PIRANHAS

La Paranza dei Bambini, Regie: Claudio Giovannesi, Italien 2019

Piranhas_Jury
What if…? – Jury statement by the students

Kritiken von Nys-Etienne Lohoff und Adrian Zerlauth


Haie im Aquarium

von Nys-Etienne Lohoff

Ein Ritual leitet sowohl Gomorrha, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Roberto Saviano, als auch Claudio Giovannesis neuen Film PIRANHAS ein, dessen Vorlage ebenso von Saviano stammt. In einem Fall ist es Hinrichtung, im anderen eine Initiation. Piranhas beginnt mit einem Akt der Gemeinschaft, einem Zeichen der Zusammengehörigkeit. Im Laufe des Films sehen wir doch vor allem einen: Nicola ist Anführer einer Jugendbande in einem Viertel Neapels, welches im Griff der Mafia ist. Als sich die Gelegenheit bietet, reißt der Fünfzehnjährige mit seinen Mitstreitern die Macht an sich.

Ohne Mord kommen auch sie nicht aus. Die Killer von Gomorrha handeln zu Beginn ohne zu zögern und auch am Ende von Gomorrha verladen sie die Leichen der hochmütigen Jugendlichen, als wären sie Sandsäcke. So professionell im Töten ist Nicola, der Erste der Gruppe, der einen Mord begeht, noch nicht. Noch. Der Film zeigt seine Verwandlung vom Jugendlichen zum Gangster, ohne die Zuschauer*innen vergessen zu lassen, dass seine Freunde und er eigentlich genau das sind: normale Jugendliche, deren Vorbilder allerdings keine Popstars, sondern die Capos des örtlichen Mafia sind. Vermischt mit Szenen, die aus dem Leben der meisten jungen Menschen stammen könnten, erzählen Schießtraining bei Lehrer YouTube, Drogen verkaufen und Schulden eintreiben von einem Prozess, an dessen Ende unweigerlich diejenige ausufernde Gewalt steht, die die Bewohner*innen des Viertels von klein auf umgibt. Wie beiläufig wirkt all das, und zudem durch den Einsatz von Laien und Amateurschauspielern auch glaubwürdig.

Ob man die weniger aufregenden Momente im Leben Fremder sehenswert oder doch störend findet, ist wohl Geschmacksache. Jedenfalls ist es ein zu erwartender Teil eines fiktional-dokumentarischen Films, dessen Erzählweise man additiv nennen kann. Die einzelnen, teilweise unzusammenhängenden Ausschnitte bilden trotz aller Längen einen durchgehenden Spannungsbogen, der an Intensität mit jeder hinzukommenden Episode zunimmt, ohne dass man es zunächst bemerkt. Am Ende der langsamen, aber stetigen Fahrt steht kein Ende, die Gewaltorgie wird ausgespart. Stattdessen sehen wir unsere Helden mit stoischer Akzeptanz dessen, was kommen wird, auf ihren Motorrollern in die Schlacht ziehen. Ein schwerer, melancholischer Moment, der sich vom Tempo des restlichen Films nicht groß unterscheidet. Aus dem Spiel und aus den Träumen ist dennoch Realität geworden und das spiegeln die versteinerten Mienen der Jugendlichen wider.

Abseits des Tarantino- oder passender Scarface-esken Massakers, welches sich einige Zuschauer*innen eventuell wünschen, fehlen Piranhas vor allem zwei Dinge: Charakter-Entwicklung bei mehr als einem Charakter und damit einhergehend, Identifikationspunkte. Natürlich sehen wir immer wieder Nicolas Gesicht in Großaufnahme, die Kamera ist quasi auf ihn fixiert, wodurch viel zu oft die anderen Mitglieder aus dem Fokus geraten und so stets unterentwickelt, auf das Nötigste reduziert bleiben. Doch bis auf wenige emotionale Ausbrüche, wie nach seinem ersten Mord, fängt sie nur die Maskerade des harten Kerls ein, der er gerne sein möchte und als Anführer auch sein muss. Ein Handel, an dem die Anteilnahme leidet.

