„Tell me we’re all in this together – And if we’re not then tell me lies.“Discord und Steam als Kompensationsimmersion von sozialen Räumen in Zeiten von COVID-19

Ein Essay von Katharina Weisgram

Wenn das ›Stammbeisl‹ und sogar die Treffpunkte am See nicht mehr geöffnet sind, um seine Freund*innen treffen zu können und das Ende dieser Abschottung voneinander nicht abzusehen ist, muss man anfangen über Alternativen nachzudenken, um nicht in der Einsamkeit der eigenen vier Wände verrückt zu werden. Einfache Gesten wie ein Anlächeln, eine Umarmung, das Händeschütteln oder das auf die Schulter Klopfen benötigen plötzlich einen anderen Raum.

Discord ist eine Plattform, die den User*innen eine Mischung aus Sprach-, Schreib-, und Videochat bietet und die mit der Spieleplattform Steam verbunden werden kann. So kann man sich während des gemeinsamen Spielens auf Steam über Discord mit den Mitspieler*innen austauschen und unterhalten. Es entsteht ein soziales Spiel [1] sowie ein gleichzeitiges audiovisuelles Gespräch in einem neuen virtuellen Raum. [2]

Auch wenn es kein Ersatz für ein face to face-Gespräch mit Freund*innen in einer physischen Bar mit dazugehörigen Geräuschen, dem Anfassen von Gegenständen, den Gerüchen und Geschmäckern ist, schaffen es diese virtuellen Welten doch, eine Art verfremdeten Ersatz zu bieten – verfremdet unter anderem dadurch, dass sie Räume zur Verfügung stellen, die es per se in der ›realen‹ Welt nicht geben kann.

Abb. 01

Die Plattformen verdoppeln mich dabei als Subjekt, indem ich zwar physisch in meinem Zimmer sitze, den Monitor anschaue und mit den Fingern auf Tastatur, Maus oder Controller herumdrücke, andererseits existiere ich doppelt, entweder als Name im Chatverlauf oder als Stimme innerhalb eines audiovisuellen Miteinanders. Meine Stimme verbindet sich während des Spiels mit meinem Avatar, meinem Datenkörper, innerhalb des heterogenen immersiven Layouts einer Plattform oder eines Spiels. Mein Handeln vor dem Computer hat Auswirkungen auf den transmedialen Raum. Es wird medialisiert, transformiert und so ein Teil einer gemeinsamen Performance, die von mir einerseits produziert wird, andererseits erst durch das immersive Spiel seine Existenz erlangt. [3] Das Spiel ist von meinen Freund*innen und mir und unserer Immersion in diese Welt abhängig und von dem Raum, der uns von den virtuellen Plattformen angeboten wird- ein durchgehendes Spiel der Kräfte. [4]

Keine*r meine*r Freund*innen besucht gerne ein Theater. Doch nun haben wir unbewusst eine ähnliche Erfahrung. Denn anstatt bloßes Publikum zu sein, verdoppelt sich unsere Rolle als Teilnehmer*innen innerhalb von Spielen ein zweites Mal: Wir sind Akteur*in und Zuseher*in zugleich, indem wir uns durch die interaktive Theatralität [5] des Spiels in eine Welt affizieren lassen, die erst durch den digitalen Raum entstehen kann. [6] Gleichzeitig beeinflussen wir diese Welt durch unsere physischen Bewegungen und unsere Stimme.

Dazu muss ich nicht einmal selbst am Spiel teilnehmen: Interaktiv ist auch, wer nur zusieht. Anders als bei Filmen oder Büchern können wir durch unsere Kommentare, Tipps oder Blödeleien einen direkten Einfluss auf den digitalen Raum nehmen. Viele Spiele bieten die Möglichkeit, nach dem Tod des eigenen Charakters den Überlebenden weiter zusehen zu können. Wir sind dabei zwar nicht mehr als körperlicher Avatar anwesend, können aber durch unsere Stimmen die Spielenden vor Gefahren warnen, oder auf versteckte Hinweise aufmerksam machen. Viele Streamer*innen binden ihre Zuseher*innen während des Spiels aktiv in die Entscheidungsfindung ein, indem das Publikum über das Aussehen des Avatars bestimmen darf oder die Streamer*innen auf Andeutungen oder Tipps ihrer Community eingehen. Das Publikum erlangt in der virtuellen Welt neue Möglichkeiten für die Teilnahme an einer Performance, indem die Kommunikationsstrukturen zwischen Akteur*in und Zuseher*in durch den Sprach- und/oder Schreibchat direkter und ›ungenierter‹ eine neue verspielte und virtuelle Rahmung erhalten, die zur Mitsprache und zum Mittun einladen. »Die digitale Ebene wird zur Bühne, auf der der › Text‹ des Computerspiels performed wird.« [7]

