EIN GEFRÄSSIGER SCHATTEN

Mariano Pensotti
Walz Wiener Lernzentrum (1140 Wien)
Freitag, 24. & Samstag, 25. Mai 2025

© Christophe Raynaud de Lage

Schatten der Vergangenheit – auf der Suche nach der Wahrheit der Fiktion
Katharina Petsch

Der gefrässige Schatten kann in Pensottis Stück vieles sein: der zu erklimmende Berg an sich, die Vergangenheit oder besser gesagt die Schatten der Vergangenheit, die beiden Schauspieler, die jeweils die Sätze des Anderen wiederholend auf ihrer Hälfte der spärlich ausgestatteten Bühne ihr Gegenüber in ähnlicher Outdoor – Zipp – Hose, Baumwollhemd und Trackingschuhen spiegeln oder als dessen Schatten auftreten und ihre Silhouetten Schatten an die weiße, bewegliche Fläche hinter sich werfen. Dabei geht es stets um die Wiederholung, die Kopie oder Spiegelung des Anderen, die wiederum Verzerrungen erzeugt und somit den Blick an sich verzerrt. Einen Blick auf die Diskrepanz von (Nach)Erzählung und Wahrheit der eigenen Erlebnisse, auf sich selbst als Person und die Wahrnehmung von außen, bekommt man im wahrsten Sinne des Wortes einen Spiegel vorgehalten.

Walz Wiener Lernzentrum, 1140 Wien, 25.05.2025 – Zu Beginn des Stückes bewegen sich die Schauspieler Sebastian Klein und Manuel Harder mit schweren Schritten auf den jeweils links und rechts am Bühnenrand positionierten Laufbändern. Nach einem nicht unbedingt eleganten Aktivieren des Gerätes per Klettverschlussgeräusch untermalenden Hervorfischen der Fernbedienung und Knopfdruck jener, werden die Zuschauer*innen mitten ins Geschehen des Stückes geworfen. In sich wiederholenden, einander spiegelnden Sätzen wird die Geschichte einer Bergbesteigung unter dramatischen Bedingungen – mit der Figur Martin im Zentrum, beinahe filmreich erzählt. Bevor die Verwunderung über den unmittelbaren Einstieg überhand nehmen kann, folgt die Auflösung: Thomas – rechts auf dem Laufband mit schweren Schritten – ist eigentlich Schauspieler und spielt beim Casting für den neuen Film über die Besteigung des Annapurna in Nepal in einer Szene den Bergsteiger Martin, – links am Laufen mit weniger starken Schritten – einem nicht unerfolgreichen wenn auch trotzdem nicht sonderlich erfolgreichen Bergsteiger, der sich nach Entdeckung des Buches Die Besteigung des Mont Ventoux des italienischen Dichters Petraca aus dem 14. Jahrhundert von seiner Vergangenheit eingeholt auf die Spuren seines Vaters, ebenfalls Bergsteiger und bei seiner letzten Tour auf eben diesen Annapurna spurlos verschwunden, begibt. 
Der Regisseur verknüpft für die Erzählung dieser Geschichte die verschiedenen Handlungsstränge und Zeitebenen geschickt miteinander, die Szenen gehen elegant ineinander über, was insbesondere dem flüssigen und sehr angenehmen Miteinander der beiden Agierenden geschuldet ist. Die bewegliche Wand, unterteilt in drei Horizontale Segmente, dominiert das Bühnenbild. Ergänzt durch einige schlichte Requisiten, ermöglicht sie es, räumlich und zeitlich getrennte Szenen nahtlos in einem Guss ein- und  auszuleiten. Nur als die beiden Schauspielenden mit Klettergurt gesichert die dramatische Kletterszene kurz unterhalb des Gipfels des Annapurna oder irgendeinem angeblich ähnlich aussehenden Berg in Argentinien – wie es im Film der Fall ist – zur Schau geben, kommen kurze Bedenken auf, wie lange das Bühnenbild dieses Manöver noch durchhalten möge. Für diese Vorstellung bleibt jedenfalls alles stabil, die beiden Bergsteiger Klein und Harder – ob echt oder nur gespielt – seilen sich sicher auf den Bühnenboden ab und führen mit gut pointiertem Humor lässig durch den Abend, der ohne größere zu überwindenden Längen die Geschichte zweier auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Männer erzählt, die letztlich doch mehr Gemeinsamkeiten teilen als vermutet. Insbesondere in ihren komplizierteren Beziehungen zu ihren jeweiligen Vätern und der damit verbundenen Suche nach dem eigenen Ich.

