschiedene Fleisch-Emojis. Dazu ertönt ein lieblich-kindliches Lied, das in seiner Unschuld beinahe verstörend wirkt. Dieses Lied wiederholt sich durch das ganze Stück hindurch und wird immer schräger. Im Hintergrund hängt ein Lamellenvorhang, der im rötlichen Licht an eine Fleischerei erinnert. Dies allein ist schon ein verrückter Einstieg, aber es kommt noch mehr.  

Die Inszenierung beginnt mit einer Familienszene, die in eine brutale Darstellung von Gewalt und Unterdrückung mündet. Der Vater ist mit einem gigantischen surrealen Katzenkopf dargestellt und reagiert auf vegetarisches Essen mit sexueller Gewalt gegen die Mutter. Diese Szene verbindet Fleischkonsum, patriarchale Gewalt und Objektifizierung von Frauen. Im weiteren Verlauf wird die Darstellerin unfreiwillig Teil einer Pornoszene. Eigentlich sind es drei Schauspielerinnen, die jeweils einen eigenen Erzählstrang verkörpern. Gesprochen wird Kantonesisch, Koreanisch und Japanisch – allerdings nicht live: Die Stimmen kommen aus einem Voice-over, während man die Darstellerinnen selbst nur stöhnen oder schreien hört. Die drei Frauen bezeichnen sich als „Skorpion-Frauen“. Witzigerweise bin ich selbst Skorpion – und habe mich in manchen Momenten fast persönlich angesprochen gefühlt. Die Struktur der drei Handlungen tritt für mich jedoch zunehmend in den Hintergrund. 

Was bleibt, ist das Visuelle: bunt, laut, überwältigend. Es passiert so viel gleichzeitig, dass man kaum weiß, wohin man überhaupt blicken soll. Ich fühle mich regelrecht reizüberflutet. Alles blinkt, leuchtet, glitzert – wie auf den Straßen einer asiatischen Großstadt. Nicht zufällig erinnert mich das Bühnenbild mit seinen Leuchtreklamen und Neonröhren an einen Nachtmarkt – ebenso grell, ebenso überfordernd wie das Stück selbst. Der Lamellenvorhang im Hintergrund wirkt durch die wechselnden Lichteffekte mittlerweile eher wie Teil eines Partysettings und reflektiert in holographischen Farben. Licht und Sound sind kaum in Worte zu fassen. Die visuelle Überladung hat mich völlig gefesselt und alles um mich herum vergessen lassen. 

Und immer, wenn man denkt, es könne nicht noch extremer werden, treibt Ichihara es noch weiter auf die Spitze: Riesige, plüschige Glitzerkostüme tauchen auf, die an überdimensionale Sexpuppen erinnern – komisch, grotesk, verstörend. Dann erscheint plötzlich der sogenannte „Fleischmensch“ und tanzt wild und unvorhersehbar über die Bühne. Auch sein Kostüm ist überdimensional und lässt mich zwischen Faszination und Unbehagen schwanken. Unweigerlich denke ich an Lady Gagas berühmtes Fleischkleid. Der Fleischmensch trägt eine viel zu kleine Holzmaske, die sein Gesicht umso unheimlicher wirken lässt. Sie erinnert mich an die nōmen-Masken des japanischen Nō-Theaters, deren Ausdruck sich je nach Lichteinfall und Blickwinkel verändert. Der „Fleischmensch“ erinnert mich auch an die Figur No Face aus dem Ghibli Film Spirited Away. Beide Figuren teilen diese unersättliche Gier: Sie verschlingen alles um sich herum und blähen sich dabei zu monströser Größe auf. Wie in Miyazakis Welt steht auch hier das maßlose Konsumieren sinnbildlich für eine tieferliegende innere Leere. Ironischerweise ist der „Fleischmensch“ vegetarisch – ein Detail, das die Absurdität seiner Existenz noch verstärkt. 