Werner Wolf hat in seinem Text »Aesthetic Illusion« angesprochen, dass die immersive Welt, sei sie auch fiktional, eine gewisse prozessuale Konsistenz mit verständlichen, für uns nachvollziehbaren Regeln beinhalten muss, um uns leichter darin eintauchen zu lassen. [8] Die Welt ist uns jedoch nicht fremd, sondern eine digitalisierte und verfremdete Kopie und Illusion der uns bekannten. Wenn wir einen neuen (virtuellen) Raum betreten, versuchen wir Dinge, die wir nicht verstehen, mit uns bekannten Situationen und Gegenständen zu vergleichen, um sie für uns begreifbar zu machen. Das Layout und die Mechanik der virtuellen Welt helfen uns dabei.

Die Beziehungen und Vorgeschichten, die meine Freund*innen und ich vor dem gemeinsamen Online-Gespräch oder Spiel miteinander hatten, bleiben dieselben. Die Stimmfarbe wird zwar von Headset und Lautsprechern verfremdet, aber wir erkennen trotzdem, wer von uns Spieler*innen gerade spricht. Die Spiele folgen gewissen Regeln, die wir aus unserer physischen Welt kennen, indem wir beispielsweise fallen, wenn wir von einer Klippe springen, oder durch Waffen Schaden erleiden können. Erst durch die Sicht- und Hörbarkeit von Bekanntem und Vertrautem finden wir unsere digitalisierten Freund*innen in einer verfremdeten aber erkennbaren Welt wieder, werden so getäuscht und können uns präsent in diese Welt und in das gemeinsame Spiel involvieren. Diese hilft uns, bekannte soziale Gegebenheiten durch eine Immersion zu kompensieren.

Bei dieser Täuschung durch erkennbare, unserer Welt ähnliche Grundprinzipien spielt auch die Biomechanik der physischen Hardware während der Computerspiele eine wichtige Rolle.

Abb. 02

Ich muss vor dem Computerbildschirm keinen tatsächlichen Schritt nach links machen, um es meinem Avatar zu befehlen. Mein digitales Double setzt den Schritt, wenn ich ihm die Anweisung durch eine kleine Bewegung meines linken Ringfingers gebe. Dabei macht die Verbindung zwischen Haptik und Visualität für mich als Spieler*in Sinn und schafft mir eine immersive Geste, die sich nach einer gewissen Zeit unreflektiert innerhalb des interaktiven ambivalenten Miteinanders zwischen Avatar und physischen Mensch abspielt – ich befinde mich im Flow.  

Alles ändert sich, wenn das Wort Vermittlung ein wenig mehr Substanz gewinnt und die Aktion der Mittler bezeichnet. Dann wird der Sinn nicht mehr bloß vom Medium transportiert, sondern teilweise konstituiert, verschoben, neu geschaffen, modifiziert, kurz: übersetzt und verraten. [9]

Die Reflexion über die zugrundeliegende Mechanik setzt erst dann ein, wenn diese Regel nicht eingehalten wird und das Spiel anders auf Bewegungen reagiert, als ich es erwartet hätte. Plötzlich schwebe ich in der Luft, wenn ich einen Schritt zu weit gegangen bin und eigentlich von der Klippe fallen sollte oder die Steuerung ist komplett anders, als ich es von anderen Spielen gewohnt bin. Ich werde aus der Immersion gerissen und muss entweder meine Bewegungen an die Steuerung adaptieren, oder in die Spieloptionen klicken, die mir wiederum unverhüllt die Ontologie der Welt offenlegt: das immersive Erlebnis ist und bleibt eine virtuelle Welt aus digitalen Datensätzen, die von mir als User*in nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar sind.

Die Akteur-Netzwerk-Verbindung, [10] die wir eingehen, ist für mich kein Ersatz für ein tatsächliches Treffen mit Familie und Freund*innen. Doch wir nehmen Plattformen vor allem in Zeiten des Lockdown durch COVID-19 gerne in Kauf, um die Illusion einer gemeinsam verbrachten Zeit trotz unterschiedlicher physischer Räume innerhalb eines gemeinsamen sozialen Spiels zu erschaffen. Die Funktionen des Sprachchats sowie das Layout und die Mechanik der Spiele versuchen uns darüber hinwegzutäuschen, dass es virtuell verfremdete Avatare und Profilbilder sind, mit denen wir uns digital und körperlich auseinandersetzen. Wenn ich für kurze Zeit vergesse, dass es nicht die tatsächlichen Körper meiner Freund*innen sind mit denen ich interagiere, werde ich von der verfremdeten Illusion des Spiels getäuscht und kann dadurch in sie eintauchen.

