Ein Essay von Bodo Jasper Bodenhausen.
Das Szenenbild wirkt vertraut, die ersten Eindrücke überzeugen. Nach kurzen Augenblicken bin ich der festen Annahme eine Reportage über eine Jugendgruppe aus den 1990er Jahren zu sehen. Einige solcher Reportagen waren mir schon bekannt, wie beispielsweise die Spiegel-Reportage über die Kieler Kneipenterroristen, die in Deutschland auch heute noch häufig auf YouTube aufgerufen wird. Doch die Reportage, Stadtmusikbande (Bremen, 1992), kannte ich noch nicht. Wem die Doku über die Kneipenterroristen bekannt ist, stellt schnell einige Parallelen fest. Die Themen, die Mode und der Slang erinnern stark an die Spiegel-Reportage. Letztlich sind es genau diese vielen Übereinstimmungen, die mich misstrauisch gemacht haben. Nach kurzer Recherche ist klar, dass die Reportage reine Fiktion ist.
Die Genrebezeichnung für solche Filme, die vorgeben, nicht-fiktional und dokumentarisch zu sein, aber tatsächlich rein fiktional sind, ist Mockumentary. Sie täuschen eine dokumentarische Realität vor und bedienen sich dafür an filmästhetischen Mitteln, die in nicht-fiktionalen Filmen verwendet werden.[1] Im Fall der Mockumetary Stadtmusikbande, sind es stilistische Mittel von Fernsehreportagen. Genauer gesagt, solche die aus Fernsehreportagen aus Deutschland in den 1990er Jahren über deutsche Jugendgangs und Sozialmilieus bekannt sind. Doch wie entsteht die vermeintliche Authentizität der Bilder? Dieses Essay soll den Inszenierungscharakter der Fake-Reportage erläutern und dabei besonders den vorgetäuschten dokumentarischen Kamerablick und die filmästhetischen Mittel in den Fokus rücken.
Stadtmusikbande (Bremen, 1992) ist ein Filmprojekt des Musiklabels Erotic Toy Records und erschien am 21. September 2020 auf dessen YouTube-Kanal. Für die Mockumentary wurde die Gruppe zur Stadtmusikbande und stellt eine Jugendgang in Bremen im Jahr 1992 dar. Wie zu Anfang bereits erwähnt, wirkt das Szenenbild und die Inszenierung insgesamt äußerst authentisch, sodass die Annahme nahe liegt, dass es sich bei dem Film tatsächlich um eine Reportage aus den 1990er Jahren handelt. Im Interview mit dem Musikmagazin Musikexpress merkt Till Lucas – der im Film den Charakter Tony verkörpert – an, dass alte TV-Dokumentationen über Jugend- und Sozialmilieus als Vorbild für die Mockumentary genutzt wurden, da die Gruppe selbst Fan von diesen sei.[2] Die in der Einleitung erwähnten Parallelen zu der Spiegelreportage über Kieler Straßengangs sind also durchaus gewollt und so ist der Film als Referenz auf diese Art Fernsehreportagen zu verstehen.
Um die Glaubwürdigkeit der Mockumentary zu erzielen, bedient sich der Regisseur Hannes Rademacher an mehreren Stilmitteln, die als typisch für die TV-Reportagen aus den 1990er Jahren angesehen werden können.
Was sind Mockumentaries?
Mockumentaries spielen damit, dass das Publikum gewisse Codes und Konventionen der Seherfahrungen besitzt, um die Zuschauer*innen zu täuschen.[3] Die Aneignung von Rezeptionskonventionen des Dokumentarischen ist die herausragende Inszenierungskomponente, um Mockumentaries authentisch wirken zu lassen. Wichtig ist hier, dass sich eine Mockumentary immer an einem bestimmten nichtfiktionalen Genre orientiert und deren stilistische Mittel kopiert.[4] Bezogen auf Mockumentaries sind dies vor allem visuelle Stilmittel, wie beispielsweise Montage, Kostüm, als auch dramaturgische Mittel und Erzählformen. Das bedeutet, dass die Mockumentary letztlich die gleichen Erzählstrategien und damit auch Authentisierungsstrategien verwendet wie das dokumentarische Vorbild.
