Die Darstellung von chronischen Schmerzerkrankungen in Pedro Almodóvars Dolor y gloria
von Marion Schlosser
What is the point in life when illness takes over and becomes the main event?
(Magnet/Watson)[1]
Die Filme von Pedro Almodóvar zeichnen sich im Allgemeinen durch eine Handvoll wiederkehrender Themen und Motive aus, die die Filmographie des spanischen Regisseurs durchziehen: Liebe, Familie, Frauen. Gender, Identität, LGBTQ. Aber auch Themen wie der Körper, Medizin, Gesundheit/Krankheit, das Älterwerden und der Tod werden in so gut wie jedem seiner Filme behandelt. In seinem neuesten Werk, Dolor y gloria [2] kommt dies vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck: Gezeigt wird das Leben eines Filmemachers, der mit mehreren physischen und psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat.
Mein Essay soll sich demnach mit der Darstellung chronischer Schmerzkrankheiten in besagtem Film beschäftigen. Als Ausgangspunkt für das Zeitempfinden von chronischen Schmerzpatient*innen soll der Text „How to Get through the Day with Pain and Sadness“ von Shoshana Magnet und Amanda Watson dienen, welcher die These beinhaltet, dass Comics eine „representation of the ‚temporalities of disability‘, which are at odds with normative expectations concerning time and productivity“[3] möglich machen. Anhand von Dolor y gloria soll gezeigt werden, dass diese ,andere‘ Zeitvorstellung im Hinblick auf chronische Schmerzen nicht nur anhand von Graphic Novels zum Ausdruck kommen kann, sondern auch filmisch thematisiert wird.
Folglich soll eine kurze Einleitung über chronische Schmerzerkrankungen – v.a. im Hinblick auf deren Zusammenhänge mit Unsichtbarkeit, Produktivität und Zeitlichkeit – der Auseinandersetzung mit Pedro Almodóvars Dolor y gloria vorangestellt werden; genauso wie ein kurzer Überblick über dessen Filmographie, insbesondere die Einbringung psychischer und physischer Erkrankungen sowie die Darstellung der Medizin. Abschließend soll ein Ausblick auf intersektionale Perspektiven in Dolor y gloria gegeben werden, die thematisch relevant erscheinen.
Unsichtbarkeit & Produktivität
Chronische Schmerzen gehen häufig mit einer gewissen Unsichtbar- bzw. Unleserlichkeit einher, deren Nachvollzug für Außenstehende deshalb noch schwieriger erscheint. Mack Hagood führt diesen Gedanken in Zusammenhang mit Tinnitus aus; allerdings kann dies nicht nur bei diesem der Fall sein, sondern, „[i]n fact, illegibility is a problem faced by many others with non-apparent and contested impairments, from lupus to poorly understood mental disorders“[4].
Und auch Ellen Samuels spricht in ihrer Abhandlung über Kriegsveteranen über die unterschiedlichen Rezeptionen, die unterschiedliche Arten von „disability“ mit sich bringen – auch hier ist die Sichtbarkeit ein großes Unterscheidungsmerkmal. Anhand des Beispiels der Kriegsveteranen nennt sie zwei Figuren, „the figure of the amputee – whose wound is visible, incontrovertible, and prosthetizeable into a semblance of normalcy – and the ‚mentally ill‘ individual – whose wounds are invisible, nebulous, and a persistent threat to normalcy and social reintegration“[5]. Samuels zieht in diesem Zusammenhang eine Aussage von David Gerber heran, die besagt: „[W]e find amputees garnering attention vastly out of proportion to their relatively small numbers, and in effect, becoming representative of all disabled veterans. The drama of their injury crowds out everything else about them, and about others, with different, less visible injuries or illnesses.“[6] Dieses Beispiel verdeutlicht, wie stark die allgemeine Wahrnehmung von Krankheiten und körperlichen Beeinträchtigungen von deren tatsächlichen Sichtbarkeit beeinflusst wird.
Gerade am Arbeitsplatz kann diese „Unsichtbarkeit“ zu einem Problem werden, gerade dann, wenn der normale Arbeitsalltag nicht mehr zu bewältigen ist:
„In the workplace, people with chronic illness navigate vulnerability to judgment on a routine basis, particularly with regard to the (in)visibility of their symptoms. Depending on the illness and its stage, symptoms may manifest as observable by colleagues (e.g., physical and mobility problems), while others are more ‚concealed‘ (e.g. fatigue, pain, anxiety, depression, and cognitive impairments).“[7]
Dass dies einhergeht mit bestimmten Machtstrukturen, sowie einem negativ behafteten Zeitempfinden, ist demnach nicht verwunderlich, denn „people with disabilities are both shamed and haunted by time and its passing under late-capitalist narratives obsessed with normative forms of productivity and efficiency“[8]. Wer in diesem Sinne keinen „produktiven“ Tagesablauf aufweisen kann, wird schnell als faul oder träge abgeschrieben.