Und doch ist all das nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich auf der Bühne entfaltet. KI-generierte Clips werden gezeigt, das Apfelmotiv zieht sich vielschichtig durch die Szenen, und verschiedenste multimediale Mittel treffen auf eine schonungslose, körperbetonte Spielweise. In der Schlussszene treten die drei Darstellerinnen noch einmal in überzeichneter Niedlichkeit auf, diesmal sprechen sie in echt, und preisen Schlüsselanhänger an, die es exklusiv bei den Wiener Festwochen zu kaufen gibt. Warum wollte ich in diesem Moment selbst einen haben? 

Das Stück lässt mich innerlich schwanken: Ich fühle mich gleichzeitig unwohl, überfordert, aber auch fasziniert und seltsam angezogen. Dabei finde ich es besonders spannend, ein asiatisches Theaterstück in Wien zu erleben – eine Perspektive, die man hier viel zu selten sieht. Diese Absurdität, das Spiel mit Überzeichnung, Kitsch und Grenzüberschreitung ist in westlichen Theaterproduktionen in dieser Form weniger zu finden. Gerade das macht KITTY so erfrischend anders. 


Ich ging ins Theater und wurde Teil eines Pornos: KITTY von Satoko Ichihara 
Verena Lombardo

Ich ging ins Theater und wurde Teile eines Pornos. Diesen Satz liest man auf der Übertitelung des Theaterstücks KITTY von Satoko Ichihara. Und nicht nur diesen: Ich war in der U-Bahn und wurde Teil eines Pornos. In der Universität. Pornos überall. Wie entkommt man einem System, in das man nie aktiv eingetreten ist, das einfach überall ist?  

KITTY ist wie ein greller Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann (oder will?). In rotes Licht getaucht, mit miauenden Katzen im Hintergrund, entfaltet sich ein Szenario, das das Publikum spaltet. Manche sitzen regungslos da, andere lachen verlegen, nicht sicher, wie man auf das reagieren soll, was auf der Bühne zu sehen ist. Man hat das Gefühl, man sollte vielleicht wegschauen wollen, aber irgendwie kann man das nicht. Wie in Trance versetzt, kann man die Augen nicht abwenden. Das ganze Stück über ist das so. Es ist schwer zu beschreiben, was man da eigentlich sieht. 

Worin sich wohl alle im Publikum einig sind: Wirklich wohl fühlt man sich zu keinem Zeitpunkt. Genau das ist die Absicht. Ichihara bringt ihr Publikum meisterhaft an die Grenze des Erträglichen, und geht dann noch einen Schritt weiter. 

Die Protagonistin – ein Mädchen mit Katzenohren, gespielt von drei Frauen aus Südkorea, Japan und Hongkong – spricht nie selbst. Ihre Stimme kommt vom Tonband, wechselt zwischen den Sprachen. Die Übertitel sind nicht bloß Übersetzung, sondern stilistisches Element. Auch sie schaffen Distanz, oder ein Gefühl von Fremdbestimmtheit. 

Das Mädchen bewegt sich mechanisch, puppenhaft, mit willkürlichen Bewegungen durch Szenen, die zunehmend eskalieren: Der Vater vergewaltigt die Mutter auf dem Küchentisch, weil sie ihm Sojaprotein statt Fleisch serviert. Zur Wiedergutmachung wird ein „Fleisch-Mensch“ erschaffen – der ihn jedoch tötet. Die Mutter macht aus der Katastrophe ein Geschäftsmodell, verkauft Apfelkuchen, wird erfolgreich, isst am Ende selbst Fleisch – und stirbt. 

Das Mädchen arbeitet später als Sexarbeiterin und beklagt sich darüber, dass ihre Kolleginnen sich unter Wert verkaufen und damit den Markt ruinieren. 
Das zentrale Motiv das hierbei klar im Mittelpunkt des Ganzen steht: Konsum. Konsum von Fleisch, von Sex, von Menschen. Alles wird zur Ware, alles vermischt sich, bis nichts mehr unterscheidbar ist. Die Katze isst Papa. Mama isst das Fleisch. Das Fleisch tötet Mama.  
Kann man dem Fleisch-Menschen vorwerfen, dass er tötet? Er besteht schließlich selbst aus getöteten, zerhackten Fleischteilen. 

