Wie die Ausstellung Disabled by Normality zu einem Neudenken der Begriffe anregt
von SANDRAF
Fotografien zweier Personen mit Beinprothesen, Nachbildungen menschlicher Gliedmaßen in Glasvitrinen, ein Zitat von Lennard Davis an der Wand: „[T]he ,problem‘ is not the person with disabilities; the problem is the way that normalcy is constructed to create the ,problem‘ of the disabled person.“[1] Die Ausstellung Disabled by Normality, die vom 23. Mai bis 16. September 2013 im DOX Centre for Contemporary Art in Prag stattfand, strebt eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden titelgebenden Begriffen an. Sie zeigt Werke von nationalen als auch internationalen Künstler*innen, die entweder selbst mit Disability leben oder sich in ihrer Arbeit mit Disability beschäftigen. Ziel der Ausstellung sei – neben einer Problematisierung der beiden Ausdrücke – auf sensibilisierende Weise aufzuzeigen, inwiefern uns Disability bzw. Normalität limitieren oder privilegieren können.[2] Damit einhergehend wird, wie auch anhand des Ausstellungstitels, folgende Frage aufgeworfen: Inwiefern kann uns Normalität ,disablen‘? Und darüber hinaus: Wie wird mit Disability umgegangen? Und noch genereller gedacht: Wie ,normal‘ ist Disability?
Der Titel Disabled by Normality impliziert bereits die Kritik, die die Ausstellung ausübt: Was in etwa so viel bedeutet wie ,disabled von der Normalität‘ spricht natürlich nicht gerade für etablierte Normen. Der Veranstaltungsort, das DOX Centre for Contemporary Art, definiert seine Mission wie folgt: „To create a space for research, presentation, and debate on important social issues, where visual arts, literature, performing arts, and other disciplines encourage a critical view of the so-called reality of today’s world.“[3] Der Verweis auf eine ,so-called reality‘ als auch auf eine damit zusammenhängende kritische Betrachtungsweise, scheint auch für den Normalitätsbegriff in Disabled by Normality relevant zu sein: Hierbei handelt es sich wohl auch um die Auffassung einer ,so-called normality‘, einer ,Normalität‘, die sich gesellschaftlich etabliert hat, allerdings nicht als ,die‘ Realität hinzunehmen ist. Dies stellt einen wichtigen Punkt für die Intention der Ausstellung dar:
„Disabled by Normality […] attempts to reveal and problematize the terms normality and disability in the manner in which our notions of them affect the lives of all of us […]. The term ,disabled‘ carries with it a certain already established, codified and institutionalized notion of what is ,normal‘. This notion leads us to differentiation based on otherness, resulting in the creation of minorities and their eventual discrimination or social exclusion.“[4]
Dementsprechend beläuft sich das Ziel der Ausstellung vor allem auf eine Problematisierung der Begriffe der Normalität und Disability. Interessant scheint auch der Verweis auf ,the lives of all of us‘, womit bekräftigt wird, dass Disability nicht nur Leute mit Disability, sondern unser aller Leben betreffe. Vielleicht ist gerade in dieser Hinsicht auch eine Umdenken des Titels relevant – würde dieser stattdessen Normal by Disability lauten, so würde damit einmal mehr die These aufgegriffen, dass eine Normalität nur in Kombination mit vermeintlichen Abweichungen existieren könne.
Einen Großteil der Ausstellungsstücke bilden Fotografien und Gemälde, auf denen unterschiedliche Arten von Disability in unterschiedlichen Darstellungsformen zu sehen sind. Während die Fotografien beispielsweise Menschen mit fehlenden Gliedmaßen und eben solche ersetzenden Prothesen zeigen [Abb 1.], gehen die Gemälde oftmals in eine etwas abstraktere Richtung. Anstatt Disabilities konkret abzubilden, wird hier beispielsweise mit optischer Verzerrung gearbeitet, um eine Abweichung vom Normalitätsbegriff zu vermitteln. Darüber hinaus werden auch interaktive Projekte, Skulpturen, Nachbildungen von Körperteilen sowie Gegenstände, die mit Disability assoziiert werden können, präsentiert. Was die Ausstellungsstücke, egal, in welcher Form, allesamt gemeinsam zu haben scheinen, ist eine mal subtilere, mal explizitere Kritik an Normen als auch am Umgang mit Disability. Besonders deutlich wird das an einem verbotsschildähnlichen Bild, auf dem ein*e Rollstuhlfahrer*in symbolhaft dargestellt und durchgestrichen ist. Darunter finden sich mehrere Zeilen Text:„LAMED by your language[,] CRIPPLED by your charity[,] INVALIDATED by our doctors[,] VICTIMS of your systems[,] HANDICAPPED by society“ [Abb. 2]. Der gesellschaftliche Umgang mit Disability wird hierbei also stark angeklagt.