Ein Film, der dies eindrucksvoll demonstriert ist Cake[9]. Der Film von Daniel Barnz aus dem Jahr 2014 ist einer der wenigen, der seinen Fokus auf das Leben mit chronischen Schmerzerkrankungen setzt. Die Protagonistin Claire (Jennifer Aniston) verlor bei einem Autounfall ihren Sohn und leidet seitdem unter chronischen Schmerzen. „Sometimes I suspect you think I’m just this uncooperative, old bitch who’s making all of this up.“, sagt sie einmal zu ihrer Wassersportbetreuerin, die Claire gegenüber – wahrscheinlich aufgrund ihrer eher demotivierten Haltung – eher ablehnend gegenübersteht. Claire reagiert auf ihre Schmerzen oftmals mit Sarkasmus, was von ihrer Umgebung ebenfalls nicht gut aufgenommen wird, da es als ein Zeichen von Unwillen und schlechter Laune abgestempelt wird und nicht als ein Bewältigungsmechanismus wahrgenommen wird, dem dieses Verhalten zugrunde liegen dürfte.
In diesem Zusammenhang sei das von Samantha King definierte Konzept der „tyranny of cheerfulness“[10] zu erwähnen, auf das Magnet und Watson in ihrem Text verweisen, bei denen Frauen mit Brustkrebs durch die Medien angehalten werden, einen positiven und fröhlichen Zugang zu ihrer Krebsdiagnose und ihrer Behandlung aufzuweisen.
Zeitlichkeit
Magnet und Watson gehen aber noch weiter und fügen dem Konzept von King noch eine zeitliche Ebene hinzu: „Following King, we would like to argue that there is a specific set of temporalities that accompany the ‚tyranny of cheerfulness‘, including temporalities in which one is exhorted to live with immediacy and to cease delaying any pleasurable activities.“[11] Dieses Anraten zu einem ständigen „im Moment leben“ geht häufig mit einer Bemitleidung oder Bemutterung einher, welche den*die Betroffene*n zu einem gewissen Grad auch die selbstständige Handlungsfreiheit abspricht, was wir später auch anhand von Dolor y gloria betrachten werden.
Das Zeitempfinden ist jedenfalls ein sehr individueller Vorgang, der unterschiedliche Parameter zu berücksichtigen hat: „We use the term ‚temporality‘ to refer to complex cultural constructions and lived realities of time, including ones that are differentially produced and experienced in ways connected to identity categories such as race, gender, and sexuality.“[12] Gerade beim Erleben von Krankheit ist dies auch der Fall, wobei dieses auch wiederum von Krankheit zu Krankheit differenziert. In Bezug auf Krankheiten und der Zeitwahrnehmung ist auch immer wieder von einer Diskontinuität die Rede:
„From a phenomenological point of view, then, illness breaks the sense of conitnuity and arises as a dramatic experience of discontinuity. On one hand, such a perspective underlines the crisis of the subject’s sense-making systems and the necessity to pursue a meaning in order to interpret the ongoing experience; on the other hand, it seems to promote and to reify, in scientific terms, a continuous and linear conception of time, relying upon common sense, in which what needs tob e fixed and reestablished is the sense of continuity interrupted by illness.“[13]
Dies beinhaltet auch einen alternativen Zugang an das alltägliche Zeitmanagement. Sowohl bei körperlichen Leiden als auch bei psychischen wie beispielsweise Depressionen wird Zeit jedenfalls zum Thema. Chronische Schmerzen und Depressionen stehen ohnehin häufig in direktem Zusammenhang: „Clinicians have long recognized the close association between depression and chronic pain. Finding from epidemiologic and experimental pain studies now provide empirical evidence to support this longstanding clinical observation.“[14]
Magnet und Watson sprechen außerdem von einer „temporal stasis“[15], also einer Art zeitlichem Stillstand. Einerseits ist der Körper nicht fähig, in gewohnter Form zu funktionieren, weshalb man möglicherweise keiner geregelten Arbeit oder verschiedenen Freizeitaktivitäten nachgehen kann. Andererseits verliert man sich auch schnell in der nun zur Verfügung stehenden Zeit, wodurch die Gedanken ständig um die gelebte Situation kreisen. Man befindet sich in gewisser Maßen in einem Teufelskreis.