Das Stück ist ein Rausch aus Überzeichnung, Satire und Reizüberflutung. Alles ist bunt, grell, zu viel. Eine „kawaii“-Ästhetik überzieht das Ganze und verleiht ihm einen noch bittereren Beigeschmack. 
Und irgendwann wird es zu viel – der Protagonistin und dem Publikum. Auf einem Apfel-Planeten, geboren aus dem Fleisch-Menschen, entsteht eine Utopie (dargestellt durch KI-generierte Videos): kein Fleisch, gemeinschaftlicher Sex zum Wohle aller. Aber ohne Fleisch scheint es nicht zu gehen. Also essen sich alle – einvernehmlich – gegenseitig, nach und nach, in kleinen Stücken, bis ein großes, homogenes Ganzes entsteht. 

Doch dann: der Wunsch, zurück zur Erde. Da soll es mal Unterschiede gegeben haben. Und vor allem: Katzen. Niedliche Katzen, die mit ihrer Niedlichkeit vielleicht alles wieder gutmachen können. Die Katze – „Charmy“ – trägt hier die Geschichte. Sie wird zur Figur, zum Ankerpunkt in dieser überdrehten Welt. 

Man muss nicht lange suchen, um Botschaften zu entschlüsseln, das Stück präsentiert sie fast schmerzhaft offensichtlich.Ein Kommentar über das System, in dem wir leben: über Kapitalismus, Konsum, Frauenbilder. Über Machtlosigkeit, und den Kreislauf, von dem wir alle ein Teil sind, und an den wir uns längst gewöhnt haben. 

KITTY hält uns das vor Augen, was im Alltag seinen Schockfaktor verloren hat. Es zeigt auf groteske Art die zur Normalität gewordenen Widersprüche. Und vielleicht ist es deshalb so unangenehm: Weil es uns genau das auf eine Weise vor Augen führt, der man sich ebenfalls nicht entziehen kann. 

Am Ende kann man im Foyer der Halle G im Museumsquartier kleine Anhänger mit Motiven aus dem Stück kaufen. Ein Stück Konsum zum Mitnehmen, verpackt in etwas Niedliches. 
Vielleicht ertappt man sich sogar bei dem Gedanken, so ein Andenken kaufen zu wollen.  
Vielleicht fragt man sich: Was habe ich da gerade gesehen? 
Vielleicht bleibt nur ein Gefühl: KITTY wird so schnell nicht aus dem Kopf verschwinden. 


Und plötzliche ist man Satist*in in einem Porno
Merle Proll

Die japanische Theaterkünstlerin Satoko Ichihara serviert dem Publikum innerhalb der Wiener Festwochen Abenteuer a la Hello Kitty der etwas anderen Art. Wie der Name schon erwähnt geht es um ein Kätzchen, das allerdings nicht irgendein Kätzchen ist, sondern eine fiktive Figur der japanischen Firma Sanrio, die bereits eine überladene Niedlichkeit mit sich bringt, mit der als Fundament der kritischen Auseinandersetzung in Bezug auf gesellschaftlich getrimmte Normen von fraulicher Attraktivität gearbeitet wird. Indem diese Niedlichkeit in den Kontext von Gewalt gesetzt wird, entsteht eine zugespitzte Spannung der Groteske, die den Rahmen des Erwartbaren sprengt.

Bei Einlass spielt bereits eine Melodie, die sich im Laufe des Abends zu einem Folterinstrument zu entwickeln scheint. Hohes fröhliches Miauen im Takt steht im starken Kontrast zum visuell Gezeigten. Auf der Bühne blinkt es aggressiv, durchsichtige Lammellenvorhänge erinnern an ein Schlachthaus und der Saal ist in Rot getränkt. Einerseits wird dadurch der Eindruck eines Bordells erzeugt, andererseits lässt sich mit dem Hinweis Kittys – dass rotes Licht auf Fleisch es frischer wirken lässt – darauf schließen, dass auch die Zusehenden im Raum nur als fleischliche Produkte gehandelt werden.