Trotz eines Fokus auf Nicola als Anführer erhält man einen Einblick in die Dynamik der Gang, sowie eine einzigartige Perspektive: Die der Kinder und Jugendlichen, die im Normalfall ganz unten in der Hierarchie stehen, so unmittelbar darzustellen schafft eine komplett andere Sicht auf die Dinge als es herkömmliche Mafia-Filme ermöglichen. Der bereits erwähnte Scarface, wie auch die Filme der der Pate-Trilogie, erzählen zwar ebenso vom Aufstieg (und Fall) ihrer Protagonisten, jedoch sind diese entweder schon lange Zeit Teil des Establishments oder älter als die Jungs in Piranhas.

Giovannesis Ansatz ist anders, bricht mit Klischees und setzt diese ein, um die jugendliche Romantisierung der Mafia durch eine eher vage Historizität und dem Austausch von Fakten durch Hörensagen und genretypischer Topoi, die ihren Weg in die Popkultur gefunden haben, zu zeigen. Deutlich wird ihr Halbwissen, wenn Nicola dem alten Boss einen Kuss auf den Ring drücken möchte oder der Junge aus der Nachbarschaft mit den Heldentaten und der Villa seines im Milieu berühmten Verwandten prahlt. Wie dieser sind „die vom alten Schlag“ alsbald tot oder verhaftet, sodass sich die Jugendlichen ihre eigene Wirklichkeit schaffen.

Wie Saviano betont, steht Piranhas beispielhaft für die Biografien Jugendlicher, die in und um Neapel aufwachsen. Aus ihrer Perspektive zu erzählen, ihre Wünsche und Sorgen, sowie den Einfluss ihrer Umwelt zu zeigen, ohne sie eindeutig als Opfer oder Verbrecher darzustellen ist ein fruchtbarer Ansatz, um einen Genrefilm zu realisieren. Es ist mutig, Jugendliche sehr un-kinematisch in ihrer belanglosen Alltäglichkeit zu zeigen, zum tausendsten Mal eine nirgendwo hinführende Romanze oder Jungs beim Raufen um den Playstation-Controller, wenn im Kinosaal nebenan das Universum auf dem Spiel steht.


Make Mafia great again

von Adrian Zerlauth

Eine romantisierte Mafiageschichte verpackt in die zeitgenössische Unterwelt Neapels. Hier werden Kinder zu Verbrechern, hier werden Unschuldige zu Schuldigen. Welche individuellen Konsequenzen, sowie weitreichende Effekte daraus resultieren zeigt Claudio Giovannesis aktuellstes Werk rund um eine Gruppe Teenager.

Nicola ist 15 Jahre alt und der Anführer einer achtköpfigen Gang aus Neapel, welche aus Kindern und Jugendlichen gleichen Alters besteht. Die Gruppe versucht ganz im Vorbild der alten Mafiabosse Neapels, den Idolen nachzueifern. Zeiten ändern sich jedoch und das romantisierte Bild der Mafia verblasst immer mehr, bis es schließlich zur harten Realität wird: Schutzgeld wird erbarmungslos eingetrieben und wer heute am Steuer sitzt, kann morgen bereits tot sein. Nicola will dies ändern, die Mafia wieder zu ihren glorreichen Zeiten zurückführen. Als sich die Unterwelt Neapels durch eine Razzia komplett auf den Kopf stellt, erkennt Nicola und seine Gruppe ihre Chance, sich ganz oben an der Spitze zu etablieren.