Die Filme von Almodóvar
Pedro Almodóvar zählt zu den bekanntesten europäischen Regisseuren der Gegenwart; das filmische Werk des Spaniers umfasst mittlerweile 36 Lang- und Kurzfilme[16]. Betont werden immer wieder seine Konzentration auf Frauenrollen, farbenprächtige Inszenierungen und queere Thematiken. Aber auch seine sich wiederholenden Kollaborationen mit den gleichen Schauspieler*innen – u.a. Antonio Banderas, Penélope Cruz, Carmen Maura, Marisa Paredes und Cecilia Roth – sind Bestandteile seiner Arbeitsweise. Als ein weiteres „wesentliches Merkmal werden zumeist die unwahrscheinlichen und verzweigten Plots genannt, die sich bei verschiedenen Genres bedienen, ohne je einer vorhersehbaren Dramaturgie zu folgen“[17]. Oder, wie Antonio Banderas in einem Interview sagte: „Almodóvar is a genre in himself.“[18] Immer wieder sind in seinen Filmen aber auch selbstreflexive Tendenzen zu erkennen, so kommen sowohl in La ley del deseo[19] oder La mala educación[20] schwule Filmemacher vorund in Dolor y gloriascheint es sich bei Antonio Banderas Rolle gar um ein Alter-Ego von Almodóvar selbst zu handeln.
Aber auch Themen wie der menschliche Körper, psychische und physische Krankheiten oder medizinische Einrichtungen finden in seinen Filmen immer wieder Verwendung. In Tacones lejanos[21] kommt beispielsweise eine Sängerin, die in Mexiko gelebt hat, aufgrund einer Erkrankung zurück in ihre Heimat Spanien, weil sie sterben wird. In Volver[22] und Julieta[23] leiden jeweils eine der Nebenfiguren – die jeweiligen Bezugspersonen der Protagnistinnen – an langwierigen Krankheiten: Agustina an Krebs und Ava an Multipler Sklerose. Und auch Todo sobre mi madre[24], wohl Almodóvars bekanntester Film, behandelt unter anderem Alzheimer und AIDS. Die Krankheiten stehen hier allerdings nur bedingt im Zentrum der Handlung, viel eher, so Victoria Rivera-Cordero, sind diese als Metaphern zu verstehen: „In Todo sobre mi madre illness and cure are metaphors of transformation and are closely linked with a new ideal of motherhood, the adoptive mother who is above all forgiving, loving and tolerant.“ [25] Hier ist darüber hinaus ein erster Ansatz zu alternativen Realitäten wahrzunehmen, die von einem normativ geprägten Verständnis von „Familie“ abweichen.
Aber auch verschiedene Arten von körperlicher Beeinträchtigung kommen immer wieder in Almodóvars Filmen vor, so ist beispielsweise Javier Bardems Charakter in Carne trémula [26] nach einem Unfall querschnittsgelähmt. Aber auch das Leben mit einer Sehbehinderung findet Einzug, und zwar anhand des Protagonisten in Los abrazos rotos [27], bei dem es sich um einen blinden Schriftsteller handelt. Immer wieder spielen aber auch psychische Probleme eine Rolle. In Mujeres al borde de un ataque de nervios [28] wird eine der Figuren aus einer psychiatrischen Klinik entlassen (und später vermutlich wieder eingewiesen), genauso wie in ¡Àtame! [29]; und auch in Los amantes pasajeros [30] und La piel que habito [31] wird die Einweisung einer der Charaktere in eine psychiatrische Klinik zum Thema. Verpackt wird dies allerdings zumeist in eine eher humorvolle Herangehensweise an die Thematik, was teilweise auch problematisch erscheinen kann.
„However, the themes of illness and disability (as well as hospitals or clinics as a principal location) are not the primary focus in his films until the end of the 1990’s, culminating with Hable con ella (2002).“[32] In Bezug auf den Film, in dem zwei Frauen im Koma liegen, spricht der Regisseur von einem besonderen Zeitempfinden, welches sich in Krankenhäusern entwickelt: „Hospitals are places that you have to stay in for a long time, even if you are a visitor. Time doesn’t seem to pass in the same way in hospitals as it does in other places. Time seems to almost not exist in the same way as it does in other places.“ [33]
Medizinische Vorgänge werden außerdem in dem bereits erwähnten La piel que habito beschrieben, wenn auch in einem eher unkonventionellen Rahmen. Die Handlung dreht sich hier um einen Schönheitschirurgen, der mithilfe von Transgenese eine perfektionierte Nachbildung der menschlichen Haut entwickeln will. Was als Behandlungsmethode für Brandopfer beginnt, kulminiert in einer Besessenheit von Schönheitsidealen.