Das digitale Spiel als Hybrid Reality Theatre [11] verschafft meinen Freund*innen und mir eine Aufführungssituation, in der wir gemeinsam durch eine Gruppenperformance agieren können und Teil einer prozesshaften Erfahrung werden, die wir jedoch alle voneinander entfernt und subjektiv für uns allein erleben. Die gemeinsame Einsamkeit während sozialer virtueller Treffen soll und will von den User*innen nicht als paradox empfunden werden, sondern als eine neue immersive Realität. Die Abkapselung in die eigenen vier Wände und der Verlust von realen Berührungen und Gesprächen wird kompensiert, indem die Plattformen versuchen, durch Mechaniken, Designs oder soziale Regeln die uns bekannte reale Welt zu kopieren.

Steam, Discord, Zoom, Skype und unser soziales Leben sind in Zeiten von COVID-19 stärker aneinander gebunden (worden). Wir gehen als User*innen dabei ein commitment mit den Plattformen und den Spielen ein, indem wir uns täuschen lassen und dadurch die Möglichkeit einer gemeinsam verbrachten Zeit haben. Andererseits können soziale digitale Welten nur dann existieren, wenn wir als User*innen bereit sind, diesen Vertrag zu akzeptieren. Wir nehmen dabei dieses Abhängigkeitsverhältnis in Kauf, um uns die Illusion des Beisammenseins nicht nehmen zu lassen.

Direktnachweise

[1] Ackermann, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, S. 64.

[2] In dem Spiel Jackbox Party Pack 2: Bomb Corp. ist es beispielsweise möglich, gemeinsam mit den anderen Mitspieler*innen Bomben zu entschärfen. Das schafft man jedoch nur, wenn sich die Teilnehmer*innen untereinander austauschen. Jede*r erhält dabei auf seinem Smartphone, Tablet oder PC unterschiedliche Schnipsel einer Anleitung, die erst durch den gemeinsamen Austausch untereinander eine logische Anleitung für die Bombenentschärfung ergeben. Dabei können die Mitspieler*innen abwechselnd virtuelle Drähte durchschneiden und Akten sortieren, jedoch muss es für einen reibungslosen Spielablauf Gespräche zwischen den Mitspieler*innen geben, die für den tatsächlichen Ausgang des Spiels entscheidend sind. 

[3] Ackermann, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, S. 67.

[4] Mühlhoff, »Immersive Macht«, S. 421ff.

[5] Ackermann, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, S. 68.

[6] »Die Integration der Computertechnik erlaubt somit theatrale Performances, in denen die Funktionen von Akteur und Zuschauer in ein und derselben Person vereint sind und der Körper zur Bühne wird. Daraus entsteht für Martina Leeker eine interaktive Theatralität, die als Mittler zwischen digitaler und physikalischer Welt fungiert. Auf diese Weise kann die Aufsplittung in physischen Körper und Datenkörper, wie sie im Computerspiel die Regel ist, auch in das Theater Einzug halten« (Ackermann, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, S. 68f.)

[7] Ebd., S.73.

[8] Wolf, »Aesthetic Illusion«, S. 45.

[9] Pauliks, »Press Start to Play«, 18.05.2020.

[10] Vgl. dazu bspw. Mathar, »Akteur-Netzwerk Theorie«, S. 186f.

[11] »Das Konzept des Hybrid Reality Theatre wurde 2014 von mir eingeführt, um zum einen auf die generellen Schnittmengen zwischen digitalem Spiel und Theater hinzuweisen und zum anderen die parallele Bespielung von digitalem und physischem Raum zu betonen.« (Ackermann, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, S. 69.)

Quellenverzeichnis

Ackermann, Judith, »Digital Games and Hybrid Reality Theatre«, New Game Plus: Perspektiven der Game Studies, hg. v. Benjamin Beil et al., Bielefeld: transcript 2014, S.63-88.

Mathar, Tom, »Akteur-Netzwerk Theorie«, Science and Technology Studies, hg. v. Jörg Niewöhner et al., Bielefeld: transcript 2014, S. 173-189.

Mühlhoff, Rainer, »Das Subjekt der Immersion«, in: Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault, hrsg. v. dems. Frankfurt am Main: Campus 2018, S. 419-442.

Pauliks, Kevi, »Press Start to Play: Die Steuerung von Computerspielen als eine technische Vermittlung«, Pixeldiskurs, 16.02.2016, http://pixeldiskurs.de/2016/02/16/press-start-to-play-die-steuerung-von-computerspielen-als-eine-technische-vermittlung/, 18.05.2020.

Wolf, Werner, »Aesthetic Illusion«, in: Ders.: Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media. New York: Rodopi 2013, S. 1-63.

Weiterführendes Material

Fall Guys: Ultimate Knockout, Design: Joseph Walsh, Devolver Digital 2020.

Project Winter, Designer: Other Ocean Interactive et al., Other Ocean Group 2019.