Mit dem Auftritt Kittys wird deutlich, dass wir uns in einer Simulation befinden. Die Bewegungen souverän unnatürlich wie eine Puppe bzw. Marionette. Selbst die Typografie der Übersetzung fördert die Illusion eines Video-Spiel-Charakters. Mit einem Biss in einen Apfel, wird sogleich mit einem Hinweis auf absoluten Künstlichkeit, auf Fiktion eingeführt. Einerseits indem der Apfel davon schwebt und andererseits die Referenz zur biblischen Geschichte oder Märchen auf der Hand liegt. Die Performance versteht sich nicht als Abbildung einer Realität, sondern vielmehr als ein Angebot an Darstellung scheinbar offensichtlicher Zusammenhänge.

Der Esstisch als Symbol des familiären Zusammenkommens zeigt wie so oft auch hier schon zu Beginn die herrschenden Verhältnisse. Die Mutter kocht, der Vater frisst und das Kind schaut zu. Mit der stilisierte Darstellung kleiner weißer Katzen mit menschlichen Eigenschaften greift Ichihara darauf zurück, dass Katzen fleischfressende Wesen sind. Und obwohl die Mutter lieber Apfelkuchen backt, hat sie Blut im Slip und auf der Schürze. Weil sie dem Vater Fleischersatz vorsetzt wird sie kurzerhand auf dem Familienesstisch vergewaltigt und Kitty kommentiert: „Papa bringt Mama bei, was Fleisch bedeutet.“ Die kindlich-naiven Erzählungen Kittys, die die Szenen begleiten, lassen die Gewalttätigkeit noch brutaler wirken.

Das Stück lebt von in sich ablaufenden Wiederholungen mit selben Beginn, jedoch anderen Abläufen. Man hat das Gefühl, als schaue man sich eine neue Folge an oder beginne ein neues Level im „Spiel“. Nur eben, dass man der Hauptfigur nach ihrer ersten Blutung dabei folgt, weil sie damit ja offiziell eine Frau ist, wie sie erst Teil eines Pornodrehs und dann Sex-Arbeiterin wird. Gleichzeitig wird man selbst zu perversen Konsumierenden von pornografischen Inhalten. Am Freier Kittys, der zuvor noch ihr Vater war und dazu tot, ist ebenfalls zu erkennen, dass das Stück keinem realistischen Narrativ folgt.

Die eigene Gier und Gefräßigkeit hat den Vater getötet, denn auch das Fleisch will leben. Mit der ursprünglich dem Vater servierten weiblichen Verkörperung des Fleisches, stellt sich die Frage, ob dies als ein Gegenentwurf zu Kitty gedacht und als eine Emanzipation zu lesen ist, da sie alle belastenden Figuren um sich herum tötet.
Am Ende entwickelt sich aus dieser Dynamik eine scheinbar ideale Utopie des Vegetarismus und freien Sexualität abseits der Erde. Doch genauso schnell wie sich diese entwickelt hat, wird sie durch die Unersättlichkeit des Menschen wieder vernichtet. Wie alles in Wiederholungen begriffen ist, ändert sich auch daran nichts. Die Menschen beginnen, sich gegenseitig aufzufressen und zerstören sich damit eigenständig.

Die Performance arbeitet mit verstörenden Bildern im Mantel des Kitschigen und hat darin durchaus seine Stärken. Doch werden die hingeworfenen Happen immer mehr im Mund und es vergeht einem der Appetit. Ohne Höhen und Tiefen verläuft es dahin, scheint wie ein Fiebertraum, aus dem man verschwitzt aufwacht und nicht ganz recht zu deuten weiß. Inwiefern die überzogenen und generalisierenden kulturellen Stereotype für ein ausschließlich weißes Publikum konstruktiv ist, will ich mir aus eurozentristischer Sicht nicht anmaßen, zu beurteilen.


(Fleisch)konsum kann man nicht entkommen
Laura Lewandowski

Eine weiße Perücke, rosa Schleifen, ein zuckender Körper. So betritt sie die Bühne: das Skorpion-Mädchen. In Satoko Ichiharas Inszenierung Kitty wird aus dem Mädchen eine Projektionsfläche für große Themen: Sexarbeit, das Patriarchat, Konsumkultur und eine bittere Gesellschaftskritik.