Die genannten Beispiele demonstrieren, dass die Filme von Pedro Almodóvar oftmals um das Thema Krankheit kreisen. Bei seinem neuesten Film, Dolor y gloria, ist dies auch der Fall: Das Leben mit chronischen Schmerzen wird hier auf vor allem authentische Weise wiedergegeben.
Dolor y gloria
Dolor y gloria zeichnet das Leben eines gealterten Filmemachers nach: Salvador Mallo (Antonio Banderas) hat mit einigen körperlichen und seelischen Leiden zu kämpfen, weshalb er sich auch außerstande sieht, einen weiteren Film zu drehen. Als er zufällig eine alte Bekannte, Zulema (Cecilia Roth), trifft, kann diese gar nicht glauben, dass sich Mallo scheinbar zu Ruhe gesetzt hat.
Zulema: Du schreibst und drehst nicht. Was machst du dann?
Salvador: Einfach leben.
Zulema gibt Salvador die Adresse seines ehemaligen Hauptdarstellers Alberto Crespo (Asier Etxeandia), um ihn zur Premierenfeier der Restaurierung ihres gemeinsamen Filmes Sabor einzuladen. Die beiden Männer hatten, aufgrund eines Disputs um den Film, seit 32 Jahren keinen Kontakt mehr, freunden sich aber schnell wieder an. Durch Alberto kommt Salvador mit Heroin in Berührung und wird abhängig.
Nachdem Salvador Alberto auf der Premierenfeier denunziert, kommt es abermals zum Bruch zwischen den beiden. Erst als Salvador Alberto die Rechte an einem seiner Texte (Die Sucht) für eine Aufführung überlässt, nähern sie sich wieder an. Alberto inszeniert infolge dessen Salvadors Monolog über seine Erinnerungen an das Madrid der 1980er Jahre und seinen damaligen Partner. Zufälligerweise sitzt genau dieser, Federico (Leonardo Sbaraglia), im Publikum und erkennt Salvador als Urheber des Textes wieder. Daraufhin erhält er von Alberto dessen Adresse und die ehemaligen Geliebten treffen aufeinander. Durch das Treffen mit Federico erkennt Salvador, dass ihn seine Heroinsucht zerstört – ähnlich wie Federicos damalige Heroinsucht vor über 30 Jahren dessen Verhältnis zu Salvador zerstörte. Mithilfe seiner Assistentin Mercedes (Nora Navas) sucht er deshalb einen Arzt auf und beginnt einen Entzug.
Untermalt wird die Handlung von Kindheitserinnerungen Salvadors, bei denen es sich, wie sich später herausstellt, allerdings um Dreharbeiten zu Salvadors neuestem Film handelt. Sein Verhältnis zu seiner Mutter Jacinta (Penélope Cruz) sowie die Freundschaft zu seinem Schüler Eduardo (César Vicente) – einem Arbeiter, durch den Salvador das erste Mal mit dem Gefühl der Begierde in Berührung kommt – stellen dabei zentrale Handlungsstränge dar. Aber auch spätere Erinnerungen an die nun gealterte Mutter (Julieta Serrano) und deren Tod sind von zentraler Bedeutung. Schlussendlich überwindet Salvador seine kreative Krise, aller körperlichen und seelischen Leiden zum Trotz.
Zur Darstellung von chronischen Schmerzerkrankungen im Film
Der Protagonist von Dolor y gloria, Salvador Mallo, leidet gleich an mehreren Erkrankungen. Pedro Almodóvar wählte einen besonderen Zugang, um diese im Film aufzuzählen. Mithilfe von einer animierten Sequenz, die den Titel „Anatomía“ trägt, erörtert er Salvadors körperliches Befinden genauer.
