Drive Your Plow Over the Bones of the Dead

Regie: Simon McBurney, Theater Akzent, 25. Mai 2023

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead
© Marc Brenner
Fräulein Janinas Spur im Schnee: Eine eklektische ökologische Reise (Wolfram-Thaddäus Reich)  

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Olga Tokarczuk, präsentiert sich als ein fesselndes und vielschichtiges Theatererlebnis. Unter der Regie des britischen Theatermachers Simon McBurney entfaltet sich eine scheinbar simple Krimi-Handlung (mysteriöse Todesfälle erschüttern eine ländliche Gemeinschaft), die in weiterer Folge eine Reihe bedeutender Themen behandelt und das Publikum gleichermaßen herausfordert und begeistert.

Eine der beeindruckendsten Leistungen liegt in der Darstellung der Hauptfigur Janina Duszejko, durch deren Erzählungen sich die Handlung entfaltet. Die chronisch kranke, vielseitig begabte Frau lebt zurückgezogen in einer abgelegenen Sommerhaussiedlung und wird zu einer faszinierenden Vermittlerin zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Publikum und Inszenierung, während sie ihre eigene psychische Verfassung zunehmend in Frage stellt. Gesundheitsprobleme haben auch die vorgesehene Hauptdarstellerin Kathryn Hunter ereilt, die an diesem Abend von Ensemblemitglied Amanda Hadingue vertreten wird, die der Rolle allerdings fraglos gewachsen ist. Sie verkörpert Janinas Komplexität und Leidenschaft mit außergewöhnlicher Tiefe und Nuancierung. Ihre Hingabe zum Tierschutz und ihre rebellische Natur werden lebendig dargestellt, wodurch das Publikum eine starke emotionale Bindung zu ihr aufbaut. Hadingue dominiert mit Witz und Ernsthaftigkeit, sodass die anderen Ensemblemitglieder, wie von ihr gewollt, in den Hintergrund rücken. Sie stellen nicht nur Rehe, Schulkinder oder Partygäste dar, sondern erwecken auch die Vielzahl von Charakteren zum Leben, wodurch die Dynamik und Spannung des Stücks verstärkt wird.

Hierin liegt die Stärke der Inszenierung: Scheinbar übergangslos wechselt der Ort der Handlung vom Wald in die Kirche, vom Gefängnis in den Nachthimmel und bis in Janinas Gedankenwelt, die erfüllt ist von der Poesie William Blakes, Astrologie und der Liebe zur Natur. Die Bühnenbilder setzen sich aus immersiven Theaterelementen zusammen, wie Videoprojektionen, Soundlandschaften und Lichtinstallationen, die eine Atmosphäre schaffen, in der diese Gedankenwelt, Erinnerungen sowie Naturschauplätze gleichzeitig präsent sind. Die Verwendung von Zitaten aus den Gedichten William Blakes verleiht dem Stück eine zusätzliche poetische Dimension. So erzeugt die Verflechtung aus Theater, Poesie und visuellen Elementen eine eindringliche Gesamtwirkung.

In einem manchmal traumartigen Gedankenfluss werden Themen verknüpft, die seit der Erscheinung der Romanvorlage 2009 an Wichtigkeit gewonnen haben, darunter Umweltaktivismus, Tierrechte und die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Das Stück wirft Fragen über unsere Verantwortung gegenüber der natürlichen Welt auf und untersucht die moralischen Grenzen des menschlichen Handelns. Dabei gelingt es dem Stück, einen subtilen Balanceakt zwischen tiefsinnigen Reflexionen und unterhaltsamen bis humorvollen Momenten zu finden.

In einer fesselnden Inszenierung von Drive Your Plow Over the Bones of the Dead gelingt es der Theatergruppe Complicité, das Publikum mit einer atemberaubenden visuellen und emotionalen Erfahrung zu konfrontieren. Die Inszenierung stellt konventionelle Denkmuster in Frage, eröffnet neue Perspektiven und wirft, während die Hauptfigur ihre rätselhafte Reise durch eine Welt voller mysteriöser Morde und tierischer Verbundenheit beendet, mit dem Schlusssatz „I still have plenty of time“ eine zugleich zynische und nachdenkliche Frage auf.


Zwischen Ökozid und kosmischer Vorbestimmtheit
(Klara Howorka)

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.” Ein typischer Beginn für ein Stück – insbesondere für eines, das sich zum Ziel setzt, keinen Theatertext, sondern einen Roman nachzuerzählen. In Simon McBurneys Drive Your Plow Over the Bones of the Dead (basierend auf dem Roman Gesang der Fledermäuse der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk), ist jedoch kaum vorherzusagen, in welche Richtung die Reise gehen wird. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Janina Duszejko, die am Abend des 25. Mai aufgrund einer Erkrankung der Originalbesetzung von Amanda Hadingue gespielt wird. Duszejko ist eine 65-jährige Englischlehrerin, die in einer ländlichen Gegend in Polen nahe der tschechischen Grenze lebt. Es folgt eine Art Kriminalnarrativ, das der Tötung mehrerer Tiere und Menschen auf den Grund gehen will; dabei wird zwischen Tiermasken und Barhockern die Frage nach speziesübergreifender Gerechtigkeit und kosmischer Vorbestimmtheit verhandelt. 

Die in Dunkelheit getauchte Bühne (gestalten von Rae Smith) zeigt nur das Allernötigste, was eine materielle Bühnenausstattung anbelangt. Allerdings statten die Darsteller*innen des von McBurney gegründeten Theaterensembles Complicité die Bühne teils als Statisterie im Hintergrund, teils als Verkörperung der Tiere sowie teils als wichtige Figuren begleitend aus. Durch die Verwendung von dramatischen Lichtblitz-Effekten, Projektionen und Rauchmaschinen erinnert die Inszenierung an einen mysteriösen Krimi-Film, der sich jedoch nicht nur oberflächlich mit der Aufdeckung der sich häufenden Morde auseinandersetzt, sondern auch tiefgehend einen in Vergessenheit geratenen Ökozid reflektiert. Dabei wirken die Licht- und Soundeffekte auf eine sympathische sowie unterhaltende Art und Weise wunderbar kitschig: sie helfen dabei, das Bizarre und Lustige einer grundsätzlich blutigen und grausamen Erzählung zu extrahieren. 