Ein gefrässiger Schatten wirft Fragen nach Fiktion und Wahrheit, Glaubhaftigkeit und Übertreibung auf ohne dabei zu weit in die Tiefe zu gehen. Klein und Harder erschaffen vor allem durch ihre bildhafte Sprache die Bergwelt von Nepal genauso wie das billige Filmset in Argentinien in dem kleinen Theaterraum des Walz Lernzentrum in der Peripherie Wiens, sodass am Ende durchaus die Frage im Raum steht: Ist Martin tatsächlich Bergsteiger und wo kann man diesen Film sehen?


„Ein gefräßiger Schatten“: Schein, Sein und das Spiel mit dem Spiegelbild 
Verena Lombardo

Wie fügen sich Geschichten zusammen? Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Realität? Mit diesen Fragen spielt der argentinische Regisseur Mariano Pensotti in seinem Stück Ein gefräßiger Schatten, das nun erstmals in deutscher Sprache aufgeführt wird. Was als Volksstück daherkommt, entpuppt sich als clevere, vielschichtige Erzählung über Identität und Selbsterkundung. 

Gleich zu Beginn wird die vierte Wand durchbrochen. Die zwei Männer auf der Bühne sprechen das Publikum direkt an, ein Bergsteiger (Sebastian Klein) und ein Schauspieler (Manuel Harder) stellen sich vor. Die Verbindung zwischen ihnen: Der Schauspieler soll in einem Film den Bergsteiger verkörpern. Es geht um dessen gescheiterten Versuch, die Annapurna zu erklimmen – dasselbe Vorhaben, bei dem vor Jahren sein Vater ums Leben kam. 

Wechselspiel 
Obwohl die beiden Figuren das gesamte Stück über gemeinsam auf der Bühne stehen, entwickeln sich zwei parallele Erzählstränge. Ihre Monologe wirken wie Auszüge aus Tagebüchern: intim, authentisch und fragmentarisch. Es entsteht ein ununterbrochenes Hin und Her. Ein Wechselspiel, welches keine Pausen erlaubt, aber dennoch nicht hektisch wirkt. Die 90 Minuten, die das Stück in Anspruch nimmt, vergehen wie im Flug. 

Simultan verfolgt man die Geschichten der beiden Männer. Gegensätzlich, aber in ähnlichen Situationen, ergänzen sich ihre Narrative. Die dramatische Erzählung der Bergerfahrung wird durchbrochen von der teils absurden Realität der Filmproduktion. Clever platzierte Witze, die im Publikum ausnahmslos ankommen, bringen eine überraschende Leichtigkeit in eine sonst mitunter tragische Geschichte, deren Zentrum sich zunehmend als Vater-Sohn-Beziehung herauskristallisiert. 

Verspiegelt, verzerrt, verwoben 
Zeit und Raum verlieren innerhalb der Inszenierung an Bedeutung, und es wird mühelos zwischen Realitäts- und Erzählebenen gewechselt. Hierbei gelingt es Pensotti, eine Vielschichtigkeit zu kreieren, in der sich diese Ebenen überlagern und verbinden. Was nach Chaos klingen könnte, ist in der Umsetzung unterhaltsam, dynamisch und offensichtlich klug konzipiert – ein Balanceakt, der überraschend klar und kohärent bleibt.

Das Bühnenbild ist bewusst einfach gehalten, was typisch ist für ein Volksstück, das an verschiedenen Orten spielbar sein muss. Eine drehbare Wand, in Teilen beweglich und auf einer Seite verspiegelt, bildet das zentrale Element. Besonders erwähnenswert ist der Moment, in dem sich die volle Spiegelwand dem Publikum zuwendet: Plötzlich wird nicht nur den Figuren ein Spiegel vorgehalten, sondern auch den Zusehenden. Ein Moment der Konfrontation, in dem sich die klassische Bühnen-Publikum-Situation umkehrt. 