Die Erzählung erfolgt äußerst sachlich und weist fast schon einen didaktischen Charakter auf. Untermalt wird das Ganze von der Erzählstimme Salvadors, der dazu folgendes zu sagen hat: „Meinen Körper lernte ich durch Schmerzen und Krankheiten kennen. Meine ersten 30 Jahre verbrachte ich in relativer Ahnungslosigkeit. Aber dann entdeckte ich, dass mein Kopf und sein Inhalt nicht nur Quelle für Vergnügen und Wissen waren, sondern auch unendliche Schmerzen bereiten konnten. Bald bekam ich Schlafstörungen, chronische Halsschmerzen, Ohrenentzündungen, Reflux, Geschwüre und Asthma. Die Nerven plagten mich, ganz besonders der Ischias. Dazu kamen alle möglichen Muskelschmerzen. In der Lende, am Rücken, Sehnenentzündungen an beiden Knien und Schultern.“ Begleitet wird das Gesagte von animierten Illustrationen des menschlichen Körpers.
Plötzlich ist ein Geräusch zu vernehmen – „Das ist ein Tinnitus. Den habe ich auch.“ – während eine Abbildung eines menschlichen Ohres zu sehen ist und eine Schallfrequenz. Dem folgt ein Husten – „Das ist ein Keuchen oder Pfeifen. Darunter leide ich auch.“
Danach beschäftigt er sich mit seiner Wirbelsäule, die auch zu sehen ist. „Abgesehen vom Tinnitus und dem Keuchen sind Kopfschmerzen meine Spezialität. Migräne, Druck- oder Clusterkopfschmerzen und Rückenschmerzen. Nach der Stabilisierung der Lendenwirbel, die meinen halben Rücken versteift hat, entdeckte ich, dass sich mein Leben um meine Wirbelsäule dreht. Mir wurde jeder einzelne Wirbel und die Anzahl der Muskeln und Bänder bewusst, welches die Mythologie unseres Organismus bilden. Und wie bei griechischen Göttern lässt sich auch hier eine Verbindung nur herstellen, wenn Opfer gebracht werden.“ Daraufhin sind Bilder von griechischen Göttern zu sehen, wobei auch hier wieder die Körperlichkeit betont wird.
Dann wechselt die Art der Veranschaulichung und wird abstrakter. Nun erzählt Salvador von seinen mentalen Leiden: „Aber nicht alles ist körperlich und lässt sich leicht erklären. Ich habe auch abstrakte Leiden. Seelische Schmerzen wie Panikattacken und innere Unruhe, durch die ich ein Leben voller Angst führe. Natürlich habe ich seit einigen Jahren mit Depressionen zu kämpfen.“ Begleitet wird das Gesagte von bunten, assoziativen Bildern und einem Totenschädel.
Abschließend spricht er davon, dass, wenn ihn mehrere Schmerzen plagen, er zu Gott betet; an den Tagen, wo allerdings nur ein Schmerz auftritt, sei er Atheist. Hier ist besonders hervorzuheben, dass die Rede gar nicht mehr davon ist, ob Salvador schmerzfrei ist oder nicht – es geht eher darum, wie viele der Schmerzen auf einmal auftreten.
Im Laufe der Handlung werden anhand von verschiedenen Szenen Salvadors alltägliche Einschränkungen deutlich. Diese werden allerdings niemals betont, sondern gliedern sich in den Handlungsverlauf ein. So hält er sich vor allem viel in der Wohnung auf, weil er wegen der ständigen Kopfschmerzen eine dunkle Umgebung bevorzugt. Außerhalb der eigenen vier Wände trägt er deshalb meistens Sonnenbrillen. Die Turnschuhe wurden durch Slipper ersetzt, da ihm das Zubinden zu große Schmerzen bereitet und es ihm unangenehm ist, seine Haushälterin darum zu bitten. Salvador schläft außerdem plötzlich ein, sogar wenn er Besuch hat. Wenn ihm eine seiner Tabletten auf den Boden fällt, muss er ein Kissen auf diesem platzieren, damit er darauf knien kann, um das Medikament aufzuheben. Die Tabletten – sieben an der Zahl – muss er zerkleinern und in Wasser auflösen, weil er sie anders nicht schlucken kann, da er sich schon beim Wassertrinken verschluckt. Und ins Theater geht er auch nicht mehr, da die Theatersitze zu unbequem sind und er nicht „mittendrin gehen will“.
Salvadors Verhalten und Umgang mit seinen chronischen Schmerzen führt zu Unverständnis in seiner Umgebung. Mercedes bemerkt auch einmal: „Du hast zu viel Freizeit, um an deine Leiden zu denken.“ Sie rät Salvador, genau wie dessen Arzt, sich wieder Dreharbeiten zu widmen, um sich von seinen Schmerzen abzulenken (und wahrscheinlich auch, um seine Zeit „sinnvoll“ zu gestalten). Salvador betont allerdings immer wieder, dass Dreharbeiten körperliche Arbeit beinhaltet und dass er in seinem Zustand diese nicht durchhält. „Die Rücken- und Kopfschmerzen lähmen mich komplett“, sagt er.
