Nan Goldin und der selbstbestimmte female gaze in Ballad of Sexual Dependency (1986)

Ein Essay von Coura-Lale Tall.

Auf dem Bild sitzt die Fotografin, gekleidet in schwarz, vor einem bläulichen Vorhang. Ihr helles Gesicht und ein Teil ihres Halses bilden von schwarzen Locken umrahmt den Mittelpunkt des Bildes. Nan Goldin schaut mich, in dem Fall eine weibliche Beobachterin, direkt an. Es existieren somit zwei gegeneinander laufende Blickperspektiven: Ich schaue nicht nur als außenstehende Person auf das Bild, sondern werde im Gegenzug auch angesehen. Das rot entzündete rechte Auge der Künstlerin, unter dem sich ein blauer Fleck gebildet hat, beeinträchtigt nicht die Intensität ihres Blickes. Das entstellte Gesicht schockiert mich zwar, doch es sind die mit leuchtend rotem Lippenstift geschminkten Lippen, die mich an diesem Bild am meisten faszinieren. 

Unser Seminar beschäftigte sich mit der Frage nach der Konstruiertheit von Blicken. Wo verordnen wir uns selbst und andere durch bestimmte gesellschaftlich bedingte Blickregime und welche Machtverhältnisse konstituieren sich in der Art und Weise, wie uns die Welt sichtbar gemacht wird? In diesem Essay stelle ich mir speziell die Frage nach den Möglichkeiten des female gaze – einem vermeintlich weiblichen Blickkonzept, dass jedoch in der englischen Sprache ironischer Weise immer auch den male gaze beinhaltet. Wie E. Ann Kaplan in ihrem Text „Ist der Blick männlich?“ über patriarchale Blickstrukturen im Film bereits betont, finden herrschende Ideologien ihren Ausdruck oft in Darstellungsformen künstlerischer Praxis.[1] Einerseits werden durch Reproduktionen spezifischer Bedeutungssysteme vorhandene Strukturen aufrechterhalten, andererseits wird mit Gegenentwürfen, die Stereotypisierung scheinbar umgehen, versucht gegen festgeschriebene Bedeutungen vorzugehen und diese aufzubrechen.

Nan Goldin zeigt sich in ihrem Selbstportrait aus der Fotoreihe Ballad of Sexual Dependency (1986), nachdem sie von ihrem damaligen Partner verprügelt wurde. Ich nehme an, viele sehen in ihrem Portrait die Repräsentation eines allzu bekannten Bildes: Eine Frau als Opfer männlicher Gewalt, mit einem Blick auf die Frau als unterwürfiges Objekt, welches dem männlichen Begehren und in diesem Fall auch Zorn ausgesetzt ist. Schon der Titel Ballad of Sexual Dependency dieser Serie suggeriert eine gewisse Abhängigkeit im sexuellen Verhalten der Frau vom Mann. Welche Perspektive kann ich als weibliche Zuschauerin in einem Diskurs einnehmen, der Frauen als Gegensatz zum Mann denkt und damit immer abhängig von einer festgelegten Hierarchie? Oder geht es vielmehr darum den female gaze eben nicht nur als eine Antwort auf den male gaze zu verstehen, sondern ihn zu einem eigenständigen Phänomen zu machen? 

Zurück zu den roten Lippen. Die Künstlerin war also der Gewalt ihres Freundes ausgesetzt und entscheidet sich dann diesen Vorfall zu dokumentieren. Für das Bild schminkt sie sich zusätzlich rote Lippen und trägt glitzernde Ohrringe sowie eine Kette. Sie fügt dem Bild der verletzten Frau somit noch eine weitere Komponente hinzu. Ich lese sie als eine Art selbstbestimmte Weiblichkeit. Laut Stuart Hall gibt es jedoch ein Muster bevorzugter Lesarten im Prozess der Bedeutungskonstruktion.[2] In der Psychoanalyse, auf die auch Kaplan in ihrem Text zurückgreift, wird für den male gaze auf das widersprüchliche Konzept von Voyeurismus und Fetischismus verwiesen. Dabei handelt es sich um einen Mechanismus, der auch oft im Film angewandt wird, um einen männlichen Blick nach seinen unbewussten Bedürfnissen zu konstruieren.[3] Laura Mulvey fasst diesen Gegensatz folgendermaßen zusammen: 