Alle Bühnenprozesse, wie etwa das Umstellen von Stühlen oder das Ein- und Ausschalten der Musik, werden von den Schauspielern selbst ausgeführt. Doch diese bewusste Sichtbarkeit stört die Immersion nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Alles wirkt durchweg echt. Das liegt nicht zuletzt an der schauspielerischen Leistung der beiden Darsteller, denen man jedes Wort abnimmt. 

Zwischen Realität und Fiktion 
Im Zentrum des Stücks steht die Frage nach Identität und Selbstbild: Wer bin ich? Wie sehe ich mich und wie sehen mich andere? Das Theater und das Schauspielern werden dabei selbst zur Metapher für das Spiel mit dem Ich, welches sich immer wieder verändert. Realität und Fiktion verschwimmen, bis nicht mehr klar ist, wo die Grenze dazwischen liegt. Der Spiegel wird zum Symbol für das (Nicht-)Wiedererkennen: in sich selbst, in anderen, im eigenen Vater.

Am Ende steht eine unterhaltsame, kurzweilige Theatererfahrung, nach der man als Zuschauer:in nicht mehr sicher sagen kann, was real war und was nicht – und vielleicht spielt das auch keine Rolle. Ein gefräßiger Schatten ist eine Erzählung darüber, wie wir einander, und uns selbst, durch Geschichten formen. Wie Erzählungen sich durchdringen, gegenseitig beeinflussen und verbinden, und wie ähnlich, und gleichzeitig verschieden wir uns dabei letztendlich sind. 


In den Seilen der Selbstsuche – zwei Männer & ein Berg
Sarah Baumgartner

Mariano Pensottis Ein gefräßiger Schatten, das aktuell durch 15 Wiener Bezirke tourt, präsentiert sich als leichtfüßige Theaterproduktion. Als Volksstück der Wiener Festwochen kommt es mit wenigen Requisiten aus und punktet mit vielen feinen Zwischentönen. Auf einem rotierbaren Bühnenelement, das mal filmisch glitzert, mal als karge Bergwand dient, hängen zwei Männer fest – im Seil, im Leben, in sich selbst.

Sebastian Klein als Martin, ein Mann auf der Suche nach dem verschollenen Bergsteigervater und dem eigenen Lebenssinn, trifft auf Manuel Harder, der als desillusionierter Schauspieler Thomas beruflich und privat im Nebel hängt. Martin will die Annapurna, jenen Achttausender, von dem sein Vater einst nicht zurückkehrte, bezwingen – der andere spielt diesen Aufstieg im Film nach. Doch für beide wird der Berg dabei zur Projektionsfläche ihrer existenziellen Fragen.

Pensotti liefert uns dabei keine überbordenden Wendungen – es findet vielmehr ein leises Aneinanderreiben zweier Biografien statt. Die stattfindenden Reflexionen über Vater-Sohn-Dynamiken, über Rollenbilder und Lebensentwürfe gestalten sich als äußerst zugänglich. Die schauspielerische Bühnenchemie zwischen Klein und Harder trägt dabei diese psychologische Bergtour: Zwei Männer, zwei Lebenskrisen – und vielleicht zwei Antworten auf die Frage, was es heißt, als Mann in dieser Welt zu bestehen.

Das Bühnenbild überzeugt dabei mit seiner Schlichtheit und Raffinesse: Die Bühne als vertikale Projektionsfläche für Ängste, Sehnsüchte, Erinnerungen. Dass ausgerechnet in Wien – fernab wirklich hoher Gipfel – ein mobiles Bühnenkletterelement zum Einsatz kommt, wirkt als charmanter Kontrast und augenzwinkernder Verweis auf Österreichs kollektives Bergbewusstsein.

Obwohl das Stück stellenweise vor sich hinplätschert und ohne große Überraschungen verläuft, funktioniert Ein gefräßiger Schatten als Volksstück: Es ist zugänglich, pointiert und gespickt mit lokalen Anspielungen, die dem Publikum vertraut sind. Ohne Effekthascherei erzählt es klar und nachvollziehbar von zwei Männern auf Sinnsuche – mit subtiler Komik, die zum Schmunzeln einlädt und einem Bühnenbild, das überrascht.