Als er Heroin zur Schmerzbewältigung nimmt und daraufhin schnell abhängig wird, sucht er Rat bei seinem Arzt und beginnt einen Entzug. Salvador geht das Ganze sehr sachlich an und auf die Frage des Arztes, wie er den kalten Entzug so erfolgreich gemeistert hat, antwortet Salvador, aufgrund „seines eisernen Willens“. Es scheint zu einer veränderten Sichtweise des Arztes zu kommen, der Salvador davor eher als träge betrachtet hat.
Der Umgang mit einer Krankheit, gerade durch das Umfeld, wird an einer anderen Stelle aber auch nochmal von einer anderen Seite beleuchtet: Salvadors Schluckbeschwerden gehen eventuell auf einen Tumor zurück, von dessen möglicher Existenz allerdings nur Mercedes und der Arzt Bescheid wissen. Später stellt sich zwar heraus, dass es sich lediglich um eine operable Verknöcherung handelt und sie Salvador einige Tage der Panik ersparten. Das Nichthinzuziehen Salvadors – obwohl es sich um seinen Körper handelt – erscheint jedoch fraglich und erinnert gar an eine Form der Entmündigung, die oftmals in Zusammenhang mit dem Umgang von Erkrankten zu beobachten ist. Erst unlängst wurde dieses Thema in The Farewell[34] behandelt, in dem eine chinesische Familie der Großmutter deren tödliche Krankheit verschweigt; wobei hier noch eine kulturelle Ebene hinzukommt.
Salvadors Verhältnis zu Krankenhäusern ist außerdem äußerst negativ konnotiert. Er meint, dass er vor zwei Jahren eine Rückenoperation hatte. Vor zwei Jahren starb auch seine Mutter. Und „von beiden Erlebnissen hat er sich noch nicht erholt“. Hinzu kommt noch, dass er seiner Mutter versprochen hatte, dass diese in ihrer Heimat sterben kann; letztendlich starb sie allerdings auf der Intensivstation im Krankhaus, anonym und einsam, weshalb in Schuldgefühle plagen.
Intersektionale Perspektiven
Aufgrund verschiedener Faktoren hat Salvador einen anderen Zugang zu normativen Erwartungshaltungen, die den Alltag, das Familienleben sowie Gedanken zur Zukunftsbildung beinhalten. Seine Homosexualität, seine Zugehörigkeit zum Künstlertum sowie sein körperlicher Zustand tragen dazu bei, dass er weder einen sogenannten „geregelten Tagesablauf“ aufweist noch dem bürgerlichem Familienideal entspricht.
Denn die Arbeit als Filmemacher ist keine Arbeit im herkömmlichen Sinne. Sie ist sehr vielfältig, es gibt keine geregelten Arbeitszeiten, die Projekte sind auftragsbasiert und es handelt sich um eine künstlerische Ausdrucksform. Von daher herrscht schon mal ein anderes Zeitverständnis was den Arbeitsalltag angeht. Salvador findet darüber hinaus auch im Privaten Zuflucht in der Kunst: Er weist eine große Sammlung an Gemälden auf, die er sogar als seine Mitbewohner*innen bezeichnet.
Salvador ist homosexuell und kinderlos. Er führt dadurch ein Leben, in welchem keine homonormative Anpassung verfolgt wird: „At a moment when so many middle-class gays and lesbians are choosing to raise children in conventional family settings, it is important to study queer life modes that offer alternatives to family time and family life.“[35] Sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben hat Salvador bewusste Entscheidungen getroffen, die sich gegen die generell vorherrschende Norm wenden.