„Fetischismus [gründet] vor allem auf der physischen Schönheit des Objekts […], [die] es allein durch seine Existenz zu einem befriedigenden Gegenstand macht, während Voyeurismus in Verbindung mit Geringschätzung eine sadistische Komponente hat, bei der das Vergnügen aus Kontrolle und Dominierung sowie aus der Bestrafung der Frau resultiert.“ [4]

So könnte argumentiert werden, dass Goldin mit der Schminke gerade zusätzlich einen male gaze bedient. Durch die Schminke wird die dargestellte Gewalt in Verbindung mit sexueller Abhängigkeit erotisiert. 

Warum sehe ich stattdessen einen Akt der Selbstbestimmung? Zum einen handelt es sich bei der Fotografie, wie schon erwähnt, um ein Selbstportrait. Goldin hat sich nicht von jemandem in diesem Zustand fotografieren lassen, sondern das Bild selbst aufgenommen. Die Aufnahme entspringt ihrer Vorstellung und ist damit in erster Linie ein Blick der Fotografin auf sich selbst. Zudem muss das Bild im Kontext der ganzen Fotoserie gesehen werden. Sexuelle Abhängigkeit wird darin unabhängig von Geschlecht und Genderidentitäten dargestellt. Goldin dokumentiert ihre extreme Lebensweise und zeigt darin Männer (auch ihren Freund) und Frauen sowohl als Täter und Opfer. Die Selbstbestimmung liegt für mich in der Entscheidung, sich auf diese Art und Weise den Blicken Anderer auszusetzen. Dabei bildet sie sich, fast schon exhibitionistisch, in einer intimen Verletzlichkeit ab und behält gleichzeitig doch die Kontrolle über die Art und Weise der Darstellung. Egal wer das Bild betrachtet, Goldin zeigt sich weder dominiert noch gänzlich distanziert von dem gewalttätigen Vorfall. Sie erblickt sich selbst durch die Kamera und positioniert sich als starkes weibliches Subjekt im „Feld des Sichtbaren“.[5]

Kaplan spricht in ihrem Text auch von Versuchen feministischer Filme, dem männlichen Blick zu entgehen, indem sie Frauen praktisch körperlos darstellten. Das verhindere jedoch eine Identifikation der Zuschauerinnen mit weiblicher Körperlichkeit.[6] Sehr interessant ist im Gegensatz zu Goldins Selbstportrait daher die Darstellung von Frauen, die sexuell missbraucht wurden in dem umstrittenen Beitrag Männerwelten von Joko und Klaas, der auf dem Fernsehsender ProSieben zu sehen war. Darin werden am Ende die Kleidungsstücke, die diese Frauen während des sexuellen Übergriffes trugen, an weißen, gesichtslosen Schaufensterpuppen ausgestellt. Louise Haitz schreibt in ihrer ,Undankbaren Kritik‘ auf dem Genderblog der ZFM dazu:

„Die Idee, den gewalttätigen Status von Opfern als Sexobjekt aufzulösen, indem man Puppen in ‹ganz normaler Kleidung› abfilmt, ist in hohem Maße ignorant. Wenn es egal ist, was man trug, dann ist es egal.“  [7]

Zusätzlich zu der Konstruktion eines Unschuld-Narratives, vermittelt die Verwendung von Puppen ja gerade eine Objektivierung von Frauen zu gesichtslosen Körpern. Zudem reproduziert sie eine veraltete Problematik („Was hatte sie denn an?“) und stellt diese über die eigentlichen Gewalttaten. Die betroffenen Frauen bleiben selbst im Verborgenen, ohne eine Chance ihre eigene Perspektive, ihren Blick auf diese Gewalttaten verhandeln zu können. Auch von den Tätern bekommen wir gar nichts zu sehen.