Nacheinander werden die Bekanntschaften Janinas – Dizzy, Oddball und Good News – wie eigene Hauptcharaktere vorgestellt, die im Laufe des Stückes eine starke Bindung zu ihr (und dem Publikum) aufbauen. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Schüler Dionizy/Dizzy übersetzt Janina William Blakes Werke ins Polnische und verbindet dabei Blakesche Weisheiten mit ihrer zerstörten Gegenwart: „A dog starved at his master’s gate / Predicts the ruin of the state.“ Es gibt mehr Leichen unter der Erde eines Waldes als er Bäume hat, und das spürt Janina, aber niemand scheint zu verstehen, was sie meint. Je normaler und brutaler die Realität von Fuchsfellfabriken und überschrittenen Jagdgesetzen wird, desto schlimmer werden Janinas Leiden. Immer wieder gibt es zu Tränen rührende Momente, in denen die Weltanschauung Janinas erklärt wird, in welcher alle großen Dinge in den Kleinsten enthalten sind – eine Perspektive, die einer rationalistisch-kapitalistischen Gesellschaft entgegengesetzt ist. Die wiederkehrenden emotionalen Tiefpunkte des Stückes scheinen in einen Appell an ein Mehr von Empathie zu münden – für die Tiere, aber auch für die Menschen – auch wenn die Welt von Jupiter und dessen Empathie-verleihenden Kräften verlassen zu sein scheint.

Ein dramatisches und zugleich lustiges Stück, das aufgrund seiner überraschenden (und ironischen) Wendung am Ende gleich mehrmals besucht werden kann. Wer außerdem ein wenig Polnisch spricht, wird sich vielleicht über die kulturellen Verweise freuen (wobei die Aussprache der im Stück sporadisch vorkommenden polnischen Wörter teilweise grenzwertig ist) und mit einem Ohrwurm von „Hej Sokołe“ (polnisches Volkslied) nach der Vorstellung heimgehen.


Sternzeichen Mensch
(Franziska Undis)

Zwischen Menschen und Tieren gibt es keine Grenzen, kein Besser und kein Schlechter. So sagte es schon Donna Haraway vor rund 40 Jahren in ihrem Manifesto for Cyborgs, und so wiederholt es auch die Protagonistin Janina Duszejko in Olga Tokarczuks Roman, der von Simon McBurney und der von ihm gegründeten Theatergruppe Complicité auf den Wiener Festwochen auf die Bühne gebracht wird, wenn sie sich fragt: „Who divided the world into useful and useless?“ 

Fast wie bei einem Poetry Slam führt uns die Hauptfigur mit einem auf der Bühne zentrierten Mikrofon durch die Handlung. Dass die angedachte Hauptdarstellerin dabei krankheitsbedingt neu besetzt werden musste, fällt bei der grandiosen Schauspielleistung von Amanda Hadingue kein bisschen auf. Dabei war dies bei der Menge an Text und der dauerhaften Bühnenpräsenz der Hauptfigur sicherlich keine einfache Aufgabe. Die Zuwendung zum Publikum zwischen den Szenen und innerhalb von Gesprächen mit anderen Charakteren erinnert an das Stück (sowie die Serie) Fleabag von Phoebe Waller-Bridge, die ebenso mit dem Durchbrechen der vierten Wand spielt, um den Zuschauenden in gewisser Weise den Spiegel vorzuhalten. Damit wandelt sich das Stück Drive Your Plow over the Bones of the Dead in gewisser Weise zu einem höchst immersiven Theater, indem wir uns scheinbar mit Janina in einer Art Dialog befinden. Dieser Dialog wirkt dabei mehr wie eine Art einseitige Anschuldigung, eine Anklage, die man still absitzt. Immer wieder werden in Momenten der Schuldzuweisung Blitzlichter in Richtung Publikum aufgeblendet, wie ein Blitz einer Kamera, die ein Foto von uns erstellt. Damit wird das Publikum mit den Schuldigen gleichgestellt, die auf dem Foto, das Janina in den Sachen des verstorbenen Bigfoots auffindet, abgelichtet sind. Eine deutliche und vor allem eindringliche Botschaft an die Zuschauenden: Ihr seid Mittäter! 

Das Stück stellt uns die Figur Janina als eine ältere Frau vor, die für nebensächliche Dinge wie den Haushalt keine Zeit übrighat, sondern sich lieber mit übermächtigeren Fragen hinsichtlich des Universums und dessen Gerechtigkeit auseinandersetzt. Janina hat dabei mehr für Tiere als für andere Menschen übrig und setzt sich für diese gegenüber menschlicher Gewalt ein. Das Patriarchat sowie die katholische Kirche empfindet sie als ignorant und gewalttätig gegenüber anderen Lebewesen. Sie glaubt an eine höhere Macht, an Horoskope und an die vom Universum und den Planeten festgelegten Schicksale. Janina sieht sich den Tieren verpflichtet, sodass sie sich zunächst vor allem verbal für diese einsetzt und ihnen somit eine Stimme gibt. Letztendlich reicht die Sprache aber nicht aus, denn für Poesie und „Geschwafel“ haben die Behörden und egoistischenJäger kein Verständnis. Also wendet Janina die gleiche Brutalität an Menschen an, die die gejagten Tiere erleben müssen. Vor Beschreibungen schreckt sie dabei nicht zurück, denn Worte sind ihre Stärke, und wenn sie diese Figuren im Stück nicht von ihrer Schuld überzeugen können, so können sie sehr wohl dem Publikum ein schlechtes Gewissen einreden. 

Nahtlos gehen die Szene sowie das Bühnenbild innerhalb der knapp drei Stunden langen Inszenierungineinander über, wodurch ein fast filmischer Effekt erzeugt wird. Schauspieler*innen wechseln die Rollen zwischen Menschen, Tier oder Objekt, das Teil des Bühnenbilds wird. Eine klare Anspielung auf die flüchtigen Grenzen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Subjekt und Objekt. Mit trockenem und schwarzem Humor, ganz nach englischer Manier, hinterfragt Simon McBurney in seiner Adaption von Drive Your Plow Over the Bones of the Dead durch die Protagonistin Janina ganz grundlegende Aspekte unserer Konsumgesellschaft: Gibt es einen Unterschied bei der Brutalität an Menschen und an Tieren? Was ist Schuld und wer trägt sie? Wo fängt Gerechtigkeit an und wo hört sie auf? 

