Ein Essay von Dominik Kleinbichler.
Auf den ersten Blick wirkt die Kunstinstallation Zerseher[1] von Joachim Sauter und Dirk Lüsenbrink wie ein gewöhnliches Gemälde. Umrandet von einem goldenen Rahmen ist scheinbar Giovanni Carotos Kunstwerk Porträt eines Knaben mit Kinderzeichnung zu betrachten. Doch der Schein trügt. Denn anstatt den*die Betrachter*in in einem passiven Rezeptionsstadium verweilen zu lassen, wie es in Kunstgalerien gewöhnlich der Fall ist, reagiert das Bild auf sein Publikum. So fängt dieses an sich in jenen Bereichen zu verformen, die der*die Rezipient*in in den Blick nimmt. Je länger und großflächiger die Blicke, welche von einem Eye-Tracking-System erfasst werden, das digitale Bild abtasten, desto stärker verschwindet das ursprüngliche Gemälde des italienischen Malers in der abstrakten Deformierung des Zersehungsprozesses. Nach dem Motto „changing under their gaze“[2] schafften die beiden Künstler mit ihrer digitalen Konstruktion, welche 1992 im Rahmen der Ars Electronica in Linz ausgestellt wurde, eine aktive Verbindung zwischen Betrachtetem und Betrachter*in.
Fast 30 Jahre später scheint der Einfluss des Blicks der Rezipient*innen bedeutsamer als je zuvor. In den digitalen Sphären des Internets haben Medienkonsument*innen längst die Rolle der passiven Betrachter*innen abgelegt. Über Kommentarfunktionen, Live-Chats oder dem klassischen Like-Button werden die externen Blicke stets in die Beiträge und Inhalte des World Wide Webs integriert. Zusätzlich verschmelzen insbesondere durch soziale Netzwerke die Grenzen zwischen Sender*innen und Empfänger*innen, sodass man einer unübersehbaren Flut an Informationen gegenübersteht.[3] Um sich in dem Datendschungel zurechtzufinden, ist im Internet die Quantität der digitalen Interaktionen messbar. Durch Webcounter, Follower- und Like-Zahlen unterwerfen sich die Plattformen einer neuen Ordnung, die die Blicke der User*innen zählbar macht.
Schon in den 1970er-Jahren fasste Herbert Simon die Relation zwischen Informationsverfügbarkeit und Aufmerksamkeitswert wie folgt zusammen:
„In an information-rich world, the wealth of information means a dearth of something else: […] the attention of its recipients. Hence a wealth of information creates a poverty of attention and a need to allocate that attention efficiently among the overabundance of information sources that might consume it.“[4]
Das Übermaß an Informationen im Internet gibt folglich der Aufmerksamkeit der Internetnutzer*innen einen enormen Stellenwert, welche permanent vor die Qual der Wahl gestellt werden. Aus wirtschaftlicher Sicht rückt dadurch im Internet der Kampf um die Blicke der Nutzer*innen in den Mittelpunkt. Grundlegend funktioniert dabei das Finanzierungsmodell wie folgt: Je mehr Nutzer*innen ihre Blicke auf die Inhalte richten, desto attraktiver sind jene Beiträge für mögliche Werbebetreiber*innen, da dadurch eine größere Reichweite an potenziellen Kund*innen erzielt werden kann. Denn wie Georg Franck, der Begründer der Theorie der Ökonomie der Aufmerksamkeit, selbst betont, ist auch im Internet „die wichtigste Finanzierungsquelle […] nicht der Verkauf von Informationen, sondern der Verkauf der Dienstleistung, Aufmerksamkeit für Beliebiges anzuziehen“.[5] Aus diesem Triumvirat zwischen Produzent*in, Rezipient*in und Werbebetreiber*in ergibt sich im Internet eine Ökonomie des Blicks, welche ganz in der Tradition von Foucaults Panopticon bestimmte Blickregime hervorbringt.