Dies kommt allerdings nicht nur in Dolor y gloria zum Ausdruck, sondern auch in anderen Werken von Pedro Almodóvar, die, wie bereits erwähnt, auch alternative Zugänge zum Thema Krankheit zeigen: „Almodóvar resists normative notions and identity and health while producing radical new forms of personhood based on illness and mortality“[36]. Der Hauptdarsteller von Dolor y gloria, Antonio Banderas, zog in Bezug auf die Identität sogar Parallelen zu seinem eigenen Leben. In einem Interview sagte er: „I suffered a heart attack about 2 1/2 years ago and it was an alert in my life. And when I say this, people may just think that I am crazy, but it’s one of the best things that ever happened in my life because it just gave me a perspective of who I was.“[37]
Schlussgedanken
Menschen mit chronischen Schmerzerkrankungen weisen oftmals ein Empfinden auf, welches über den körperlichen Schmerz hinausgeht. Teil dieses Phänomens kann ein alternatives Zeitempfinden sein, welches, gemeinsam mit einer möglichen Unsichtbarkeit der Krankheit, für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar ist. Obgleich ein normaler Alltag, sowohl auf beruflicher und privater Ebene, teilweise nicht möglich erscheint, wird er trotzdem von anderen Menschen in der Umgebung erwartet. Gerade bezogen auf die Arbeit, scheint die Produktivität in Zeiten des Spätkapitalismus an oberster Stelle zu stehen. Was, wenn man gegen diesen Produktivitätsgedanken, zwar bedingt durch eine Erkrankung, aber trotzdem bewusst, Widerstand leistet? Magnet und Watson verweisen hier auf Ann Cvetcovich: „Cvetcovich […] notes that depression is frequently cast as a form of stasis and asks how we instead might come to understand disability as a form of resistance to the increasingly impossible demands placed on us in this moment of late capitalism.“[38]
Bei den von Magnet und Watson analysierten Comics stellten ihr Umgang mit der Zeitlichkeit in ebendiesen Comics ein Ausdrucksmittel für das eigene Erleben dar. Dass das ebenfalls in Filmen möglich ist, bewies Pedro Almodóvarmit Dolor y gloria, wenn auch auf andere Art und Weise. Der Regisseur bedient sich hier augenscheinlich dem filmischen Mittel des Zeitsprungs; am Ende wird jedoch enthüllt, dass es sich viel eher um Parallelwelten handelt, die die Dreharbeiten über sein eigenes Leben beinhalten.
Die Schmerzen, die den Protagonisten Salvador den ganzen Film über begleiten, sind wesentliche Bestandteile der Handlung, allerdings stehen sie nur bedingt in deren Fokus. Schmerz und Herrlichkeit stehen, wie der Titel bereits vorwegnimmt, jedenfalls immer ganz nah beieinander. Das Ende des Films suggeriert schlussendlich ein Überwinden der Leiden: Salvador weist zwar immer noch alle möglichen Erkrankungen auf, hat aber einen Weg gefunden, diese in sein Leben zu integrieren. Durch das Ausleben seiner Kreativität und seiner Rückbesinnung auf etwas was ihm Freude bereitet – das Arbeiten an einem Film – kann somit eine Art von Leben beginnen, die sich nicht nur als Weiter-Leben oder Über-Leben darstellt.
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[1] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 262.
[2]Dolor y gloria, R: Pedro Almodóvar, E 2019.
[3] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 247.
[4] Hagood, „Disability and Biomediation“, S. 316.
[5] Samuels, „Prosthetic Heroes“, S. 135.
[6] Gerber, David, „Introduction“, S. 2.
[7] Thompson/et al., „Managing the (In)visibility of Chronic Illness at Work“, S. 1213f.
[8] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 247f.
[9] Cake, R: Daniel Barnz, US 2014.
[10] Vgl. King, Samantha, Pink Ribbons, Inc.
[11] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 262.
[12] Ebd., S. 249.
[13| Freda/De Luca Picione/Martino, „Times of Illness and Illness of Time“, S. 233.
[14] Hooten, W. Michael, „Chronic pain and depression“, S. 241.
[15] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 257.
[16] Stand: Jänner 2020
[17] Brombach, „>>Ja, jetzt erkenne ich dich wieder“<<“, S. 31.
[18] „Interviews. Antonio Banderas“, in: Die Haut, in der ich wohne, R: Pedro Almódovar, BluRay, Universum Film 2012 (Orig. La piel que habito, R: Pedro Almodóvar, E 2011).
[19] La ley del deseo, R: Pedro Almodóvar, E 1987.
[20] La mala educación, R: Pedro Almodóvar, E 2004.
[21] Tacones lejanos, R: Pedro Almodóvar, E 1991.
[22] Volver, R: Pedro Almodóvar, E 2006.
[23] Julieta, R: Pedro Almodóvar, E 2016.
[24] Todo sobre mi madre, R: Pedro Almodóvar, E/F 1999.
[25] Rivera-Cordero, „Illness, Authenticity and Tolerance in Pedro Almodóvar’s Todo sobre mi madre“, S. 321.
[26] Carne trémula, R: Pedro Almodóvar, E/F 1997.