Was mit der Hauptfigur Janina am Ende passiert, steht wohl in den Sternen. Feststeht aber, dass dieser Theaterabend sicherlich keine*n Zuschauer*in unberührt zurücklässt und uns die Inszenierung an die Notwendigkeit des Handelns gegenüber dem Ökozid erinnern soll. Spätestens wenn man das nächste Mal nach dem eigenen Sternzeichen gefragt wird und die Antwort darauf mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Tier ist, rufen wir uns vielleicht wieder in Erinnerung, was uns die Hauptfigur Janina so dringlich sagen will: Die Tiere und die Natur sind ein Teil von uns, dem wir endlich mit Respekt gegenübertreten müssen. Denn das Sternzeichen – auch Tierkreiszeichen genannt – Mensch gibt es nicht.


Fear the Forest
(Till Kanis) 

Im Theater Akzent liegt eine gewisse Erleichterung in der Luft. Musste die Wiener Festwochen-Vorstellung von Drive Your Plow Over The Bones Of The Dead gestern noch wegen einer Erkrankung der Hauptdarstellerin Kathryn Hunter ausfallen, hat man über Nacht umdisponiert und Amanda Hadingue die Rolle der Janina Duszejko übergeben. Simon McBurney inszeniert mit seinem prestigeträchtigen Londoner Ensemble Complicité den Stoff des gleichnamigen Romans von Olga Tokarczuk und schafft es, die wendungs-sowie figurenreiche Handlung bildgewaltig und spannungsgeladen auf die Bühne zu hieven. 

In einer kleinen, polnischen Siedlung auf dem Land lebt Janina Duszejko. Eine alleinstehende Frau mit vielerlei Passionen, die sich neben ihrem Teilzeitjob als Englischlehrerin leidenschaftlich mit Astrologie und den Gedichten von William Blake auseinandersetzt. Doch die Idylle des ruhigen Landlebens wird erschüttert, als im tiefsten Winter mehrere ortsansässige Männer nach und nach, unter scheinbar mysteriösen Umständen, dahingerafft werden. Während das Gros der Dorfbewohner*innen, wie auch die Polizei, ratlos scheinen, ist sich Janina sicher: die Männer sind der Natur zum Opfer gefallen, weil sie das Leben der Tiere nicht wertschätzen. Deswegen wurden sie von eben jenen Waldtieren ermordet. 
Ausgehend von dieser Prämisse entspinnt sich eine Kriminalhandlung, die über zweieinhalb Stunden von der Protagonistin erzählt wird. Das Publikum begleitet sie in ihrem Alltag, ist dabei, wenn fleißig Blake zitiert wird und lernt nach und nach die anderen Siedlungsbewohner*innen durch die soziale Interaktion mit Janina kennen. So vergeht auf der Bühne ein ganzes Jahr. Die Protagonistin scharrt eine Handvoll Freund*innen um sich, während sie scheinbar immer mehr in psychotische Zustände abdriftet und die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zunehmend zu verschwimmen scheint. Unterdessen häufen sich die Mordfälle, und die naturverbundene Janina gerät allmählich selbst unter Tatverdacht. 

Regisseur McBurney gelingt das in der Tat beeindruckende Kunststück, die durchaus immense Handlung in einer angemessenen, drückenden Atmosphäre zu inszenieren und dabei trotzdem in einige Momente der Leichtigkeit auszubrechen sowie einige Lacher zu provozieren. Das eher spartanische Bühnenbild (Rae Smith) erweist sich als äußerst wandelbar und schafft durch den gezielten Einsatz von Gazen und Beamer-Mappings in Kombination mit dem meisterhaften Licht (Paule Constable) wunderschöne Stimmungen, die stets in einem sinistren bis melancholischen Zwielicht gehalten sind. So sind vor allem die Jahreszeitenwechsel, die sich durch die Inszenierung ziehen, hervorzuheben: auf der einen Seite ein unwirtlich sowie klirrend kalter Winter, während sich auf der anderen Seite der sommerliche Wald fast schon märchenhaft verwunschen gibt. 

In die Szenerie hinein spielt das oftmals chorisch agierende, zehnköpfige Ensemble, welches der Erzählung von Janina aus dem Halbdunkeln heraus mit faszinierender Präzision Leben einhaucht und in seiner Einfachheit bestechende Bilder schafft. Tote wie lebendige Tiere werden blitzschnell auf der Bühne suggeriert, immer wieder schälen sich einzelne Figuren aus der pulsierenden Masse und werden von Janina vorgestellt sowie in die Handlung hineingezogen. Zum Beispiel wäre da der schrullige Nachbar Oddball, der jeden Tatort in hektische Panik taucht oder der verblendete Priester Russel, der der omnipräsenten Jagd die Legitimation Gottes verleiht. 

Dabei schwebt über der Handlung stets das Sujet des Naturschutzes, das zwar im Laufe des Abends immer präsenter wird, jedoch nie aufgezwungen oder fehl am Platz wirkt. Zumal das Thema nicht aktueller sein könnte und somit den Zeitgeist trifft. Trotz aller Aktualität, beeindruckender Schauspieler*innen und inszenatorischer Kniffe drängt sich zum Ende hin der Eindruck auf, dass eine halbe Stunde weniger der Inszenierung nicht schlecht getan hätte. Zu sehr verlieren sich manche Szenen in ihren Dialogen und man wartet förmlich darauf, dass das Uhrwerk des Chores wieder zu ticken beginnt. Mit Sicherheit spielt dabei der spontane Ersatz der Hauptdarstellerin eine Rolle. Amanda Hadingue macht zwar ihre Sache gut, wirkt aber stellenweise ein wenig orientierungs- und energielos. Trotzdem bleibt am Ende ein beeindruckender sowie mitreißender Theaterabend, der lediglich etwas zu lang geraten ist.


Eine immersive Performance durch Licht- und Sounddesign (Anna-Maria Bernhofer)

Mit Drive Your Plow over the Bones of the Dead verwandelt Simon McBurney, gemeinsam mit seiner britischen Theatergruppe Complicité, Olga Tokarczuks Roman Gesang der Fledermäuse in ein komisches Rachedrama zwischen Tier und Mensch. Amanda Hadingue, die durch den krankheitsbedingten Ausfall der Originalbesetzung die Hauptfigur Janina Dszejko verkörpert, stellt sich gleich zu Beginn als Erzählerin der folgenden Geschichte vor. Sie führt die Zuschauenden auditiv durch das trostlose Fleckchen Polens, wo mysteriöse Todesfälle die Bewohner*innen beunruhigen. Während sich Janina intensiv mit den Toten beschäftigt, die rund um ihr Heim aufgefunden werden, verzaubert der besonders raffiniert gestaltete Einsatz von Sounddesign, Licht- und Bildprojektionen das Publikum und ermöglicht ein müheloses Eintauchen in den Öko-Thriller.