Ein unaufgeregter Abend, der trotzdem nachhallt – nicht unbedingt als Gipfelsturm, aber als wohltuender Aufstieg mit Ausblick.


Ein gefräßiger Schatten und die Frage: Bin ich ein guter Vater?
Ivana Himmelreich

Ein gefräßiger Schatten (Mariano Pensotti, 2025) handelt von einem Bergsteiger, der denselben Berg besteigt, auf dem sein Vater gestorben ist. Und von einem Schauspieler, der diesen Bergsteiger ein paar Jahre später in einem Film darstellt.

Eigentlich geht es in dem fesselnden Stück jedoch darum, was im Leben wirklich wichtig ist. Und wie man es, trotz Abwesenheit, trotz Tod, trotz ablenkender Arbeit und trotz Kontaktabbruch schaffen kann, dem eigenen Vater wieder näher zu kommen. Oder wie man es als Vater schafft, das eigene Kind zu versöhnen. 

Nachdem der Bergsteiger seinen Vater jahrelang idealisiert hat, versucht hat ihn nachzuahmen und ihn stolz zu machen, auch wenn es zu seinem eigenen Tod führen könnte, und seinen eigenen Sohn dabei vernachlässigt hat, merkt er, bei der Wiederbegegnung mit der tiefgefrorenen Leiche seines Vaters, dass sie eigentlich gar nicht so groß ist, wie er sich seinen Vater immer vorgestellt hat. Und so kann er, im Angesicht des Todes, auf den Akt verzichten, den Gipfel des Berges zu erreichen. Er kehrt in Sicherheit zurück und lässt seinen Vater bergen. Er besteigt den Berg erneut, zusammen mit seinem Sohn, auf dem sicheren Pfad, um seinen Vater loszulassen. Beim Verstreuen der Asche fliegt diese ihm auf den Schoß. Es ist ein alberner Moment, menschlich, und nicht länger so idealisiert und ernst, wie er seinen Vater immer gesehen hat. Er lacht zusammen mit seinem Sohn. Er ist genau da, wo er sein muss. 

Auch der Schauspieler hat damit zu kämpfen, dass er seine Tochter nur selten sieht. Er ist durch seine Medikamente müde und seine Tochter ist ihn müde. Sie haben lediglich über Text Kontakt, und auch dort nur sporadisch. Er versteht seine Tochter nicht, und sie versteht ihn nicht. Alles ändert sich, als der Schauspieler durch die Geschichte des Bergsteigers tief berührt wird. Er zeigt zum ersten Mal seit Jahren Emotionen, weint täglich, ein Damm ist gebrochen. Er merkt, dass ihm sein eigener Vater fehlt, mit dem er vor Jahren aufgrund einer Fehde den Kontakt abgebrochen hat. Sie telefonieren. Sie treffen sich, zusammen mit seiner Tochter. Sie gehen in den Zoo. Sein Vater und seine Tochter verstehen sich auf Anhieb. Die Tochter bewundert das schauspielerische Nomadenleben ihres Opas. Der Opa versteht die Faszination der Tochter, Videos zu sammeln, in denen man aus einer Drohnenperspektive sieht, wie Städte zerbombt werden. Alle drei sind interessiert an Film, an Kunst, und aneinander. Sie haben zusammengefunden. 

Im Endeffekt hatte der Film über den Bergsteiger keinen großen kommerziellen Erfolg. Dennoch hat er es geschafft, dass sich Familien wieder zusammengefunden haben – dass Idealisierungen losgelassen wurden, und Platz für Freude, Zuneigung und Liebe geschaffen wurde. Und auch die tiefe Freundschaft zwischen dem Bergsteiger und dem Schauspieler ist, um Casablanca (1942) zu zitieren, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. 


