Merrill Nisker’s Theater der Grausamkeit. Immersion durch Körperlichkeit und Performance

Ein Essay von David Howald

»Von einer Gebärde zu einem Schrei oder einem Ton gibt es keinerlei Übergang: alles korrespondiert wie durch bizarre Kanäle, die man durch den Geist selber gegraben hätte.« 

Antonin Artaud

Am 20. und 21. Juni 2017 feierte die Kunstakademie Wien ihr 325-jähriges Bestehen. Im Zuge des ersten Abends gab es im Akademie-Innenhof einen Reigen an performativen und musikalischen Darbietungen. Eine davon war das Konzert der Underground-Ikone Merrill Beth Nisker, besser bekannt als Peaches. Im Kunstkontext war dies für mich das vielleicht einnehmendste Erlebnis der letzten Jahre. Dabei war die primäre Quelle der Immersion die Performerin selbst, hinzu kam aber eine geradezu bedingungslose, spontane Partizipation seitens des Publikums und die Auflösung der Trennlinie zwischen Kunstraum und Zuschauer*innen. Nisker ist damit in mehrfacher Hinsicht die Umsetzung dessen gelungen, was dem Performance-Pionier Antonin Artaud in den 1930er-Jahren als das Theater der Grausamkeit vorschwebte – ein immersives Theater mit Anspruch auf letzte Wirklichkeit.

Gegen 23 Uhr ist der Innenhof bis an den Rand der kleinen Festivalbühne voll. Die stattlichen Stockwerke des alten Gebäudes ranken sich rundherum über den Köpfen der Zuschauer*innen: dann entert Peaches in einem fülligen, pinken Zottelkostüm, das sie wie eine Art exotischer Vogel ausschauen lässt, die Bühne.

Auf ihrem Kopf thront die Nachbildung eines weiblichen Geschlechtsteils in Filz. Hinter ihr liegen ein Effekt-Rack, ein paar Pedale, vielleicht noch ein Sequenzer. Zudem huscht manchmal eine Art Lakaiin über die Bühne, um der Sängerin zu assistieren. Man durchschaut dieses Setup nicht ganz – auf jeden Fall kommt der gesamte Sound des Konzertes, bis auf die Stimme, aus der Konserve. Dieser Minimalismus erlaubt es von Anfang an, den Fokus auf die Essenz zu lenken: die sowohl trashige als auch nahezu rituelle Performance der Sängerin.

Merrill Nisker gehört dabei einer Künstler*innen-Gattung an, welche zu Artauds Zeiten noch nicht geboren war und welche im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Erscheinungen wie The Living Theatre, Patti Smith oder Marina Abramovic Gestalt angenommen hat. Sie repräsentiert eine hybride Theaterform, welche bewusst mit der Sprengung des Kunstraumes arbeitet. Dabei spielt die Rückkehr zum Körper und somit die den Körper affizierenden Schwingungen (Rhythmus, Musik) eine große Rolle. Artaud nannte dieses Entpsychologisierte, diese Ur- und Rohform von Poesie, ›die Grausamkeit‹. Das Imaginäre steht bei ihm dabei auf einer geradezu stofflichen Ebene mit dem Körper:

»Das Theater wird erst dann wieder es selbst werden, das heißt ein echtes Illusionsmittel darstellen können, wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Chimären, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen sondern inneren Ebene Luft machen.« [1]

Peaches generiert bei ihrem Auftritt eine synästhetische, alle Sinne ansprechende Erfahrung, bei welcher illusionäre Elemente zur Anwendung kommen: die surreale Verkleidung, die spartanische Bühne in Kombination mit der breit klingenden, virtuellen Musik und dem harten, bunten Licht – alles ist stilisiert, absurd und theatral und zielt gerade deswegen gekonnt unter die Bewusstseinsschwelle. Zudem bildet diese Anordnung einen geeigneten Rahmen, in welchem das archaisch Körperliche ausbrechen kann. Peaches spielt Songs wie Fuck the Pain Away, The Boys Wanna Be Her, oder Dick in the Air, entledigt sich während der ersten Nummern ihres Vogel-Kostüms wie bei einem energischen Balztanz, um schließlich bis auf eine fleischfarbene Unterhose nackt weiter zu tanzen. Immer wieder öffnet sie Champagnerflaschen, hängt sich zehn Sekunden lang auf ex an die Flasche und speit dann in weitem Bogen Fontänen ins Publikum. Der Innenhof ist in einen Hexenkessel verwandelt. Trotz Derbheit wirkt das Ganze nicht abgeschmackt oder zynisch – im Gegenteil, die Musik erklingt kristallklar, hart und erhaben. Die Bässe wummern einem im Brustkorb.