Beginnend mit dem Tod ihres Nachbarn Bigfoot nimmt der Krimi seinen Lauf, und da Janina kein bis wenig Mitleid für die Toten aufbringen kann, wird sie alsbald selbst des Mordes verdächtigt. Interessant gestalten sich ebenso die persönlichen Interessen der Hauptdarstellerin als pensionierte Brückenbauerin, in Teilzeit arbeitende Englischlehrerin, Hobbyastrologin und selbst erwählter Racheengel der umliegenden Naturlandschaft samt Bewohner*innen. Ihre eindeutige Naturverbundenheit und Tierliebe, die sich beispielsweise als besorgte Besitzerin zweier auf mysteriöse Weise verschwundener Hunde zeigt, scheinen Janina von den Rachegelüsten der Tiere zu verschonen. Sie selbst identifiziert diese im Laufe des Stücks immer wieder als Täter, doch ihre Theorie stößt bei der Polizei auf wenig Verständnis. 

Alles in allem gestaltet McBurney einen durchaus immersiven Abend, der in Zeiten von Klimaprotesten und Ernährungsdebatten eindeutig eine Aktualität aufweist. Überzeugen kann genauso das Ensemble, das Janinas Geschichte, ähnlich einer Traumerzählung, wiedergibt und begleitet. Die kleine Gruppe spielt im ständigen Rollenwechsel und in fluiden Kostümen gekleidet, sodass eine schnelle Wandlung gelingt. Auditiv und visuell lässt das Stück wiederholt die Grenzen zwischen Tier und Mensch verschwimmen – dies gipfelt auf narrativer Ebene mit der Abhaltung eines Maskenballs unter dem Motto „Tiere“. 

Obwohl durch die geschickte Inszenierung McBurneys von Janina als Erzählfigur gleichzeitig mehrere Zeitebenen wahrzunehmen sind, schadet dies dem Handlungs- sowie Spannungsverlauf in keinerlei Hinsicht – trotz der fast dreistündigen Aufführungsdauer. Auch das minimalistische Bühnendesign von Rae Smith, bestehend aus einem Tisch, ein paar Sesseln und einer vielfach umfunktionierten Spiegelwand am hinteren Ende der Bühne, bereichern das Spiel. 
Wie für die Arbeiten der Complicité üblich, werden in dieser Inszenierung Imaginationsräume aufgemacht, deren mitreißender Effekt weitgehend der künstlerischen Arbeit – Sound, Licht, Projektionen – rund um die Darsteller*innen zu verdanken ist. Vor allem das Sounddesign von Christopher Shutt unterstützt das Eintauchen in die Welt und hält den Spannungsbogen aufrecht. Nur vereinzelt stimmt die Vertonung nicht mit der Performance überein, was möglicherweise dem recht spontanen Auftritt von Hadingue zuzuschreiben ist. Im Großen und Ganzen eine gelungene Performance auf und rund um die Bühne.


Tierquälerei in reverse?
(anonym)

In einer abgelegenen Sommerhaussiedlung sterben mitten im Winter Männer unter mysteriösen Umständen. Die Einheimische Janina Duszejko, eine ehemalige Brückenbauerin, Lehrerin, leidenschaftliche Astrologin und engagierte Übersetzerin von William Blakes Gedichten, vermutet, dass sich die Tiere des Waldes an den Menschen rächen, die das Leben der Tiere nicht respektieren. 

Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk veröffentlichte bereits 2009 ihren feministischen Kriminalroman Gesang der Fledermäuse. Vor dem Hintergrund neuer Formen von Öko-Aktivismus und Umweltprotest ist es ein Werk von beunruhigender Brisanz. Gemeinsam mit einem zehnköpfigen Ensemble greift der britische Theatermacher Simon McBurney, der zuletzt 2016 mit The Encounter bei den Wiener Festwochen zu sehen war, die Themen des Romans auf und adaptiert den Stoff für die Bühne. Denn die Frage ist nicht, wie weit wir in unserem Bemühen um ein emphatisches Verhältnis zur Natur gehen sollen, sondern wie weit wir gehen müssen

Die Autorin hat in Gestalt von Janina unseren Willen für Gerechtigkeit und unsere Bedürfnisse nach Rache hervorgehoben. Unser „Wegschauen“ von alltäglichen Objekten und Handlungen wird hinterfragt. Sollte man sich nicht die Frage stellen, wenn wir das geschlachtete, tote Fleisch beim Metzger ausgestellt sehen, ob das wirklich normal ist? Nichts daran kommt uns in unserem Alltag komisch vor und das ist das Schockierende daran. Wir sind alle Täter des Wegschauens und der Verharmlosung. Dieses Problem wird in dem Stück sehr clever thematisiert, indem das Publikum gezwungen wird, hinzuschauen und darüber nachzudenken. Janina zieht uns mit ihrer sympathischen und humorvollen Art auf ihre Seite und schildert uns ihrer Geschichte. Wir wollen am Ende ebenso Gerechtigkeit für die getöteten Tiere und finden es nachvollziehbar oder sogar gut, den Tätern das Gleiche anzutun. Wir empfinden Mitleid mit Janina, wenn ihr bei der Polizei niemand glaubt und keiner etwas gegen die Ungerechtigkeit unternehmen will. Auch ihre Theorien und Deduktion mögen anfangs abschreckend wirken und Skepsis hervorrufen, doch gegen Ende hin erscheinen ihre astrologischen Erklärungen von Sterbensart und Zeitpunkten sogar logisch. Das Stück besticht durch auffallend viele symbolische Elemente, die neben der Aktualität des Themas meiner Meinung nach zu sehr in den Hintergrund rutschen. Elemente des An- und Ausziehens, der verschiedenen Kleidungsstücke nehmen einen zentralen Platz in der Gestaltung ein. Auch das Publikum wird immer wieder direkt durch blendendes Stroboskoplicht oder durch extrem lautes Einspielen des EDM Hits Animals von Martin Garrix adressiert. Einige Abschnitte im Stück werden wiederholend durch Zitate aus dem Roman auf der Leinwand untermalt. Die vergangenen Jahreszeiten werden hingegen mit Projektionen und dem Voiceover von Janina unterstrichen. Janinas Drang, die Taten aufzuklären und damit dem Publikum mitzuteilen, was passiert ist, nimmt stetig zu. Im Angesicht ihrer körperlichen Leiden scheint auch ihr eigenes Leben dem Ende zuzugehen, wodurch die Dringlichkeit zunimmt. 

