2048 Dystopische Szenarien der immersiven Steigerungslogik

Ein interaktiver, audio-visueller Essay von Dominik Fürer

Euripides Die Bakchen (Euripides, Βάκχαι, 406 v.Chr.) ist ein erschreckend grausames Stück. In der Beschreibung des Literaturwissenschaftlers Gyburg Radke klingt diese Grausamkeit wortgewaltig durch:

Euripides zeichnet […] ein Bild der Zerstörung, buchstäblich: des Fragmentarischen, der Irrationalität der Welt, der Sinnlosigkeit menschlichen Daseins, der schuldlosen Verstrickung in Schuld, einer außer Kontrolle geratenen, sich selbst zeugenden und fortschreitenden Dynamik der Destruktion, der Auflösung und Neuknüpfung von rational nicht durchaubaren Vernetzung und komplexen Zusammenhängen. [1] 

Im Einzug von Agaue in die Stadt Theben, mit dem Kopf ihres Sohnes Pentheus unter den Arm, den sie im dionysischen Rausch als Löwen wähnte und getötet hat, kumuliert sich die »ausser Kontrolle geraten[e] […] Dynamik der Destruktion.« [2] Zu Recht weist Radke darauf hin, dass man sich »in die Moderne, vielleicht sogar in die Postmoderne versetzt fühlen« [3] könne, obwohl der Text doch aus der Antike stamme.
Vielleicht ist es diese zeitliche wie motivische Nähe, die das Stück als auch ein heute noch oft gespieltes auszeichnet.  

Ulrich Rasches Inszenierung der Bakchen am Burgtheater Wien 2019 gab der Grausamkeit eine Form, die Radkes Beschreibung noch zutreffender werden lässt. Auf riesigen Förderbändern ist ein Chor im ständigen Lauf gegen das Publikum begriffen und schreit ihm den Dramentext rhythmisch und abgehackt, begleitet vom monotonen Schlag einer Trommel, über die gesamte Dauer des Stücks ins Gesicht. [4]

Abb. 01 Ensemble Die Bakchen Foto: Andreas Pohlmann

Ich habe diese Erfahrung ins Zentrum meines audiovisuellen Essay zum Thema Immersion vs. Reflexion gestellt. Über den Dramentext, die Inszenierung Rasches und die Kunstform Theater an sich lassen sich viele Bezüge zu diesem Themenkomplex herstellen. Mein Essay ist möglicherweise ungewöhnlich: Er ist interaktiv. Wer das Essay beginnt, wird eingesogen in die metallene und bedingungslose Welt der Backchen, in der jede Entscheidung, die auch die Nutzer*innen treffen müssen, erbarmungslos immer in tiefere Ebenen führt.

Gerne möchte ich auch durch die Interaktivität des Essays zeigen, dass das Stück neben seiner moralischen Ambivalenz, bei der nicht klar bestimmt werden kann, wie die Fronten zwischen Recht und Unrecht verlaufen, in seiner Thematisierung des Rausches ein Moment der Selbstreferentialität beinhaltet. Dionysos als Verführer und die Mänaden als Anhängerinnen tragen nicht nur den Kampf Vernunft gegen Rausch aus, sondern sie verkörpern das Theater, die theatrale Situation mit Zuschauenden und Agierenden. Die Selbstreferentialität in der Inszenierung lässt sich als (Re-)präsentation der ›Wirkungsweise Theater‹ erkennen.
>Der Rückgriff auf die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte und ihr Buch »Ästhetik des Performativen« scheint hier sinnvoll, denn ihr Modell der autopoietischen Feedbackschleife erlaubt es nicht nur, über die Aufführung zu sprechen, sondern ist im Versuch, das Moment der Selbstreflexion in der Inszenierung zu verorten, hilfreich. Fischer-Lichte beschreibt die mediale Bedingung von Aufführung als »leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern,« [5] also der gleichzeitigen Anwesenheit von wie auch immer gearteten Schauspielenden und Zusehenden in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit. Dabei stehen sie in einer gewissen Art der Kommunikation miteinander, die jedoch nicht einseitig ›von der Bühne ins Publikum‹ gerichtet, sondern wechselseitig ist. [6] Diese Feedbackschleife – und der spielerische Umgang mit ihr – stand ab den 1960er-Jahren mit der performativen Wende im Mittelpunkt vieler Theater- und Performance-Werke. [7] Für Fischer-Lichte zeichnen sich drei thematische Schwerpunkte in dieser Art der Aufführung aus: der Rollenwechsel zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen, die Bildung von Gemeinschaft und die wechselseitige Berührung. [8] 