Der Blick als ökonomischer und informeller Wert
„Mit ihrer Rolle als Einkommen hängt auch die Funktion der Aufmerksamkeit zusammen, ein Maß für den ökonomischen Wert von Information zu sein. Information, die keine Beachtung findet, hat keinen ökonomischen Wert.“[6]
Im World Wide Web hat sich der Blick der Nutzer*innen somit als ökonomischer Wertfaktor für Inhalte etabliert und kann gewissermaßen als eigene Währung angesehen werden. Je mehr Nutzer*innen einen Beitrag im Internet aufrufen, desto wertvoller ist dieser für die Werbebetreiber*innen. Aber nicht nur jene, die in den Blicken der Nutzer*innen eine potenzielle Kaufkraft sehen, auch die Blickenden selbst werden beeinflusst. Wie als würde auf jene Stelle in Carotos Gemälde geblickt werden, welche am stärksten verformt ist, orientieren sich Nutzer*innen im Internet an den Aufrufzahlen. Von Charts und Trends bis zu viralen Videos, die Hierarchie der Aufmerksamkeitsökonomie hat längst die Rezipient*innen selbst im Griff. So scheint die Quantität von Klicks und Views, neben dem ökonomischen Wert auch scheinbar den informellen Wert von Inhalten im Netz zu bestimmen. Man denke an das hochgelobte virale Video Männerwelten des deutschen Comedy-Duos Joko und Klaas. Auch wenn das Video an sich wegen der Behandlung jener bedeutsamen Thematik gelobt werden sollte, muss man sich dennoch die Frage stellen, warum ein solch wichtiges Thema, wie jenes des sexuellen Missbrauchs an Frauen, anscheinend erst in den Umständen der Attraktion und des viralen Charakters einer Unterhaltungssendung eine tiefgreifende Reaktion der Medienlandschaft und der Nutzer*innenschaft auslösen kann.
Der Kampf um den Blick
„Es ist das Geschäft der Medien herauszubekommen, was das Publikum lesen, hören, sehen will. Das Publikum zahlt in Aufmerksamkeit für die gebotene Information.“[7]
Wenn ein Youtuber ein Suizidopfer für seinen Vlog filmt[8] oder Medienhäuser in Österreich Aufnahmen eines Terroranschlages für ihre Beiträge verwenden,[9] merkt man schnell, dass es für die Produzent*innen innerhalb der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie keine moralischen Grenzen gibt. Auf der einen Seite mögen solche Beiträge zwar schockieren, auf der anderen Seite sind sie angesichts des enormen Konkurrenzkampfes um die Blicke der Internetuser*innen sicherlich nichts Überraschendes. So würde man bei einer heutigen Ausstellung von Zerseher vermutlich nicht auf Carotos Kunstwerk, sondern auf einen provokanteren Blickfänger, wie zum Beispiel Gustave Courbets L’Origine du monde, zurückgreifen.
Von provokanten Thumbnails, über nervigen Popups bis zu Clickbait-Beiträgen, aus allen Winkeln des Internets ruft eine Stimme ,Klick mich und erblick mich!‘. Auch Phänomene wie Fake News sind vermutlich nur die logische Konsequenz, wenn das Ziel ist besonders viel Aufmerksamkeit zu erlangen. Denn der Unterschied zwischen Fiktion und Realität scheint in der Aufmerksamkeitsökonomie nur eine nebensächliche Rolle zu spielen.
Der fremdbestimmte Blick
Während in der Kunstinstallation Zerseher die Blickrichtung über das Eye-Tracking-System berechnet wird, agiert im Internet ein scheinbar unsichtbarer Algorithmus. Unter dem Stichwort Big Data werden über Cookies, Webpixels und Analyse-Tools im Hintergrund der Webseiten die Aktivitäten der Internetuser*innen getrackt und gesammelt. Von vorgeschlagenen YouTube-Videos, über personalisierte Werbeanzeigen bis zu einer individuellen Hierarchie von Suchvorschlägen, jede*r scheint sich ihr*sein eigenes Gemälde zu malen. Auch wenn das eigene Internetprofil zahlreiche Bequemlichkeiten mit sich bringt, so liegt die eigentliche Intention der Webseitenbetreiber*innen in der Aufrechterhaltung der kostbaren Aufmerksamkeit der Rezipient*innen. Was die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff mit dem Begriff des „Überwachungskapitalismus“ behandelt, [10] zeigt sich in jenem Kontext als Sorge, inwiefern es sich, durch die Personalisierung der Internetnutzung für die Nutzer*innen, noch um einen selbstbestimmten Blick handelt.
Zerseher – Ein Sinnbild für die heutige Aufmerksamkeitsökonomie des Internets
Wie bei Zerseher steht auch in der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets stets der Blick des*der Rezipient*in im Mittelpunkt. Während der Blick das digitale Bild abtastet, wird dieser im Hintergrund analysiert. Immer mehr passt sich das Bild unseren Blicken an, bis wir den Ursprung nicht mehr erkennen können. Mit jeder Verformung entsteht ein neuer Reiz, der unseren Blick auf sich zieht, bis wir wieder aus Gewohnheit abschweifen und uns neuen Stellen widmen. Ein scheinbar unendlicher Kreislauf aus Aktion und Reaktion hält unsere Blicke dennoch stets im Rahmen.