Neben diesen Ausstellungsstücken fallen auch Rollstühle als zentrale Elemente in Disabled by Normality auf. Eine, in Relation zu vielen anderen Ausstellungen, enorm hohe Anzahl an Besucher*innen erforscht die Ausstellung rollstuhlfahrend [Abb. 3]. Zudem gibt es die Möglichkeit, in kugelähnlichen Apparaturen die körperlichen Bedingungen und Beschränkungen, die sich Rollstuhlfahrer*innen bieten, zumindest ansatzweise nachzuempfinden – ein Versuch der Sensibilisierung, der zeigen soll, inwiefern Disability in der Lage ist, zu limitieren. Obwohl Disabled by Normality zwar natürlich nicht alle, aber eine Vielzahl an körperlichen Disabilities abzudecken versucht, zeigt sich also ein Fokus auf jene, die mit der Notwendigkeit eines Rollstuhls einhergehen. Dass Rollstühle im Rahmen der Ausstellung bzw. deren Besucher*innen so präsent sein würden, wurde übrigens bereits im Vorfeld berücksichtigt: Viele der Fotografien und Gemälde sind in einer für Rollstuhlfahrer*innen komfortabel zu betrachtenden Höhe an den Wänden angebracht [Abb. 4]. Diese Positionen als ,ungewöhnlich‘ niedrig wahrzunehmen – ausgehend von der Norm der Augenhöhe einer durchschnittlich großen, aufrecht stehenden Person – mag naheliegend scheinen, zeugt gleichzeitig aber von der immensen Prägung, die Normen bewirken können.
Vom Wunsch nach Normalität
Der Einfluss etablierter Normen wird natürlich auch außerhalb des Kontextes der Ausstellung sichtbar und geht dort oftmals über die (Un-)Selbstverständlichkeit von angepassten Sichtbedingungen, Barrierefreiheit und Ähnlichem hinaus. Generell markiert ,ability‘ (bzw. ,able-bodiedness‘) zumeist eine Norm, das Präfix ,dis‘ eine Abweichung davon.[5] Damit wird eine Diskrepanz eröffnet, wobei der Begriff der Abweichung konventionell negativ konnotiert erscheint, jener der Normalität hingegen eher erstrebenswert wirkt. Die Organisation Disabled People International knüpft an diese negative Konnotation an und definiert Disability als „the loss or limitation of opportunities to take part in the normal life of the community on an equal level with others due to physical and social barriers“.[6] Für viele rückt im Umgang mit Disability dementsprechend der schlichte Wunsch nach einem ,normalen Leben‘ in den Vordergrund. Allerdings scheint es gerade an dieser Stelle auch wichtig anzumerken, dass sich der Verlust der Möglichkeit, an einem ,normalen Leben‘ teilzunehmen – wie von Disabled People International formuliert – natürlich nicht pauschalisierend allen Menschen mit Disability zuschreiben lässt. Rebecca Maskos schreibt hierzu: „Außenstehende […] finden […] oft zu ihrer Überraschung einen scheinbar völlig ,normalen‘, ja sogar heiteren behinderten Menschen vor, der wider Erwarten ein gar nicht so leidvolles Leben führt“.[7] und führt weiter aus: „Allein schon ein völlig normales, unscheinbares Leben mit Behinderung kann Nichtbehinderte in höchstes Erstaunen versetzen, stellen sie sich doch vor, dass sie selbst ,damit‘ nicht zurechtkommen würden.“[8] Die Möglichkeit, ein ,normales Leben‘ – was auch immer man darunter konkret verstehen mag – zu führen, sei also nicht zwangsläufig an die Abwesenheit von Disability gekoppelt.