Bezüglich des Beispiels der Stadtmusikbande sollen in diesem Essay wesentliche filmische und visuelle Mittel hervorgehoben werden, die besonders das Blicken betreffen.
Um den glaubwürdigen Eindruck zu vermitteln, dass es sich bei dem Film tatsächlich um eine Dokumentation aus den 1990er Jahren handelt, verwenden die Filmemacher*innen die fernsehbildliche Ästhetik dieser Zeit, um einen zeitgemäßen Eindruck der Aufnahmen vorzutäuschen. Hier soll an erster Stelle auf das Bildformat hingewiesen werden. Der gesamte Film ist im Format 4:3 dargestellt, welches in den 1990er Jahren das gängige Fernsehbildformat für die damals verwendeten Röhrenbildschirme war. Mit der Annahme, dass die Rezipient*innen über dieses Vorwissen verfügen, täuscht der Film hier eine gewisse zeitliche Verortung vor. Ähnliches ist bezüglich der Bildqualität festzustellen. Die Bildauflösung ist zwar im Vergleich zu den Vorbildern deutlich besser, jedoch in Teilen durch ein hohes Bildrauschen versehen. Außerdem ist farbliche Dynamik und Bildsättigung eher gering. Diese Ästhetik ist sehr ähnlich im Vergleich zu der beispielswiese bereits erwähnten Reportage über die Kieler Kneipenterroristen (siehe Abb. 1 und Abb. 2).
Diese technischen Komponenten und Merkmale der Bildbearbeitung stärken den Eindruck der zeitlichen Verortung in den 1990er Jahren. Es wird hier scheinbar ganz bewusst mit dem Vorwissen und dem geschulten Blick der Rezipient*innen gespielt, um die Täuschung gelingen zu lassen. In der Mockumentary wird außerdem die Inszenierungstechnik des cinema verité verwendet. Diese weist ganz bewusst auf die Anwesenheit der Kamera und vor allem der Filmemacher*innen hin.[5] Dabei entstehen Interviewsituationen in denen die Protagonist*innen vor der Kamera mit den Filmemacher*innen hinter der Kamera interagieren. Die Filmemacher*innen werden so selbst zu Subjekten des Films und verlassen ihre rein beobachtende Position. Die Protagonist*innen scheinen dabei spontan auf Fragen und Kommentare zu reagieren und zu antworten. Der Blick der Protagonist*innen richtet sich dabei immer wieder auf die Interviewpartner*innen oder Filmemacher*innen hinter der Kamera (vgl. Abb. 3).
Durch diese Interaktionen zwischen Beobachtenden und Beobachteten wird das Gesagte in seiner Glaubwürdigkeit gestärkt. Die Authentizität wird dabei einerseits durch die Darsteller*innen und ihre Verkörperung der Rollen gefestigt, als auch durch die dramaturgische und visuelle Filmästhetik. Durch die scheinbare Spontanität des Gesagten in der Szene selbst und durch das Durchbrechen der vierten Wand, wodurch die Anwesenheit der Kamera und des Filmteams offengelegt wird, entsteht der Eindruck, dass das Gezeigte unverfälscht von den Filmemacher*innen an die Zuschauer*innen vermittelt wird. Die Filmemacher*innen suggerieren so, dass sie einen exklusiven Einblick in ein Geschehnis erhalten und diesen weitgehend unkommentiert weiterleiten. Die Zuschauer*innen erhalten einen offenbar unmittelbaren Zugang zur Szene und zu den Protagonist*innen, die durch das Durchbrechen der vierten Wand, nicht nur zum Filmteam sondern auch indirekt zu den Zuschauer*innen sprechen. Dieser Eindruck entsteht beispielsweise zu Beginn der Mockumentary, wenn der Protagonist Tony über Prügeleien und Racheaktionen berichtet (vgl. Abb. 4).