Sein Schatten hört nicht auf mich zu verfolgen
Anna Stippel

Mit einer dreiteiligen Wand, zwei Laufbändern, zwei Stühlen und ein paar wenigen Requisiten bestreiten Sebastian Klein und Manuel Hader unter der Regie von Mariano Pensotti zu zweit diesen 90-minütigen Abend, der als diesjähriges Volksstück der Wiener Festwochen deklariert ist. Dieses tourt durch 15 Bezirke und muss deshalb mit wenig Equipment auskommen. Inwiefern die Bezeichnung „Volksstück“ in diesem Kontext sinnvoll ist und welche Assoziationen mit diesem historisch aufgeladenen Wort evoziert werden wollen, bleibt fraglich. Ebenso ist unklar, wie diese Betitelung mit allen anderen Aufführungen der Festwochen interagiert, die jedenfalls keine „Volksstücke“ sind. Die dem Programmheft zu entnehmenden Bemühungen des Regisseurs, ein vielschichtiges Stück mit Diskussionspotenzial auf die Bühne zu bringen, scheint allerdings geglückt.

Mit wahren und erfundenen Elementen, Wiederholung, Doppelung, Selbstreflexivität und einer guten Portion Humor kreiert Pensotti ein Stück, das im Vergleich zu anderen Festwochen-Produktionen niederschwellig, verständlich und humorvoll ist und gleichzeitig gedankenanregende Fragen aufwirft.

Im Zentrum steht dabei die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, in diesem Fall zwischen Vater und Sohn. Ein Bergsteiger begibt sich kurz vor dem Ende seiner Karriere auf die gleiche Bergtour, auf der sein Vater tödlich verunglückt. Er findet die Leiche seines Vaters in einer Gletscherhöhle, in die er stürzt, kehrt danach vor dem Erreichen des Gipfels jedoch um. Einige Jahre später wird seine Geschichte verfilmt. In der Hauptrolle findet sich ein mäßig erfolgreicher Schauspieler, der ebenfalls schon etwas älter ist.

Das Stück ist bestimmt von Doppelungen, Wiederholungen und Loops, die schon im Text von Mariano Pensotti angelegt sind und in der Inszenierung von ebendiesem weiter verstärkt und auch in der Ausstattung aufgegriffen werden. Parallelen zwischen dem Leben des Schauspielers, des Bergsteigers und deren Vätern werden thematisiert und bündeln sich in Fragen nach Vergänglichkeit, elterlicher Stellvertretung, delegierten Lebenszielen, sowie Abwesenheit der, bzw. Abnabelung von den Eltern.

Das Motiv des Spiegels wird wiederholt bemüht, um diese Themen aufzugreifen. So spiegelt sich der Bergsteiger in einem Foto seines Vaters an der Wand eines BergKlubs und bemerkt die große Ähnlichkeit zwischen ihnen. In weiterer Folge wird der Bergsteiger zu einem Double seines Vaters, bis er sich schließlich an dessen Sterbeort am Berg wiederfindet. Ab diesem Zeitpunkt wird klar, dass er eben doch ein eigener Mensch ist, denn er stirbt nicht in ebendieser Höhle, sondern entscheidet sich gegen das Erreichen des Gipfels und kann auf diese Art unbeschadet absteigen. Die Spiegel werden auch im Bühnenbild aufgegriffen. Flexible Elemente werden in manchen Szenen so gedreht, dass Spiegel sichtbar werden und sich das Publikum selbst im Spiegel sehen kann. Auch die Verfilmung der Besteigung fungiert als weiterer Spiegel auf das Leben des Schauspielers, das ihn zur Selbstreflexion anregt.

Der Schauspieler, der selbst eine Tochter hat, die scheinbar nicht vorhat, in seine Fußstapfen zu treten, verfolgt ebenso Spuren seines Vaters, jedoch mit einer anderen Ausrichtung als sein Vater. Dieser war als Schauspieler stets bemüht kritisches, politisches Theater zu machen, während der Sohn in kommerziellen Produktionen mitwirkt. Die Tochter hingegen bildet einen Gegenpol zu diesen engen Verstrickungen mit den eigenen Vorfahren. Sie nabelt sich vom Vater ab und zumindest aktuell wirkt es nicht, als würde sie eine Karriere als Schauspielerin anstreben. Allerdings erklärt auch der Bergsteiger, dass er als Krankenpfleger gearbeitet hatte und nie so werden wollte, wie sein Vater. Die Faszination an den Bergen und seiner Herkunft haben sich aber durchgesetzt. „Wer will ich sein, wer will ich werden und wer werde ich am Ende meines Lebens geworden und gewesen sein?“ sind zentrale Fragen, die sich als roter Faden durch die vielen Ebenen der Inszenierung ziehen.