Die japanische Regisseurin nutzt eine kraftvolle Mischung aus Tanz, Schauspiel und Musik, unterlegt mit Voice-overs in Japanisch, Koreanisch und Kantonesisch. Inspiriert wurde sie von der Comic Figur Hello Kitty, die die japanische „kawaii“-Kultur widerspiegelt. Der Begriff kawaii kann übersetzt werden als „niedlich“, was im Sinne von Ichihara im Laufe des Stückes als Waffe gegen das Patriarchat genutzt wird.

Im Zentrum steht das sogenannte „Skorpion-Mädchen“, eine Figur zwischen Kindlichkeit und Trauma, ausgestattet mit weißer Perücke und rosa Schleifen, wie Hello Kitty. Ihre Bewegungen wirken fremd und verzerrt, so wie ihre Lebensrealität. Der Vater, Fleischesser, herrscht über die Familie, während die Mutter, Vegetarierin, unter seiner Gewalt leidet. Als sie ihm Tofu statt Fleisch serviert, folgt eine Vergewaltigungsszene untermalt von einem „Miau-Song“ erschreckend verharmlosend. Die Verbindung von brutaler Gewalt und verniedlichter Musik zieht sich als Kontrast durch das ganze Stück, das eine ambivalente Atmosphäre erzeugt. Der Zuschauende wird in kindliche Harmlosigkeit getaucht, während sich auf der Bühne Gewalt, Sexarbeit und patriarchale Strukturen abspielen. Das Leben von Kitty ist eine Abwärtsspirale: Rezeptionistin, Pornostatistin, schließlich Sexarbeiterin. Der Zusammenhang von Fleischkonsum und Sexarbeit ist vorerst nicht ganz schlüssig. Die Regisseurin hat auf einer Reise durch Seoul bemerkt, wie Fleisch in rote Farbe getaucht ist, um dieses bei Fleischgeschäften schmackhafter zu machen. Dasselbe Setting fand sie auch bei Sexarbeiterinnen. Das Stück spielt sehr deutlich mit der Farbe Rot und ist durchgehend in diese eingetaucht. Ein Vergleich, der radikal deutlich macht: Frauen sind wie Fleisch, eine Ware. 

In einem utopischen Szenario lebt das Mädchen schließlich auf einem Planeten, auf dem Fleisch verboten ist. Regeln werden aufgestellt, doch der Drang nach Konsum bleibt. Am Ende verfallen alle Figuren dem Kannibalismus. Der Drang zu konsumieren, ob Fleisch oder Körper, ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und unaufhaltbar. 

Zum Schluss des Stückes werben die drei Performerinnen, die abwechselnd das Skorpion-Mädchen verkörpert haben, selbstgemachte Anhänger an, nur für 30 Euro zu haben. Verfällt man dem Konsum oder kann man diesmal standhalten? 

Kitty ist ein Stück, das Sexualisierung, Pornoindustrie, Fleischkonsum und die Inszenierung von Weiblichkeit darstellt. Die Zuschauer*innen bleiben dabei nicht unbeteiligt. Durch die starke Konfrontation mit den Themen, verlassen sogar einige frühzeitig den Raum. Das Stück ist unbequem. Es ist laut, bunt und anstrengend. Satoko Ichihara gelingt es jedoch, die Mechanismen patriarchaler Macht nicht nur zu benennen, sondern spürbar zu machen. Mit Mitteln, die bewusst überfordern, sich konventionellen Dramaturgien verweigern und das Theater als politischen Raum neu definieren. 