Tony spricht hier offenbar zu einer Person hinter der Kamera. Dennoch werden durch seine Worte auch die Zuschauer*innen angesprochen. Das Gesagte scheint sich auch an sie zu richten und droht indirekt mit Konsequenzen, falls sich jemand mit Bandenmitgliedern anlegen sollte. Die pseudo-dokumentarische Realität weist so auf potentielle Auswirkungen in der sozialen Realität hin. Es lässt sich meiner Auffassung nach dadurch annehmen, dass die Authentizität auf der Ebene der Narration vor allem durch die Ästhetik des cinema verité und durch die Dramaturgie der Szenen insgesamt entsteht. Die persönlichen Seherfahrungen der Zuschauer*innen und das Vertrauen in diese sind letztlich ausschlaggebend dafür, ob der ,Fake‘ funktioniert oder nicht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sowohl bezüglich der technischen und visuellen Umsetzung, als auch der dramaturgischen und inszenatorischen Ausführung, die Täuschung vor allem durch die Verwendung der erwähnten filmischen Konventionen gelingt. Das Vorwissen und die Sehgewohnheiten der Zuschauer*innen über diese und die Kenntnis der dokumentarischen Vorbilder wird benutzt, um die Täuschung zu vollziehen. Das stilistische Format der Reportage und die Narration wirken aus sich selbst heraus glaubwürdig, weil sie dokumentarische Klischees, wie beispielsweise die des cinema vérité und Eigenschaften im Deutschland der 1990er Jahre erfüllen, beziehungsweise diese erfolgreich adaptieren. Die Stadtmusikbande ist letztlich ein sehr humoristischer Film und verfolgt wohl eher den Anspruch zu unterhalten. Jedoch gilt es meiner Ansicht nach zu berücksichtigen, dass durch das Format der Mockumentary auch durchaus politische Propaganda oder Manipulation betrieben werden könnte. Ganz aktuell erleben wir in durch Corona ein Aufblühen von Verschwörungsmythen, bei denen häufig authentisch wirkendes Bildmaterial genutzt wird, um falsche Informationen zu verbreiten, oder authentische Bilder in falsche Kontexte gesetzt werden. Das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung von vermeintlich dokumentarischen Inhalten ist daher besonders vor dem Hintergrund immer besser werdenden Editing-Software äußerst wichtig.
Direktnachweise
[1] Olaf Jacobs / Timo Großpietsch, Journalismus fürs Fernsehen: Dramaturgie – Gestaltung – Genres, Wiesbaden: Springer Fachmedien Verlag 2015, S. 135.
[2] Bea Oblomova, Warum die „Stadtmusikbande“ gerade alle verrückt macht, 25. September 2020, musikexpress.de, https://www.musikexpress.de/warum-die-stadtmusikbande-gerade-alle-verrueckt-macht-1613905/, Zugriff am 29.12.2020.
[3] Maren Sextro, Mockumentaries und die Dekonstruktion des klassischen Dokumentarfilms, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2010, S. 47.
[4] Olaf Jacobs / Timo Großpietsch, Journalismus fürs Fernsehen, S. 135.
[5] Carolin Lano, Die Inszenierung Des Verdachts: Überlegungen Zu Den Funktionen Von TV-mockumentaries. Stuttgart: Ibidem-Verlag 2011, S. 44.
Quellenverzeichnis
Erotic Toy Records (2020, 21. September), Stadtmusikbande (Bremen 1992), YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=ZeXkEjgH3SE, Zugriff am 29.12.2020.
Jacobs, Olaf / Großpietsch,Timo, Journalismus fürs Fernsehen: Dramaturgie – Gestaltung – Genres, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2015.
Lano, Carolin, Die Inszenierung Des Verdachts: Überlegungen Zu Den Funktionen Von TV-mockumentaries, Stuttgart: Ibidem 2011.
Sextro, Maren, Mockumentaries und die Dekonstruktion des klassischen Dokumentarfilms, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2010.
Oblomova, Bea, Warum die „Stadtmusikbande“ gerade alle verrückt macht, 25. September 2020, musikexpress.de, https://www.musikexpress.de/warum-die-stadtmusikbande-gerade-alle-verrueckt-macht-1613905/, Zugriff am 29.12.2020.