Dennoch scheint der Wunsch nach einem ,normalen Leben‘ mit Disability immer wieder präsent und wird, vereinzelt, aber doch, auch medial aufgegriffen – beispielsweise von Regisseurin Jessica Hausner im Film Lourdes (AT, 2009). Im Zentrum steht eine Pilgerreise nach Lourdes. Die Protagonistin des Films, Christine (Abb. 5), gespielt von Sylvie Testud, leidet an multipler Sklerose und ist daher auf einen Rollstuhl angewiesen. In einer Rezension findet sich im Hinblick auf sie folgende Formulierung: „Sie sehnt sich danach, wieder dazu zu gehören, alles tun zu können, was die anderen problemlos machen, normal zu sein.“[9] Christines Wunsch lässt sich vor allem auf die „unfreiwillige Isolation“[10] zurückführen, die sie stark an ihrer Disability festmacht. Im Verlauf der Handlung erfährt sie allerdings eine, aus medizinischer Sicht recht fragliche, Heilung – sie steht auf und scheint, wie durch ein Wunder, wieder gehen zu können (Abb. 6). Unabhängig von der hohen Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, „genie[ß]t [Christine] das Glück, das sich für diesen Moment für sie erfüllt hat und versucht es festzuhalten.“[11] Dementsprechend findet sich ein Happy End in Lourdes – aus diesem geht aber gleichzeitig die Frage hervor, ob und inwiefern es eine Heilung für ein solches Happy End braucht.
Für Christine scheint die Heilung, die Wiedererlangung ihrer able-bodiedness, das Schlüsselereignis schlechthin darzustellen: Wieder gehen zu können wird hierbei gleichgesetzt mit ,Normalität‘, mit der Auflösung der ungewollten Isolation, mit der Erfüllung des Wunsches, ,normal‘ zu sein. Was Lourdes ergo nur sehr bedingt versucht, ist die Darstellung eines, wie von Maskos beschrieben, „völlig normale[n], unscheinbare[n] Leben[s] mit Behinderung“[12].In einem Interview erzählt Regisseurin Jessica Hausner von der gemeinsamen Vorbereitung auf den Film mit Hauptdarstellerin Sylvie Testud. Über die Gespräche mit Multiple-Sklerose-Kranken im Rahmen dessen sagt sie:
„Am Anfang hat man eine höfliche Distanz und geht vorsichtig mit Leuten um, die krank oder gelähmt sind. Dann fängt man an, normaler mit ihnen zu sprechen und zu verstehen, dass es sich um ein Schicksal handelt, das jedem widerfahren kann, und dass dieses Schicksal einen Alltag mit sich bringt, den man leben kann.“[13]
Hausner zeigt also durchaus ein Bewusstsein für die Möglichkeit, ein ,normales Leben‘ mit Disability führen zu können – genauso wie für die Auffassung, dass Disability alle betreffe, welche auch im Rahmen von Disabled by Normality vertreten wird. Dennoch findet sich ein ziemlich bedeutender Unterschied zwischen der Ausstellung und dem Film: Der Kontrast zwischen Krankheit und Heilung, der in Lourdes gezeichnet wird, scheint recht stark. Allein Christines Wunsch nach Normalität verweist bereits auf die vermeintliche Anormalität ihrer bisherigen Situation und ihrer Disability, die Heilung hingegen auf den langersehnten Wiedereinstieg in das ,normale Leben‘. Hier wird nun erneut eine Diskrepanz zwischen Disability und Normalität deutlich, die Disability negativ, Normalität hingegen positiv konnotiert – und gegen die Hausner in Lourdes, trotz des vorhandenen Bewusstseins, kaum ankämpft.