Dieser Werdegang wird vom italienischen Regisseur Giovannesi durch das bekannte Rise-and-Fall-Narrativ erzählt, wie in Mafia-Klassikern wie THE GODFATHER TRILOGY (1972/1974/1990) oder auch GOODFELLAS (1990). Dramaturgisch wird in PIRANHAS somit das Rad nicht neu erfunden. Jedoch schafft es der Film dieses klassische Narrationsgerüst stetig aufzubauen. Die Geschichte rund um die junge Mafiagruppe wird immer intensiver und immersiver, nur um in einem doch plumpen Cliffhanger zu Enden. Das Drehbuch zu PIRANHAS kommt von italienischen Autor Roberto Saviano, welcher auch das Drehbuch zur bekannten TV-Serie GOMORRAH (2008) geschrieben hatte. Die Serie wurde äußerst positiv aufgenommen, da sie sehr tiefe Einblicke in die Abgründe des Mafia-Clans „Camorra“ aus Neapel bot. Saviano gilt heute noch als einer der größten Mafia-Kritiker Italiens. Im Vergleich zu GOMORRAH wirkt das Drehbuch von PIRANHAS jedoch beinahe handzahm. Von einer Welt, in der Gewalt und Verbrechen regieren, ist in PIRANHAS wenig zu erkennen. Es gibt keine expliziten Gewaltdarstellungen, generell sind kaum Szenen vorhanden, die ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend hervorrufen. Dies führt leider dazu, dass die Gefahr, die von diesem Milieu ausgeht, im Film nur in vereinzelten Szenen spürbar wird und sich nicht auf die gesamte Atmosphäre ausbreiten kann.

Eine atmosphärische Stärke des Films liegt jedoch in der Gruppendynamik und der Charakterentwicklung von Nicola. Klar im Fokus des Films stehen die Nachwuchsmafiosi und deren Entwicklung, von unschuldigen Jugendlichen zu naiven Verbrechern. Die Inszenierungsart der Gruppe rund um Nicola ist Giovannesi eindrücklich gelungen. Wie die Jungs miteinander umgehen, wie sie sprechen und vor allem wie sie handeln wird fließend und sehr authentisch in Szene gesetzt. Die emotionalen Veränderungen, welche die Gang durchlaufen, werden szenenweise sehr ambivalent dargestellt, indem Konflikte öfter auftreten und die Jugendlichen immer unberechenbarer werden. Das Gefühl der Unberechenbarkeit erreicht relativ früh ihren Höhenpunkt, nämlich dann, wenn die Gruppe Waffen in ihre Hände bekommt. Nun gleicht jede Szene einer tickenden Zeitbombe. Man weiß nie, ob und wann der erste Schuss fällt, was zu einer immensen Spannungssteigerung in der Erzählung führt. Eines bleibt jedoch sichtbar und spürbar: Kinder bleiben Kinder. Die Rollen der Jugendlichen bleiben den ganzen Film durch Loyalität, Lebendigkeit, Naivität und Freundschaft charakterisiert. Die Gruppendynamik ist ein wahrer Höhepunkt von PIRANHAS.

Dass dabei alle acht Kinder von Laiendarstellern gespielt werden ist umso beeindruckender. Alle liefern eine wirklich tadellose schauspielerische Leistung ab, die die Gruppe und die Gefühlswelt der jungen Verbrecher wunderbar darstellen. Gerade die emotionale Entwicklung, die der Protagonist Nicola durchwandert, wird dramaturgisch, sowie inszenatorisch sehr gut eingefangen. Die Kamera bleibt stets sehr nahe an der Hauptfigur und zeigt ihn beinahe ausschließlich in der Großaufnahme. Dies steigert den emotionalen Sog in Nicolas Gefühlswelt und verstärkt die Bindung zum Charakter. Grundsätzlich nimmt die Kamera eine beinahe dokumentarische Perspektive ein, man fühlt sich als Zuseherin, als Zuseher fast als Gruppenmitglied, das mit den anderen zusammen auf den Scootern durch die malerischen Straßen Neapels düst. Die Montage-, sowie die Kameraführung, wird nur dann eruptiv und hektisch, wenn sich die Gruppe in einer brenzligen Situation befindet. Den größten Teil bleiben die Bilder unaufgeregt, um den Figuren mehr Platz einzuräumen, welchen sie gekonnt ausnützen.

PIRANHAS ist eine klassische Geschichte rund um eine Gruppe junger aufstrebender Mafiosi, dessen Stärken in der lebendigen Gruppendynamik, der figurenkonzentrierten Inszenierung und dem Bruch mit dem romantisierten, popkulturellen Mafiabild liegen. Ein wenig mehr Ideenreichtum und Pep hätten dem Film jedoch gutgetan.