Insgesamt wird ein sehr spannendes Thema skizziert, das dem Publikum zwar einerseits Stoff zum Nachdenken liefert, doch andererseits ist die Position des Publikums von Anfang an klar. Die Verbindung von Mensch und Natur wird dargestellt sowie die damit einhergehenden Gefahren, wenn diese Verbindung abbricht.


Das Tier in ihr
(Dennis Traud)

Im Rahmen der Wiener Festwochen gastierte die britische Theatergruppe Complicité mit Drive Your Plow Over The Bones of the Dead im Theater Akzent. Dabei handelt es sich um eine rasante und atmosphärische Adaption des gleichnamigen Romans der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, der 2009 erstmals erschienen ist. 

Angesiedelt in einem kleinen Dorf in der polnischen Provinz nahe der tschechischen Grenze folgt die Geschichte Janina Duszejko, eine ehemalige Brückeningenieurin und nun Tier- und Umweltschützerin sowie Astrologin, die in ihrer Freizeit gerne William Blake übersetzt (aus dessen Werk der Titel der Produktion entnommen ist). Als plötzlich mehrere Männer des heimischen Jagdvereins auf mysteriöse Art und Weise ermordet werden, beobachtet sie ein eigenartiges Verhalten der Tiere und äußert einen Verdacht: es müssen die Tiere sein, die damit begonnen haben, sich an den Menschen für das ihnen angetane Leid zu rächen. 

Simon McBurney, Regisseur und künstlerischer Leiter der Gruppe, hat den Kriminalroman adaptiert und für die Theaterbühne als Thriller inszeniert. Dafür hat er Janinas Erzählerstimme aus dem Buch auf die Bühne übertragen, indem er die Protagonistin ihre Version der Geschichte dem Publikum über ein auf der Bühne mittig positioniertes Mikro erzählen lässt. Ihr Monolog im Spoken Word-Stil wird immer wieder durch Ausbrüche in Szenen und Dialogen mit den anderen Figuren unterbrochen, die durch schnelle Szenenwechsel und Soundeffekte filmisch daherkommen. Die Narration ist sehr temporeich und wird durch Toncollagen aus Geräuschen und Tierlauten, durch Bild- und Videoprojektionen auf der Bühne und mittels Lichtinstallationen verstärkt. So wird die Inszenierung zu einer besonders immersiven, audiovisuellen Erfahrung mit Hörspiel-Charakter, die (fast) alle Sinne anspricht. Janina wurde an diesem Abend gleichermaßen charmant und eindringlich von Amanda Hadingue gespielt, die ein die meiste Zeit präsentes Ensemble anführt, das gleich mehrere Rollen übernimmt: Janinas Monolog visualisieren und genauso mit Tierpantomimen überzeugen. Als Kulisse dienen hauptsächlich Tische und Stühle, die auch mal zweckentfremdet werden, etwa als Hochsitz. Die Inszenierung bietet zahlreiche Möglichkeiten für eigene Assoziationen sowie Imaginationen, fordert den Zuschauer heraus und ist dabei aber immer unterhaltsam sowie humorvoll. Auch aktuelle Bezüge (Corona, Klimawandel, etc.) werden stetig thematisiert. Die Spannung, die die Handlung verspricht, kann zwar nicht bis zum Ende der etwas zu langen Spielzeit aufrechterhalten werden, dennoch geht einem der Abend nahe. Janinas Geschichte bietet reichlich Potential, um im Kleinen über das Verhältnis von Mensch und Tier, und im Großen die Verflechtung von Mensch und seiner (Um-)Welt nachzudenken. Mit diesem Stück möchten Complicité sowohl aufrütteln als auch wütend machen – es ist davon auszugehen, dass ihnen das bei einem Großteil des Publikums gelingt. Denn Gleichgültigkeit ist keine Option.


Nachtkritik von Christoph Wingelmayr

Das Ensemble des Complicité Theaters liefert auf den Festwochen 2023 eine fulminante Aufführung, die wahrhaftig unter die Haut geht und an unseren Grundfesten rüttelt.

Die Geschichte beschäftigt sich mit wichtigen Fragen unserer Zeit. Zentrale Themen sind wie wir mit unserer Umwelt umgehen, Religion, Astrologie und die Beziehung zu Tieren. Es wird im Stil eines klassischen Krimis erzählt, der spannend wie ein Thriller daherkommt. Die Handlung beschäftigt sich mit ernsten Themen, die gehaltvoll und beklemmend in die Tiefe gehen, aber trotzdem mit einer kleinen, aber feinen Portion Witz versehen sind.

Das Erzähltempo ist sehr schnell und die Inszenierung verwendet unterschiedliche multimediale Mittel. Dabei erinnert es nicht an eine klassische Aufführung. Auf der Bühne passieren die Dinge auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Während im Vordergrund die zentrale Handlung spielt, sind im Hintergrund ebenfalls Handlungen wahrzunehmen, weshalb der Eindruck von etwas Organischem oder Lebendigem, das stets in Bewegung ist, entsteht. Es handelt sich um eine moderne Aufführung, die publikumszentriert gestaltet ist. Die Art der Darstellung erinnert an einen Film. Es werden klassische cineastische Element wie Rückblenden verwendet und die Übergänge zwischen verschiedenen Teilen der Erzählungen ähneln filmischen Überblendungen. Auch das Sounddesign erinnert an das Kinematographische. Die einzelnen Szenen haben eigens komponierte Stücke sowie einen kompletten Soundteppich, der sanft darübergelegt wird. Auf diese Weise entsteht eine prickelnde Atmosphäre, die die Zuschauenden nach und nach in ihren Bann zieht.

Simon McBurney hat die Regie für dieses Werk, das er mit seinem Theaterkollektiv Complicité auf die Bühne bringt, übernommen. Die Vorbereitungen für das Stück begannen vor etwa zwei Jahren inmitten der Corona Pandemie. Dafür isolierten sich die Beteiligten mehrere Wochen zusammen in einer Wohnung und arbeiteten fieberhaft an der Umsetzung. Es entstand, wie es beim Complicité Theater üblich ist, in einem stark kollektiven angelegten Prozess unter starker Miteinbeziehung der Ideen und Visionen der Schauspieler*innen, Dramaturg*innen und anderer Kreativen des Teams. Viele unterschiedliche Variationen von Szenen und Konzepten wurden entworfen, wieder verworfen und führten nach und nach zu einem fertigen Gesamtkonzept.