Vielleicht sind wir als Nutzer*innen, wie in Carotos Gemälde nur das Kind, welches glaubt sein eigenes Bild zu malen, während dieses doch in der Macht eines außenstehenden Subjekts liegt, welches es auffordert zu diesem zu blicken. Denn im Blickregime der Aufmerksamkeitsökonomie ist nur eins von Bedeutung: die Aufmerksamkeit des Blickes.
Direktnachweise
[1] ART+COM Studios, „ZERSEHER, 1992“, artcom.de, https://artcom.de/project/zerseher/, Zugriff am 23.12.2020.
[2] Joachim Sauter/Dirk Lüsenbrink, „ZERSEHER | 1992“, Joachim Sauter. New Media Installations and Spaces, o. A., http://www.joachimsauter.com/en/work/zerseher.html, Zugriff am 23.12.2020.
[3] So werden auf dem größten Online-Videoportal YouTube im Durschnitt 500 Stunden an Material pro Minute hochgeladen (vgl. Susan Wojcicki, „YouTube at 15. My personal journey and the road ahead“, YouTube Official Blog, 14.02.2020, https://blog.youtube/news-and-events/youtube-at-15-my-personal-journey, Zugriff am 24. 12. 2020) und die größte soziale Plattform Facebook verzeichnete im Herbst 2020 1,82 Milliarden tägliche Nutzer*innen, die nicht nur Inhalte konsumieren, sondern auch selbst produzieren (Cision, „Facebook Reports Third Quarter 2020 Results“, prnewswire.com, 20. 10. 2020, https://www.prnewswire.com/news-releases/facebook-reports-third-quarter-2020-results-301163373.html, Zugriff am 24. 12. 2020).
[4] Herbert A. Simon, Designing Organizations for an Information-Rich World, Baltimore: The John Hopkins 1971, S. 40f.
[5] Georg Franck, „Jenseits von Geld und Information. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit“, Handbuch Unternehmenskommunikation. Strategie – Management – Wertschöpfung, hg. v. Ansgar Zerfaß / Manfred Piwinger, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2 2014, S. 193–202, hier S. 200.
[6] A. a. O., S. 199.
[7] A. a. O., S. 200.
[8] O. A., „Suizidopfer gefilmt. Youtube wirft Logan Paul aus Werbeprogramm“, derStandard.at, 11.01.2018, https://www.derstandard.at/story/2000071912182/youtube-reagiert-auf-suizid-video-logan-paul-aus-werbe-programm, Zugriff am 29.12.2020.
[9] Oliver Mark, „Medien in der Terrornacht. Tote für die Quote“, derStandard.at, 11.11.2020, https://www.derstandard.at/story/2000121598506/medien-in-der-terrornacht-tote-fuer-die-quote, Zugriff am 29.12.2020.
[10] Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M.: Campus 2018.
Quellenverzeichnis
ART+COM Studios, „ZERSEHER, 1992“, artcom.de, o. A., https://artcom.de/project/zerseher/, Zugriff am 23.12.2020.
Cision, „Facebook Reports Third Quarter 2020 Results“, prnewswire.com, 20.10.2020, https://www.prnewswire.com/news-releases/facebook-reports-third-quarter-2020-results-301163373.html, Zugriff am 24.12.2020.
Franck, Georg, „Jenseits von Geld und Information. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit“, Handbuch Unternehmenskommunikation. Strategie – Management – Wertschöpfung, hg. v. Ansgar Zerfaß/Manfred Piwinger, Wiesbaden: Springer Fachmedien 22014, S. 193–202.
Mark, Oliver, „Medien in der Terrornacht. Tote für die Quote“, derStandard.at, 11.11.2020, https://www.derstandard.at/story/2000121598506/medien-in-der-terrornacht-tote-fuer-die-quote, Zugriff am 29. 12. 2020.
O. A., „Suizidopfer gefilmt. Youtube wirft Logan Paul aus Werbeprogramm“, derStandard.at, 11. 01. 2018, https://www.derstandard.at/story/2000071912182/youtube-reagiert-auf-suizid-video-logan-paul-aus-werbe-programm, Zugriff am 29. 12. 2020.
Sauter, Joachim / Lüsenbrink, Dirk, „ZERSEHER | 1992“, Joachim Sauter. New Media Installations and Spaces, o. A., http://www.joachimsauter.com/en/work/zerseher.html, Zugriff am 23.12.2020.
A. Simon, Herbert, Designing Organizations for an Information-rich World, Baltimore: The John Hopkins 1971.
Wojcicki, Susan, „YouTube at 15. My personal journey and the road ahead“, YouTube Official Blog, 14.02.2020, https://blog.youtube/news-and-events/youtube-at-15-my-personal-journey, Zugriff am 24.12.2020.
Zuboff, Shoshana, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M.: Campus 2018.