Alles ist Ware
Fiona Bienhaus

„Wir alle sind Statist*innen in einem Porno.“ Dieser Satz hallt nach, lange nachdem das Stück zu Ende ist. In KITTY entwirft die japanische Regisseurin Satoko Ichihara eine groteske, rot beleuchtete Welt, in der Niedlichkeit zur Waffe wird. Fleischkonsum, Sexualität sowie patriarchale Strukturen werden aufgezeigt – diese sind untrennbar miteinander verwoben. Inspiriert von der globalen Ikone Hello Kitty, bezieht Ichihara die scheinbar harmlose „Kawaii“-Ästhetik auf tief verwurzelte gesellschaftliche Zwänge. 

Miau-Musik, ein rot beleuchtetes Bühnenbild und blinkende Lichter begrüßen das Publikum. In den darauffolgenden 105 Minuten verwandeln vier Schauspielerinnen, wovon drei die Protagonistin verkörpern, die Bühne in einen Ort der Gesellschaftskritik. Durch die thematische Dreiteilung des Stückes wird das Publikum linear durch die Welt des ‚süßen‘ Mädchens, dessen Sternzeichen Skorpion ist, geleitet. Auffallend ist, sie ist an diesem Abend die einzige ohne bizarres Kostüm. Lediglich ihr kindliches Äußeres, durch Latzhosen und rosa Schleifen in den blondweißen Haaren visualisiert, deuten auf Hello Kitty hin. Ebenso Ihre Hauskatze Charmy, welche ebenfalls eines der Bindeglieder des Abends ist, referiert auf den Exportschlager aus Japan. Mithilfe eines Voiceovers in drei Sprachen, das sich über die bizarren und mechanischen Bewegungen der Protagonistin Kitty legt, wird die Narration vorangetrieben. Die deutschen und englischen Untertitel übergehen, wenn auch nicht gerade inhaltlich identisch, die Sprachbarriere.

In visuell überzogenen Szenen wird hinterfragt: Warum nennen wir tote Tiere „Fleisch“? Warum scheint der Fleischkonsum alternativlos? Warum durchdringt Pornografie alle Lebensbereiche? Kitty stolpert in einen ‚harmlosen‘ Nebenjob und findet sich als Statistin in einem Porno wieder. Die Überzeichnung ist Methode in Ichiharas Stück. Die Kostüme reichen von einem aus fleischfetzen bestehenden Fleischmenschen bis zu sexpuppenhaften Wesen mit überdimensionalen Genitalien. Zwischen Komik und Scham wird das Publikum in Grenzbereiche der Wahrnehmung getrieben. Diese Übertreibung, insbesondere der Kostüme, zwingt manche Zuschauer*innen schon am frühen Abend den Raum zu verlassen. Doch man muss genauer hinsehen, denn die Überforderung wird zur ästhetischen Waffe. Was wie Trash aussieht, ist leider Realität. 

Die Narration läuft schlussendlich auf einen galaktischen Alptraum hin. Der vegetarische Fleischmensch, eine Lösung für das ethische Dilemma, wächst zu einem Apfel-Planeten heran. Doch auch diese Utopie scheitert. Ein KI-generiertes Video führt die Zuschauer*innen durch den Verfall. Kannibalismus, neue Lebensformen, die Rückkehr zur Erde und was übrigbleibt: Kitty. Metaphorisch angedeutet, die in jedem Winkel dieser Welt existiert und alles mit ihren pechschwarzen Augen beobachtet. Hello Kitty wird zur Allmacht, ihre Niedlichkeit zur Macht des Kapitalismus. 

KITTY ist kein Stück, das Antworten liefert. Es ist ein Angriff auf gesellschaftliche Tabus, auf unser Verhältnis zu Konsum, Sexualität und Körpern. Satoko Ichihara nutzt Kawaii-Ästhetik und Überzeichnung, um präzise Gesellschaftskritik zu üben. Hier wird alles zur Ware gemacht:
Fleisch, Körper und Identität.