Das Stück stellt den Zuschauenden die Frage, ob sich die Tierwelt zu rächen beginnt. Kommt es zu einem Aufstand der Tiere? Entfremdet und schwer belastet wird die Beziehung des Menschen zur Tierwelt dargestellt, die aus dem Gleichgewicht geraten scheint. Haben wir uns schon so weit von der Natur entfernt, dass wir komplett von ihr entfremdet sind, oder gibt es noch Anknüpfungspunkte, die ein friedliches Miteinander ermöglichen? Schaurig und bedrohlich lässt uns diese Aufführung unsere eigenen Werte hinterfragen und hält uns einen unerbittlichen Spiegel vor, der manchmal wehtun kann. Fahren wir mit also mit dem Pflug über die Knochen der Toten, wie der Titel des Theaterstücks vorschlägt und finden wir heraus, was es damit auf sich hat.


Im Wald toben die Tiere
(Gabriel Radwan)

Zu Beginn dominieren nur ein alleinstehendes Mikrofon und leere Sessel die Bühne von Drive Your Plow Over the Bones of the Dead. Die Bühne lässt keinesfalls anmerken, welch stürmische Inszenierung kurz darauf auf ihr stattfinden wird. Zuerst betritt die Hauptfigur Janina die Bühne – sie wird bei dieser Aufführung von Amanda Hadingue gespielt, die für die erkrankte Kathryn Hunter einspringt. Die Besucher*innen an diesem 25. Mai können demnach nur ihre Vorstellungskraft nutzen, um sich vorzustellen, wie die Inszenierung in der Originalbesetzung eigentlich geplant war. Ich kann an dieser Stelle aber klarstellen, dass dies nicht notwendig ist, da auch Amanda Hadingue die Rolle als Janina erstaunlich umsetzt. Zwischen gefassten, ruhigen Momenten bis hin zu tobenden Ausbrüchen des Zorns, von heiteren throwaway lines bis hin zu verzweifelten Emotionsausbrüchen führt sie die Zuseher*innen durch einen drei Stunden langen Epos über Mord, Rache, Klimaschutz und die einstweilige Einsamkeit, die man spürt, wenn man sich allein für die „richtige“ Sache einzusetzen versucht. 

Die Bühne ist jedoch nicht allein Janinas Schauplatz. Begleitet wird sie von einem gewaltigen Cast aus zehn Schauspieler*innen, die stets die vollständige Spielfläche ausschöpfen. Dabei entstehen dynamische Bilder, welche stets eine wertvolle Ästhetik mit sich bringen und die Zuseher*innen niemals auf unangenehme Weise überwältigen. Schnell fällt auf visueller Gestaltungsebene ebenso der Einsatz von Licht auf. Befindet man sich während des einführenden Monologs noch im grell beleuchteten Spielsaal, dimmen die Lampen rasch ab und absolute Dunkelheit, mit Ausnahme weniger Spots auf die Figuren, umhüllt den Raum. Licht wird im Zuge der nächsten drei Stunden nicht nur als Beleuchtung genutzt, sondern kann als ein teilnehmendes Element verstanden werden, das öfters eine wichtige Rolle im Stück einnimmt – als sei es Teil des Ensembles selbst. Mit Projektionen untermalt das Licht die jeweilige Situation mit Metaphern, atmosphärischen Effekten oder auch Zitat-Einblendungen von William Blake. So stellen zwei Scheinwerfer das Licht eines verlassenen Autos dar, das im Schneesturm als Omen für den nächsten Mord gelesen werden kann. Lichtblitze, die schamlos auf das Publikum gerichtet sind, schocken die Zuseher*innen und fungieren als ein Weckruf. 

Wie die unsäglichen Schmerzen, die die Hauptfigur durchmacht, lösen die Lichtblitze ein unerwartetes Trauma aus. Etwa ein Weckruf zum Handeln? „Die Klimakrise ist echt, die Umwelt leidet und wir dürfen dabei nicht einschlafen“ könnte eine der Kernaussagen dieses Stücks sein. „Ihr schlaft und darum muss die Tierwelt selbst eingreifen“ eine weitere. Drive Your Plow Over the Bones of the Dead wagt, große Themen anzusprechen und ist dabei nie prätentiös oder anmaßend. Simon McBurney und die Theatergruppe Complicité haben eine sehenswerte Produktion auf die Beine gestellt.


Nachtkritik von Léna Cornille

Am Donnerstag, dem 25. Mai 2023, fand im Rahmen der Wiener Festwochen die dritte und zugleich erste Aufführung des Stücks Drive Your Plow Over the Bones of the Dead von Simon McBurney statt. Die erste für Amanda Hadingue, die die Hauptrolle Janina nach der Erkrankung der Originalbesetzung übernahm. Sie bietet uns ein energiegeladenes Spiel und eine kraftvolle Präsenz. Sie ist die Einzige, die durchgehend auf der Bühne ist – und das mit einer beeindruckenden Energie. Ihre Rolle ist die Säule und das Bindeglied des gesamten Stücks. Die Leistung ist umso sensationeller, wenn man bedenkt, dass das Stück in weniger als einem Tag wieder aufgenommen wurde. Das ganze Werk ist von ihr abhängig, von ihrem Text und ihren Handlungen. Auffallend ist gleichermaßen die unterstützende Rolle des Ensembles. Man spürt die Komplexität und die Kraft der Gruppe. Das Ensemble ist da, wenn sie es braucht. Durch ihre einnehmende Rolle steht Amanda Hadingue im Rampenlicht und überstrahlt daher teilweise den Rest der Schauspieler*innen, die jedoch nicht zu kurz kommen. Sie verwandeln sich und schaffen es zu neunt, mindestens die dreifache Anzahl an Charakteren zu spielen. Mitunter hat man das Gefühl, dass das Ensemble viel größer zu sein scheint. 