Insbesondere Fischer-Lichtes Überlegung zur Gemeinschaftsbildung im Theater sind für das Moment der Selbstreflexion in Rasches Inszenierung und im Drama von Euripides interessant, die sich auch im Essay wiederfindet. Im Theater, so Fischer-Lichte, lässt sich die ansonsten alltägliche, politische und soziale Ausdifferenzierung des Individuums in der Gemeinschaft oder die umgekehrte Bewegung der Bildung von Gemeinschaften durch Individuen im Kleinen beobachten. [9]

Einen besonderen Berührungspunkt von Stück und Inszenierung bildet vor allem der Chor als gestalterisches Mittel; er zeigt sich als stark ambivalent in der Darstellung von Individuum und Gemeinschaft und ist ein Ort, an dem sich das Moment der Selbstreflexion verorten lässt. Der Chor ist in der Inszenierung ebenjene unermüdlich auf Fließbändern vorwärts marschierende Masse aus Engeln.

Die Nachtkritik titelte für die Kritik an Rasches Inszenierung: »Faschos schreien dich an«. [10] Auch andere Pressestimmen und der Regisseur selbst sahen in der Brutalität des Chores und der gesamten Inszenierung einen Kommentar zum Erstarken rechter politischer Gruppierungen in Europa. [11] In ihrem kleinen zeitlichen Abriss zur Gemeinschaftsbildung im Theater und wie damit umgegangen wurde schreibt Fischer-Lichte;

Der Nationalsozialismus diskreditierte […] die Konzepte einer das Individuum vollständig inkorporierenden Gemeinschaft, die dessen Individualität mißachtet und letztlich auszulöschen versucht […]. Das Theater wurde wieder zum Kunstraum […], der jegliche Befleckung mit dem Politischen, ja selbst mit dem Sozialen ausschloß. [12]

Der Chor steht dabei als Sinnbild für den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft. Auch in der Nachtkritik wird auf diesen Punkt eingegangen. So schreibt Gabi Hift »das gebetsmühlenartige Sprechen [hat] einen Sog ausgeübt, […] in den Zuschauer*innen den Wunsch geweckt, Teil des Rituals zu werden.« [14]

Im Rausch zeigt sich auch die Kehrseite des Absturzes, im Aufgehen in der Gemeinschaft auch der Verlust kritischen, individuellen Denkens – so ließen sich die gesuchten Momente der Selbstreflexion in aller Kürze fassen. 

Versucht man, dieses Stück und seine beispielhafte Inszenierung auf diese Weise zu lesen, wird vielleicht verständlich, weshalb Interaktivität für meinen eigenen Essay als grundlegendes gestalterisches Element dienen sollte. Dadurch tritt das Element der Selbstreflexion zu Tage. Die User*innen klicken sich ins Jahr 2048 und geraten in eine Welt, in der die Technologisierung ein solches Maß angenommen hat, dass alte Kunstformen wie beispielsweise das Theater abgeschafft, und nur noch über Die neue Technologie – ein fiktives Medium, ähnlich wie das im Film Strange Days (R.: Kathryn Bigelow, USA 1995) beschriebene Medium SQUID – kommuniziert wird. Über ein altes Terminal wird mit der Geschichte der Bakchen das ambivalente Verhältnis von Immersion und Reflexion mit den jeweiligen Antagonisten, ein fiktiver Mega-Konzern und eine Untergrund-Rebellengruppe verhandelt . Die User*innen werden dabei durch einen Schein-Dialog mit dem Terminal geschleust, um dann immer wieder von den Gegenspielern unterbrochen zu werden. Über Eingabemasken wird von ihnen gefordert, mit – in der Welt des Spieles sinnvollen – Pass- oder Codewörtern in den zuvor noch blockierten Bereich vorzudringen.

Direktnachweise

[1]Gyburg Radke, Tragik und Metatragik, S. VII.

[2]Ebd., S. VII.

[3]Ebd., S. VII.

[4]Die Backchen, R.: Ulrich Rasche, Burgtheater 2019.

[5]Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 58.

[6]Ebd., S. 59.

[7]Ebd., S. 61.

[8]Ebd., S. 62.

[9]Ebd., S. 77.

[10]Gabi Hift, Faschos schreien dich an.

[11]Ebd.

[12]Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 85.

[14]Gabi Hift Faschos schreien dich an

Quellenverzeichnis

Die Backchen, R.: Ulrich Rasche, Burgtheater 2019.

Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

Gabi Hift, „Faschos schreien dich an“, nachtkritik, 12.09.2019, https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17130:die-bakchen-burgtheater-wien-ulrich-rasche-eroeffnet-die-intendanz-von-martin-kusej-mit-einem-maschinentheater-monumental-euripides&catid=80&Itemid=100190, 23.08.2020.

Gyburg Radke, Tragik und Metatragik. Euripides‘ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft, Berlin/Boston: De Gruyter 2003.

Weiterführendes Material

Link zum Essay