Überdenken, Umdenken, Neudenken
Insofern scheint es interessant, dass in Disabled by Normality der Aspekt der Heilung nicht aufgegriffen wird. Viel eher beschäftigt sich die Ausstellung mit Disability an sich, Disability als Ist-Zustand. Die Ausstellungsstücke stellen Heilung, able-bodiedness oder damit in Zusammenhang gesehene Normalität nicht als erstrebenswert oder gar als Ziel dar. Heilung soll weder mit Normalität gleichgesetzt, noch als Rückerlangung von Normalität gedacht werden; eher Disability als Möglichkeit zur Fortführung eines ,normalen Lebens‘. Es werden also nicht nur die Begriffe Disability und Normalität infrage gestellt, sondern auch die Diskrepanz zwischen ihnen. Im Infotext zur Ausstellung wird diesbezüglich „differentiation based on otherness, resulting in the creation of minorities and their eventual discrimination or social exclusion“[14] problematisiert.Gerade eine solche ,social exclusion‘ hängt wohl auch mit der sozialen Isolation zusammen, unter der Christine in Lourdes leidet. Gleichzeitig aber wird darin kaum eine Annäherung von Disability und Normalität versucht, sodass der Film im Endeffekt nur wenig gegen ,differentiation based on otherness‘ tut.
Disabled by Normality versucht hingegen, etwaige Konnotationen der beiden Begriffe aufzubrechen und neu zu verlagern. Eine Normalität, die wünschenswert scheint, weil sie fernab von Disability gedacht wird, steht dabei im Zentrum der Kritik. Dementsprechend wird einer solchen Normalität Schuld zugewiesen, gerade im Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Disability. Natürlich kann dieser, genauso wenig wie der persönliche Umgang mit Disability, nicht generalisiert werden. Allerdings scheint sich innerhalb der Ausstellung trotzdem folgende Message abzuzeichnen: Auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein (sowie auch jegliche andere Disability, unabhängig davon, ob sie in Disabled by Normality aufgegriffen wird oder nicht), müsse nicht zwangsläufig das Ende eines ,normalen Lebens‘ bedeuten. Anormalität oder Abweichung sei als nichts Negatives zu denken, sei, genauso wenig wie Disability an sich, nicht das Problem. Dieses liege – um nun abschließend auf das zu Beginn angeführte Zitat von Lennard Davis zurückzukommen – viel eher in der Normalität und deren Konstruktion.
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[1] Ricardo Praga presents DISABLE BY NORMALITY @ DOX[sic!], R.: Ricardo Praga, https://www.youtube.com/watch?v=4QFBvio7TL4 02.02.2014, 06.02.2020.
[2] Vgl. DOXCentre for Contemporary Art, „Disabled by Normality“, DOX, https://www.dox.cz/en/exhibitions/disabled-by-normality o. J., 06.02.2020.
[3] DOXCentre for Contemporary Art, „About DOX “, DOX, https://www.dox.cz/en/about-us/about-dox o. J., 09.02.2020
[4] DOXCentre for Contemporary Art, „Disabled by Normality“.
[5] Vgl. Swantje Köbsell, „,Besondere Körper‘ – Zum Diskurs der Behindertenbewegung und der Disability Studies zu Geschlecht und Körper“ [Vortrag], ZeDiSplus. https://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/koebsell_21052012.pdf 21.05.2012, 06.02.2020, S. 14-15.
[6] Disabled People International, zit. nach Rebecca Maskos, „Leben mit dem Stigma: Identitätsbildung körperbehinderter Menschen als Verarbeitung von idealisierenden und entwertenden Stereotypen“, Dipl., Universität Bremen, Institut für Psychologie 2004.
[7]Maskos, „Leben mit dem Stigma“.
[8] Maskos, „Leben mit dem Stigma“.
[9] Hanspeter Stalder, „Lourdes“, der-andere-film.ch, https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/jkl/lourdes o. J., 07.02.2020.
[10] Hanspeter Stalder, „Lourdes“.
[11] Hanspeter Stalder, „Lourdes“.
[12] Maskos, „Leben mit dem Stigma“.
[13] Christina Nord, „,Der Priester war eingeweiht‘“, taz, https://taz.de/Regisseurin-Hausner-ueber-Lourdes-Film/!5145041/ 01.04.2010, 09.02.2020.
[14] DOXCentre for Contemporary Art, „Disabled by Normality“.