Die Verbindung, die während des gesamten Stücks mit dem Publikum hergestellt wird, ist eine besondere. Die vierte Wand wird gleich zu Beginn durchbrochen und bleibt während des gesamten Stücks verschwommen oder gar abwesend. Die Protagonistin Janina spricht zum Publikum, als ob die anderen Figuren sie nicht hören könnten. Wir werden mit ihren Nebenbemerkungen, ihren Vertraulichkeiten und ihren Erinnerungen vertraut. Janina navigiert das Publikum abwechselnd zwischen Haupthandlung und Erinnerungen, wobei sie fließendvon einem zum anderen wechselt. Sie ist für alle präsent: für das Publikum, für das Ensemble und für sich selbst. Sie scheint sogar mehrere Personen gleichzeitig zu sein. Ihre Stimme, ihre Haltung und ihre Einstellung sind unterschiedlich und passen sich an, je nachdem, mit wem sie spricht. 

Das Stück ist multimedial inszeniert. Neben Text und Stimme gibt es auch Licht, Ton, Gesang, Spezialeffekte und Requisiten aller Art. Es ist fast eine Choreografie, mehr Tanz als Theaterstück. Alles ist sehr rhythmisch. Die Arbeit der Synchronisation und der Regie ist bemerkenswert. Dies unterstreicht und hebt Janinas Charakter hervor. Sie ist der Mittelpunkt von allem, gleichzeitig mächtig und sehr klein. Einerseits haben wir Mitleid mit Janina, doch andererseits hegen wir eine gewisse Angst vor ihr: Wozu ist sie fähig? Hat sie gute oder schlechte Absichten? Sie wirkt mit ihrer Kleidung, ihrer Leidenschaft für Astrologie und ihrer Liebe zu Tieren fast schon unschuldig, doch der Sinn nach Gerechtigkeit und die Rache scheinen ihr Leben beherrscht zu haben… 

Als ich aus dem Stück kam, war ich erstaunt, bewegt und beeindruckt. Es ist viel passiert, viele Geschichten wurden erzählt, sodass es schwer ist, jemandem das Stück zu erklären. Dennoch war ich begeistert von den Leistungen der Schauspieler*innen und der Multikulturalität des Stücks. Obwohl die Thematik nicht unbedingtdazu einlädt, habe ich trotzdem viel gelacht. Darüber hinaus habe ich mich der Figur Janina verbunden gefühlt, als ob ich Exklusivrechte an ihrem Vertrauen habe. Es fühlte sich so an, als ob ich selbst Teil der Gruppe bin und mit auf der Bühne stehe.


Nachtkritik von Amélie Grondin

Das Stück Drive Your Plow Over the Bones of the Dead erzählt die Geschichte der 65-jährigen Janina (dargestellt von der brillanten Schauspielerin Amanda Hadingue), die vom Gleichgewicht in der Natur träumt. Das Publikum wird unvorbereitet in Janinas Geschichte hineingezogen: Die Lichter im Zuschauerraum gehen erst aus, nachdem der Kern der Handlung seinen Lauf nimmt. Jemand hat Post-its am Mikrofon hinterlassen, die Ereignisse sind in Janinas Erinnerungen verschwommen. Niemand würde diese alte Frau am Rande der Senilität verdächtigen…

Die Charaktere werden methodisch, einer nach dem anderen, eingeführt. Sie sitzen bereits im Hintergrund der Bühne und schmücken sich mit Mänteln, um die Rollen zu spielen, die Janina ihnen zuweist. Wir lernen Figuren kennen, die die Frau anhand ihrer Eindrücke, die sie von ihnen hat, benennt: den Tiermenschen Bigfoot, den Nachbarn Oddball, der am sog. „Testosteronsyndrom“ leidet, sowie die Schriftstellerin, die eine Halskrause trägt, weil ihr Kopf zu schwer ist. In Thrillermanier sind sie hinsichtlich der Morde, die in dieser polnischen Stadt passieren, alle verdächtig. Janina ist in dieser Stadt als Englischlehrerin tätig, beschäftigt sich in ihrer Freizeit hauptsächlich mit Astrologie und übersetzt Texte von William Blake. 

Simon McBurneys Stück ist ein Gemälde des Älterwerdens und seiner Unausweichlichkeit. Janina befindet sich in dieser Situation, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Sie ist in einem Körper gefangen, der unaufhörlich leidet und sich vor Schmerzen krümmt. Sie träumt davon, sich von ihrem Körper zu lösen, um sich von den Nachwehen der Zeit zu befreien, die ihr von geliebten und im Traum erscheinenden Menschen, wie ihrer Mutter und Großmutter, genommen wurde. Ihr blieben nur ihre „Töchter“, zwei Dackel, deren Geister sie in ihrem leeren Haus sieht. Auch ihre mentale Gesundheit scheint stark verwüstet zu sein. Das ist ebenfallsdie Diagnose, die man ihr als Begründung dafür gibt, dass sie Tieren mehr Wertschätzung entgegenbringt als den Menschen. Doch für Janina sind die Sterne eindeutig: Die Tiere sind die Mörder. Sie nehmen Rache an der Menschheit.

Jagd, Wilderei, Pelzausbeutung: Das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch ist verloren gegangen. Janina versucht, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, indem sie auf die Triebe der Tiere, der Natur und der Gestirne hört und die Schuldigen ermordet. Bigfoot, der Kommandant, der Vorstand, die Person Innert, der Priester – sie alle sind Komplizen. Ihre Vergehen: Sie misshandeln, töten, manipulieren und lügen. Sie sind es, die ihr ihre Hunde weggenommen haben. Die Gerechtigkeit, die ausgeübt wird, sei der Natur inhärent: Tiere haben einen starken Sinn für Ungerechtigkeit. Der Schutzheilige der Jäger wäre somit der Schutzheilige der Sünde. Der Priester versucht Janina davon zu überzeugen, dass Tiere keinen Geist haben und Janina lieber für sich selbst statt für die Tiere beten sollte, aber Janina spürt, dass sie, wie die Insekten im Wald, die transzendentale Pflicht hat, das verhängnisvolle Schicksal einer Menschheit zu erfüllen, die jeden Sinn für das Natürliche im Mikrokosmos des Planeten Erde verloren hat.

Das Spiel mit den Projektionen vor und hinter der auf der Bühne montierten Glasscheibe gibt den Rahmen für die mentalen und physischen Orte vor, die im Kopf der Protagonistin herumspuken. Die Mäntel und Pelze sind Repräsentationen der Körper sowie Identitäten der Figuren. Und die teuflische Stimme in Martin Garrix‘ Refrain Animals klingt wie der Schrei, der die nahende Sintflut ankündigt, die Janina aber mit Oddball und ihrem Liebhaber bei einem Joint feiert.