Zusätzlich zum Gesang scheint die Künstlerin in einer konsequenten Zeichensprache zu sprechen. Jeder Fingerzeig, jede Pose macht Sinn und trifft. Dies erinnert an Artauds Schilderung des balinesischen Theaters, in welcher er die Körper der Schauspieler*innen unter ähnlicher Zielrichtung beschreibt. Stringente Körperbeherrschung und Ritual führen dabei zu absoluter Durchlässigkeit und einer Auflösung des Körpers zugunsten des Zeichens:

»Diese Schauspieler mit ihren geometrischen Gewändern scheinen lebendige Hieroglyphen zu sein. […] Diesen geistigen Zeichen wohnt ein präziser Sinn inne, der uns nur noch intuitiv, doch so heftig beeindruckt, dass sich jede Übersetzung in eine diskursive, logische Sprache als unnütz erweist«. [2]

An einer Stelle des Konzertes legt sich Nisker ein dickes Seil in Schlingen um den Hals und dreht diese, wie wild geworden, an Ort und Stelle stehend, indem sie ihren Kopf nach vorne gebeugt kreisen lässt. Ihre Brüste schwingen mit. Dazu pumpt ein repetitiver Industrial-Beat. Es ist ein nicht endender Moment. Eine Bildwerdung, Poetisierung und Verlängerung von Wahrnehmung im Sinne vonSklovskij’s Ostranenie,[3] welche das automatisierte Wiedererkennen durch das unbescholtene Sehen zu ersetzen vermag. Es ist die physische Darstellung eines Sogs, einer Transformation und gleichzeitig einer Selbststrangulation. Die Wirkung ist Katharsis. Die Leute aus der ersten Reihe hält nichts mehr, sie klettern an den Securities vorbei auf die Bühne. Ein Mädchen wirft sich, selbst bis aufs T-Shirt entblößt, der Sängerin vor die Füße. Peaches stellt sich in machoider Pose über sie und lässt Champagner auf sie niederregnen. Die Sicherheitsleute kommen und reißen die Flitzer*innen gewaltsam von der Bühne. Fäuste und Bierbecher fliegen durch die Luft. Die Sängerin schafft es, mit ein paar Worten die Menge runterzuholen. Danach geht die Vorstellung weiter.

Diese physische Übertretung, die Vermengung von Kunst- und Zuschauer*innenraum, von Artefakt und Rezipient*innen ist bei einem Konzert potenziell immer möglich. Dieses entscheidende In-den-Dialog-Treten seitens des Publikums erschafft eine reale Situation, welche eine sensorische und emotionale Distanznahme praktisch verunmöglicht.

Konzert- und Theaterdarbietungen sind von räumlichen/materiellen Einschränkungen geprägt. Diese Einschränkungen sind es, welche die Imagination auf den Plan bringen. Artaud hatte sich, unter anderem aus solchen Gründen, am Ende vom Kino und dessen losgelöster Illusion abgewandt.