Selbstreflexiv sind dabei nicht nur die Figuren im Stück, sondern auch das Medium des Theaters selbst. Das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion wirkt uneindeutig. Es entsteht der Eindruck, diese Geschichte müsste so tatsächlich passiert sein. Immerhin wird anfangs darauf hingewiesen, dass das alles wahr ist. Wer geografisch oder bergsteigerisch bewandert ist, weiß: die Annapurna existiert und ist wegen Lawinengefahr sehr gefährlich zu besteigen. Auch das vielbemühte Buch von Petrarca existiert. Wer könnte ahnen, dass die erwähnte Autobiografie des Bergsteigers das nicht tut? Am Ende ist das Bedürfnis nach Recherche zu diesem spannenden Ereignis groß. Umso enttäuschender ist es dann, dass sich dazu nichts finden lässt.
Am Ende „alles nur Theater“? Wie konnte Mensch darauf hereinfallen?


Sein Ein gefräßiger Schatten – Zwischen Wahrheit und Fiktion
Marlene Wundsam

Zwei Männer. Zwei Geschichten. Ein Abgrund dazwischen. Mehr braucht es nicht, um das Volksstück Ein gefräßiger SchaƩen zu beschreiben, das der argenƟnische Regisseur Mariano Pensoƫ im Rahmen der Wiener Festwochen 2025 auf eine minimalisƟsche Bühne bringt ganz ohne Kulissenzauber und Bergpanorama, aber mit umso mehr Tiefgang.

Der Bergsteiger Martin (Sebastian Klein) und der Schauspieler Thomas (Manuel Harder) befinden sich beide in einer Krise, auch wenn ihre Lebenslagen unterschiedlicher nicht sein könnten. Martins Vater, ein leidenschaftlicher Bergsteiger, kehrte nach seiner Tour zur Annapurna nie mehr zurück – Martin selbst war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal acht Jahre alt. Getrieben von diesem Schicksalsschlag, macht sich der Sohn jetzt 30 Jahre später auf, um dieselbe tödliche Tour zu meistern und den Gipfel zu erreichen – als Versuch, das Leben seines Vaters und seine eigene Vergangenheit zu verstehen.

Thomas hingegen kämpft mit einem ganz anderen Berg: Einer Krankheit, die ihn müde und launisch macht. Seine Schauspielkarriere scheint ihren Höhepunkt überschritten zu haben, und auch in seiner Rolle als Vater fühlt er sich verloren. Zwei Lebenswege, die zunächst nichts miteinander zu tun haben – bis sich ihre Geschichten auf unerwartete Weise kreuzen: Martins Leben kommt auf die Leinwand und Thomas übernimmt die Hauptrolle.

Auf einer kleinen Bühne, einzig dominiert von einer einseiƟg verspiegelten, dreigeteilten Wand, die durch Positionswechsel immer neue Perspektiven eröffnet, erzählen die beiden Figuren ihre jeweilige Sicht. Hier geht es nicht um spektakuläre Effekte, sondern um das intensive Innenleben der Charaktere. Die Inszenierung bringt die Lebenskrisen der Männer nah an das Publikum – kritisch, reflektiert, aber auch charmant und mit einer Prise Humor. Zusätzlich sorgen die gegensätzlichen Charaktere für Witz und Spannung. So gelingt es trotz aller erzählerischen Absurditäten eine Echtheit zu erzeugen, die das Publikum unmiƩelbar erreicht. Wer das Stück ohne Vorwissen besucht, könnte bis zum Schluss ahnungslos darüber sein, wo Wahrheit auĬört und Fiktion beginnt.