Nachtkritik von Anna Momotenko

Eine der einflussreichsten Theatergruppen unserer Zeit – Théâtre de Complicité, die ihren Sitz in London hat – präsentierte im Rahmen des internationalen Kunstfestivals der Wiener Festwochen 2023 ihre neueste Produktion Drive Your Plow Over the Bones of the Dead. Unter der Regie des britischen Theatermachers Simon McBurney erweckte die zehnköpfige Schauspieler*innen-Gruppe Complicité ihre Interpretation des Romans Gesang der Fledermäuse der polnischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin für Literatur, Olga Tokarchuk, zum Leben. Der im Jahr 2017 verfilmte Roman wurde erst 2020 von Regisseur Simon McBurney und dem Complicité-Team als eine Theaterinszenierung konzipiert, wobei der Vorbereitungsprozess bis zur ersten öffentlichen Aufführung insgesamt zwei Jahre dauerte.

Die auf die Theaterbühne gebrachte Inszenierung stellt dem Publikum die Welt der Protagonistin Janina, dargestellt von Amanda Hadingue, vor. Aus Janinas Erzählung erfährt man von mysteriösen Ereignissen, die sich in einem Waldgebiet in Südpolen, nahe der Grenze zur Tschechischen Republik, zugetragen haben. Ausgangspunkt: ein einflussreicher Mann des Dorfes wird tot aufgefunden. In seiner Tasche befindet sich nicht nur sein Personalausweis, sondern auch ein Foto von Männern des Dorfes, die sich aktiv an der Jagd in der Gegend beteiligen und in ihrer Gemeinde viel Einfluss haben. Nach und nach werden immer mehr dieser Männer tot aufgefunden. Janina, die eine besondere Beziehung zur Natur und zu Tieren hat, stellt ihre eigene Version der Geschehnisse vor. Sie formuliert ihre Erklärung so, dass die Tiere sich an den Menschen für deren brutale Behandlung von Lebewesen rächen.

Alle Komponenten der Inszenierung – das Schauspiel, die Beleuchtung, die Musik und die Projektionen – ergänzen sich auf der Bühne, und die Ereignisse im Dorf sowie die Geschichte Janinas lassen niemanden unberührt. In den ersten Minuten der Aufführung baut Janina eine besondere Beziehung mit dem Publikum auf; sie ist allein auf der Bühne und spricht bei eingeschaltetem Licht in ein Mikrofon zum Publikum. Vor dem Mikrofon stehend und emotional berichtend entsteht eine besonders tiefe Empathie in dem Moment, in dem Janinas Verbundenheit mit der Natur und den Tieren deutlich wird sowie bei der Art und Weise, wie sie über ihre zwei Hunde spricht, die sie „meine kleinen Mädchen“ nennt. Während des ganzen Stücks kämpft sie für die Rechte der Tiere. Sie nutzt alles, um sich gegen die Jagd aussprechen, doch scheint dies niemanden zu kümmern. Als Antwort darauf hört Janina vom Pfarrer, dass Tiere keine Seele haben und dass dasmenschliche Leben viel wertvoller ist als das der Tiere. Sie solle sich lieber um sich selbst kümmern statt um die Natur und Tiere. 

Die Sound-, Licht- und Bildgestaltung ist integraler Bestandteil der Aufführung, da sie die einzigen Mittel sind, um die Erzählung visuell darzustellen und der Handlung Atmosphäre zu verleihen. Während Janina auf der Bühne sowohl als Erzählerin als auch als Teilnehmerin der Geschichte auftritt, gibt es zeitliche Sprünge von der Gegenwart in die Vergangenheit, die sich in der unterschiedlichen Art und Weise von Janinas Sprechweise und der Lautstärke bemerkbar machen. Es ist schwer zu erkennen, ob der gesamte Text von den Schauspieler*innen auf der Bühne live gesprochen wird oder ob mitunter vorgefertigte Audioaufnahmen abgespielt werden. Die von Christopher Shutt vorbereiteten Soundkompositionen sind mehr als eine Untermalung der Produktion. Sie versinnbildlichen Janinas seelischen Zustand, der seinen emotionalen Höhepunkt erreicht, als sie ein Bild in der Tasche des verstorbenen Nachbarn Bigfoot findet: ihre beiden verschwundenen Hunde unter den toten Tieren, die von den einheimischen Männern bei der Jagd getötet wurden. 

Reduziert auf einen minimalen Einsatz von Objekten, ergibt sich das Bühnenbild meistens aus Projektionen und Lichtwechseln. Die Projektionen führen nicht nur durch die Orte und präsentieren Janinas Träume. Manchmal werden sie zum Spielort, wenn Janina in ihrem Traum ihren physischen Körper verlässt. Die Projektionen sind nur für die Betrachter*innen bedeutsam, damit man sich Janinas Welt vorstellen kann. Zum Teil werden Fotografien und Videos von Tieren projiziert, die im Hintergrund als Schwarzweißfotografien bzw. Porträts verstorbene Tiere wiedergeben. Neben dieser untypischen Darstellung von Tieren in Form von Porträts, werden an einer bestimmten Stelle in Janinas Erzählung Fotos und Videos von den umgebrachten Rehen gezeigt. Während Janina ihre Theorie aufstellt, dass die Männer von Tieren als ein Racheakt umgebracht wurden, läuft im Hintergrund ein Video, in dem ein Reh einen Mann attackiert.  

Im Verlauf des Stücks wird das Publikum für eine Sekunde von einem simulierten Blitzlicht geblendet, so dass es schwer zu erkennen ist, was auf den Fotos zu sehen ist, doch scheint immer das gleiche Bild gezeigt zu werden: einige schwerbewaffnete Männer des Dorfes mit ihren Trophäen – den getöteten Tieren und Janinas Hunden. Die Fotos sind eine Art Rückblende, die Janina überallhin verfolgt und sie daran erinnert, was passiert ist und was sie zu ihrem entschlossenen Handeln veranlasst hat.

Die Geschichte von Janina wird zur Geschichte von allen, die zuhören. Sie stellt Fragen zu unseren eigenen Beziehungen, wer wir sind und wie wir uns zur Welt positionieren. Auf der Bühne befindet sich ein Spiegel, in dem sich das Publikum manchmal sieht, was gleichzeitig zu einem Mittel der Reflexion auf unser eigenes Verhalten wird. Die Welt von William Blake erscheint in der Inszenierung als ein Ideal, und Astrologie ist dabei die einzige Methode, die Welt zu erklären.