Während das französische enfant terrible Artaud vorwiegend als Agent des Metaphysischen verstanden wird, lässt sich in die symbolischen Gebärden von Peaches viel Konkretes und Politisches hineinlesen. Sie zeigt eine aggressive Form von Sexualität, bei welcher sie jegliche Genderkonformität abschüttelt. Das kann und wurde auch oft als feministisch und als Angriff auf das Patriarchat verstanden. Aber laut Nisker ist diese Art von Aussage in ihrem Wirken eher erwünschtes Nebenprodukt. In einem Arte-TRACKS-Interview von 2000 erklärte die Künstlerin, es gäbe zwei Phasen im Leben: diejenige vor und diejenige nach der ersten sexuellen Erfahrung. Die kindlich-spontane Phase davor sei die Zeit der größten Kreativität. Danach sei alles anders und um wieder in den kreativen »Urzustand« zurück zu gelangen, sei [paradoxerweise] Sex das Mittel und der Katalysator, über welchen dies zu erreichen sei. [4] Obwohl mir diese Aussage damals zu denken gab und mir im Gedächtnis hängen blieb, verstand ich sie erst vollständig, als ich Peaches live sah. Wir haben es bei ihr weniger mit einer Überidentifikation und subversiven Veranschaulichung zu tun, als mehr mit einer dionysischen Beseitigung aller Intellektualität und der Umkehr zu einem radikal- ungeteilten Erleben. Es geht Nisker darum, absolute Gegenwart zu erzeugen. Es gab während ihrem Auftritt keine anderen Kanäle, keine Alternativen mehr. Die Performerin beherrschte den Raum total. Mir wurde bewusst, dass das, was im Zusammenhang mit der Wahl-Berlinerin seit Ende der 1990er-Jahre als Electroclash gehyped wurde und in der Vergangenheit mein Desinteresse an dem Act gefördert hatte, nur ein Gewand war, das an sich nicht die geringste Rolle spielte. Vielmehr gemahnte Peaches an etwas geradezu Uraltes – mit der Beschwörung von Trance durch Rhythmus, mit ihren Posen und deren zwingender Unmittelbarkeit. Sie stiftete Chaos, aber mit einer elaborierten und geronnenen Rezeptur, welche in ihrer methodischen und konsequenten Erschaffung von Präsenz an die Lehren der russischen Theaterreformer Grotowski und Stanislawski erinnerte. In ihrem suggestiven und schillernden Gesamt jedoch erfüllte sie vor allem die Charakteristika des Theaters der Grausamkeit (welches zumindest für Grotowskis Weg auch von großer Bedeutung war).

Diese postdramatische Theatervision Artauds strebt die totale Immersion durch Körperlichkeit und sinnliche Vollständigkeit in der Darstellung an. Er stellt sich eine Performance vor, welche zwar sehr physisch auf die Teilnehmenden einwirkt, im Gegensatz zum modernen Immersions-Kino, [5] (welches sich auf diese physische Wirkung reduziert), im Individuum aber zusätzlich eine geistige/imaginäre Ebene evoziert: »Diese aktive Projektion kann nur auf der Bühne geschehen, und ihre Konsequenzen können nur vor und auf der Bühne gefunden werden.« [6] Nisker’s Darbietung war von allen Performances, die ich bisher gesehen habe, das, was am Nächsten an diese Vision herankommt.

Der wechselseitige Energiefluss zwischen Publikum und Künstlerin während dem Konzert war bemerkenswert. Jegliche Distanz schien aufgehoben. Dadurch, dass die Sängerin absolute Präsenz ausstrahlte, tauchte sie auch mich in die absolute Präsenz bzw. Immersion. Gleichzeitig stand ich aber selbstvergessen und unreflektiert mitten im Publikum. Die Tatsache, dass Selbstvergessenheit und absolute Präsenz im Zuge von Immersion zusammenfallen, bildet in sich bereits eine eigene, ontologisch geprägte Debatte. Diese und andere intellektuelle Erwägungen und Reflexionen in Bezug auf die Show kamen im Nachhinein auf, nicht aber im Moment des Geschehens selbst.

Direktnachweise

[1] Artaud, Das Theater und sein Double , S. 120.

[2] Ebd., S. 70.

[3] Sklovskij »Kunst als Verfahren«, S. 15.

[4] Arte TRACKS20, »Peaches und Tracks – eine große Liebe«

[5] Vgl. Recuber, »Immersion Cinema«.

[6] Artaud Das Theater und sein Double , S. 78.

Quellenverzeichnis

Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double. München 1996: Matthes & Seitz.

Šklovskij, Viktor, »Die Kunst als Verfahren«. In: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 5. Aufl. München 1994: Fink, S. 3–35.

Recuber, Tim, »Immersion Cinema. The Rationalization and Reenchantment of Cinematic Space«, in: Space and Culture, Vol. 10, Nr. 3, 2007, S. 315–330.

Arte TRACKS20. Peaches und TRACKS – eine große Liebe, 07.09.2017, https://www.youtube.com/watch? v=UtbpvHrM6uw, 25.08.2020.