Im Unterschied zu dem Beitrag Männerwelten versucht Nan Goldin nicht aktiv auf sexuelle Gewalt gegen Frauen hinzuweisen. Ob der female gaze, den ich in ihrem Bild sehe, intendiert war, bleibt unklar. Sie entzieht sich jedenfalls dem patriarchalen Blickregime bewusst nicht. Im Gegenteil spielt die Fotografie mit den Komponenten von Dominanz und Unterdrückung. Im „Spektakel des Anderen“ deutet Stuart Hall an, dass die explizite Darstellung unbewusster Strukturen innerhalb der Repräsentation eine verfremdende Wirkung auf gewohnte Sichtweisen haben kann.[8] Anstatt sich dem male gaze zu entziehen, werden die Beobachter*innen direkt mit ihm konfrontiert. Auch ich bin gezwungen mich mit der Ambivalenz verschiedener Blickstrukturen in diesem Portrait auseinanderzusetzten. Egal mit welcher Art von Blick jedoch im Endeffekt auf die Fotografie geschaut wird, der Blick wird von Goldin erwidert und herausgefordert. Sie entzieht sich damit einem möglichen Objektstatus und es bleibt ein Blick von einer Frau auf sich selbst. Es ist ein Blick, der ein individuelles Gefühl von Weiblichkeit verkörpert. Ein female gaze.

Direktnachweise

[1]E. Ann Kaplan, „Ist der Blick männlich?“, Frauen & Film (Frankfurt), Nr.36, Februar 1984, S. 45-60.

[2]Stuart Hall, „Kodieren/Dekodieren“, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument 2004, S. 66-81.

[3]Vgl. E. Ann Kaplan, „Ist der Blick männlich?“, S. 46.

[4]Laura Mulvey, ,,Visual Pleasure and Narrative Cinema“ in: Screen 16, No. 3 (Autumn) 1975, S. 6-18.

[5]Silverman, Kaja, „Dem Blickregime begegnen“, Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Christian Kravagna (Hg.), Berlin: Edition ID – Archiv 1997, S. 41-62.

[6]Vgl. E. Ann Kaplan, „Ist der Blick männlich?“, S. 46.

[7]Stuart Hall, „Das Spektakel des Anderen“, Ideologie, Identität, Repräsentation, Juha Koivisto / Andreas Merkens (Hg.), Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108-167.

[8]Louise Haitz, „Dies ist ein Aufklärungsvideo zu sexueller Gewalt (presented by Good Guys Productions™). Eine undankbare Kritik von Louise Haitz“, Gender Blog der ZFM, #Männerwelten: | Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfmedienwissenschaft.de), 31.12.2020.

Quellenverzeichnis

Haitz, Louise, „Dies ist ein Aufklärungsvideo zu sexueller Gewalt (presented by Good Guys Productions™). Eine undankbare Kritik von Louise Haitz“, Gender Blog der ZFM, #Männerwelten: | Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfmedienwissenschaft.de), 31.12.20.
Hall, Stuart, „Das Spektakel des Anderen“, Ideologie, Identität, Repräsentation, Juha Koivisto/Andreas Merkens (Hg.), Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108-167.
Hall, Stuart, „Kodieren/Dekodieren“, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument 2004, S. 66-81.
Kaplan, E. Ann, „ist der Blick männlich?“, Frauen & Film (Frankfurt), Nr.36, Februar 1984, S. 45-58.
Mulvey, Laura, ,,Visual Pleasure and Narrative Cinema“ in: Screen 16, No. 3 (Autumn) 1975, S. 6-18.Silverman, Kaja, „Dem Blickregime begegnen“, Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Christian Kravagna (Hg.), Berlin: Edition ID – Archiv 1997, S. 41-62.