Gedanken vom Berg
Amba Botland

Bemerkenswert war das allgemeine Rätseln, welches nach dem Stück durch die Runde ging. Bezogen hat sich das auf den Wahrheitsgehalt des soeben Gesehenen. Stimmt die uns erzählte Geschichte? Standen da tatsächlich ein gescheiterter Bergsteiger und ein in die Jahre gekommener Schauspieler auf der Bühne? Gibt es den Film, auf dem das Stück basiert? Falls nicht, wird’s doch bestimmt das Buch geben, auf dem der Film basiert hätte – oder? Gibt es den Berg auf dem all das passiert (oder eben nicht passiert) ist?

Zumindest eine dieser Fragen konnte recht rasch mit ‚Ja‘ beantwortet werden: Jene, die im Geographieunterricht aufgepasst hatten, bestätigten die Existenz des Berges. Tatsächlich liegt dieser in Nepal – also zumindest da hat uns das Stück die sogenannte Wahrheit erzählt.

Ich halte die Frage für wenig hilfreich, was ein Stück vom Publikum ‚will‘… Stücke wollen nichts – außer gesehen werden. Viel wichtiger ist die Frage, worum es geht, was gezeigt wird. Es geht um die Wahrheit – „Ich will, dass der Film wahrhaftig wird“ – und die Fragilität dessen, was wir als solche empfinden.

Die Figur des Bergsteigers beginnt, die Scheinwahrheit des Films – der seine Geschichte erzählt – mit seiner eigenen, real erlebten zu vermischen. Bis zu dem Punkt, an dem er die des Films komplett übernimmt und sie über den Inhalt des Films hinaus in sein Wesen integriert. Seine Freundin macht ihn darauf aufmerksam, dass er gewisse Charaktereigenschaften der fiktiven Version von sich selbst in seinen Alltagshabitus übernommen hat. „Verrückt, oder?“

Weiters geht es um Eigen- und Fremdwahrnehmungen, deren Diskrepanz und die Krise, die daraus entsteht, wenn einem ein (wenngleich verzerrter) Spiegel vorgehalten wird.

Dieser Spiegel ist im Übrigen auch materiell als Hauptbestandteil des Bühnenbildes vorhanden. Beide Figuren werden gezwungen, sich genauer zu betrachten.
Der Schauspieler wird mit seinem alternden Körper konfrontiert und mit den Grenzen, die ihm dieser aufzeigt – und das nicht nur beruflich. Er erkennt, dass er mittlerweile dauerhaft so aussieht wie zu besseren Zeiten, als er müde war.
Der Bergsteiger erkennt in seinem Spiegelbild immer deutlicher und häufiger das Antlitz seines verstorbenen Vaters – bis hin zu dem Punkt, an dem er sich selbst in dessen Leiche wiedererkennt.

Trotz dieser Spiegel, die sich durch das ganze Stück ziehen, versuchen beide nicht nur, andere Rollen zu verkörpern, sondern diese gänzlich einzunehmen:
„Ich möchte Martin nicht spielen, ich möchte Martin sein.“
„Ich will meinen Vater nicht imitieren, ich will mein Vater sein.“

Im Endeffekt scheitern sie jedoch beide daran. So fließen in die vom Schauspieler gespielte Figur Erinnerungen an seinen eigenen, aus seinem Leben verschwundenen Vater ein – und er kann endlich wieder weinen. Durch die Sichtung des Films realisiert der Bergsteiger, dass er ein „großer Loser“ (selbstbezeichnend!) ist, der sein Lebenswerk seinem Vater gewidmet und dabei sein eigenes aus den Augen verloren hat.

Ein charmantes, spannendes Stück mit humorvollen Akzenten (Moretti!). Nur der Versuch, eine politische Ebene durch Kapitalismuskritik hineinzubringen, geht meiner Meinung nach nicht ganz auf. Dieser Aspekt fühlte sich ein bisschen wie ein nachträglicher Gedanke an, à la: ‚Sooo, und jetzt noch was Politisches am Schluss…‘
Es werden so viele unterschiedliche Töne angestimmt, dass sich das eher wie ein Nachklang anfühlt.
Stören tut das allerdings nicht – und man (bzw. ich) geht trotzdem mit einem Schmunzeln aus dem Stück.