Sprachloses, multilinguales Katzenmädchen
Moe Inoue 

„わたし am Skorpion 的 여자야.“[1] 
Mit einer auffallenden, merkwürdigen sprachlichen Formulierung stellt sich ‚die Katze‘, die Hauptfigur des von Satoko Ichihara inszenierten Theaterstücks KITTY, vor. Sie spricht jedoch nie, sondern es wird nur ganz kurz und leise geschrien. Es werden deutsch- sowie englischsprachige Untertiteln projiziert und in Japanisch, Koreanisch sowie Kantonesisch durch von KI erzeugte, gefühllose Stimmen synchronisiert – falls man die komplett miteinander verflochtene Sprache überhaupt richtig unterscheiden kann. ‚Die Katze‘ verfügt vor allem in Aufführungen innerhalb der Wiener Festwochen über fünf verschiedene Sprachen, sogar sechs, wenn man die Katzensprache mit einrechnet, um bloß zu schweigen, besser gesagt um schweigen zu müssen. Kitty – eine mundlose, fiktive Figur in Katzengestalt‚Die Katze‘ – die eben mundlose Hauptfigur in Menschengestalt, die von den drei internationalen Schauspielerinnen aus Japan, Südkorea und Hongkong abwechselnd verkörpert wird.

„Das Skorpion-Mädchen ist energisch, aber offenbart es nicht.“ – so heißen alle Katzenmädchen. Ist es doch ein Fluch, der auf alle Frauen in ostasiatischen Ländern unterdrückerisch wirkt, ganz gleich, welches Sternzeichen sie haben. Es ist ein Spruch, der besagt, dass Mädchen schwach, schüchtern, niedlich, kindisch usw. sein sollen, damit sie vor allem von Männern als „kawaii-cute“ wahrgenommen werden. Unter giftig roten Lichtern und einem seltsamen, aber irgendwie gewöhnlichen Soundtrack wird in der Inszenierung auf absichtlich übertriebene Art eine vielsichtige Problematik in ostasiatischen Kontexten visualisiert, die beispielsweise auf den Patriarchalismus, den Kapitalismus, den Massenkonsum, die Schönheitsnormen, die Pornoindustrie und das Fleischessen verweist. Letzteres ist nicht zuletzt mit der Fleischeslust konnotiert. Das heißt, weibliches Menschenfleisch kann ausschließlich von jemandem gegessen werden, der biologisch imstande ist, Frauen sexuell zu vergewaltigen. Schon vor Beginn steht auf dem elektronischen Schild am metallenen Tisch: „Aktion: 2.929 Yen“ – also rund € 18,-.
Die Zahl 29 kann auf Japanisch eventuell „niku“ gelesen werden, was genau die Aussprache des Wortes „Fleisch“ ist. Eine Frau, die im Sexgewerbe arbeitet, sagt: „Ich muss mindestens € 150,- pro Kunde verdienen.“ Hausfrauen werden allerdings nie bezahlt, nicht einmal mit einem blauen Euroschein. Sie sind immer dem unbezahlten Konsum ausgesetzt.

In einer spontan eingefügten Szene eines YouTube-Clips – projiziert auf ein weißes Tuch – wird ein Mann gezeigt, der sich als sexueller Verehrer seiner Haustiere inszeniert, die er zuvor für knapp einen Euro pro Stück erworben hatte. Tatsächlich jedoch wollte er die Tiere nur für seine Marketingzwecke ausnutzen. Hinter dem Sex von Hamstern verbirgt sich ein Mann, der zugleich eine schweigende Frau ausbeutet und seine sinnlichen Begierden mit geringem Geldaufwand stillt – wer davon am meisten profitiert, bleibt im Verborgenen.

Auf der radikal distopisch inszenierte Bühne, wo sich Anregungen zum gewaltigen Konsum überall befinden, erscheint allein das Kawaii sein noch normal, sogar ist das nicht mehr nur süß, auch gruselig, merkwürdig, ja (un)menschlich, wie sich ‚die Katze‘ wie ein Roboter bewegt. 
KITTY bombardiert also erfolgreich die in der Gesellschaft stabilisierte herkömmliche kollektive Vorstellung von „Kawaii“, „Gwiyeowo“ oder „kě’ài“ und versucht dabei, es neu zu verorten.

[1] わたし (watashi, jp) bedeutet Ich, 的 (de, zh) den Genetiv und 여자야 (yeoja-ya, ko) das Mädchen sowie familiäre Endung.