[27] Los abrazos rotos, R: Pedro Almodóvar, E 2009.
[28] Mujeres al borde de un ataque de nervios, R: Pedro Almodóvar, E 1988.
[29] ¡Àtame!, R: Pedro Almodóvar, E 1989.
[30] Los amantes pasajeros, R: Pedro Almodóvar, E 2013.
[31] La piel que habito, R: Pedro Almodóvar, E 2011.
[32] Rivera-Cordero, „Illness, Authenticity and Tolerance in Pedro Almodóvar’s Todo sobre mi madre, S. 311.
[33] Arroyo, Jose: „Guardian Interviews at the BFI: Pedro Almodóvar“.
[34] The Farewell, R: Lulu Wang, CHN/US 2019.
[35] Halberstam, In a Queer Time and Place, S. 152f.
[36] Allbritton, „Paternity and Pathogens“, S. 226.
[37] Gross, „How A Heart Attack Brought Antonio Banderas Closer To ‚Pain and Glory‘“.
[38] Magnet/Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness“, S. 260.
Literatur
Allbritton, Dean, „Paternity and Pathogens. Mourning Men and the Crises of Masculinity in Todo Sobre Mi Madreand Hable Con Ella“, in: A Companion to Pedro Almodóvar, Hoboken/NJ:Wiley-Blackwell 2013,S. 225-243.
Arroyo, Jose: „Guardian Interviews at the BFI: Pedro Almodóvar“, in: The Guardian Online, https://www.theguardian.com/film/2002/jul/31/features.pedroalmodovar, 31.07.2002, Zugriff: 06.02.2020.
Brombach, Ilka, „>>Ja, jetzt erkenne ich dich wieder“<<“. Zur Gestaltung von Figur und dramatischem Konflikt bei Pedro Almodóvar“, in: Pedro Almodóvar. Film-Konzepte 9, Thomas Koebner/Fabienne Liptay (Hg.), edition text+kritik 1/2008, S. 31-44.
Freda, Maria Francesca/Raffaele De Luca Picione/Maria Luisa Martino, „Times of Illness and Illness of Time“, in: Temporality: Culture in the Flow of Human Experience, Lívia Mathias Simão/Danilo Silva Guimarães/Jaan Valsiner (Hg.), Charlotte, NC: Information Age Publishing 2015, S. 231-256.
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Gross, Terry, „How A Heart Attack Brought Antonio Banderas Closer To ‚Pain and Glory‘“, in: National Public Radio Online, https://www.npr.org/2020/01/31/801559096/how-a-heart-attack-brought-antonio-banderas-closer-to-pain-and-glory,31.01.2020, Zugriff: 07.02.2020.
Hagood, Mack, „Disability and Biomediation. Tinnitus as Phantom Disability“, in: Disability Media Studies, Elizabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.), New York: Univ. Press 2017, S. 311-329.
Halberstam, J. Jack, In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Live, New York: Univ. Press 2005.
Hooten, W. Michael, „Chronic pain and depression“, in: Clinical Pain Management: Chronic Pain,Peter R. Wilson/et al. (Hg.), Florida: CRC Press 20082, S. 241-253.
King, Samantha, Pink Ribbons, Inc.: Breast Cancer and the Politics of Philanthropy, Minneapolis/MN: University of Minnesota Press 2006.
Magnet, Shoshana/Amanda Watson, „How to Get through the Day with Pain and Sadness. Temporality and Disability in Graphic Novels“, in: Disability Media Studies, Elizabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.), New York: Univ. Press 2017, S. 247-271.
Rivera-Cordero, Victoria, „Illness, Authenticity and Tolerance in Pedro Almodóvar’s Todo sobre mi madre“, in: Romance Notes 52, 3/2012, S. 311-323.
Samuels, Ellen, „Prosthetic Heroes. Curing Disabled Veterans in Iron Man 3and Beyond“, in: Disability Media Studies, Elizabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.), New York: Univ. Press 2017, S. 129-151.
Thompson, Laura/Helen L. Ford/Amanda Stroud/Anna Madill, „Managing the (In)visibility of Chronic Illness at Work: Dialogism, Parody, and Reported Speech“, in: Qualitiative Health Research29, 08/2019, S. 1213-1226.
Filme
¡Àtame!, R: Pedro Almodóvar, E 1989.
Cake, R: Daniel Barnz, US 2014.
Carne trémula, R: Pedro Almodóvar, E/F 1997.
Dolor y gloria, R: Pedro Almodóvar, E 2019.
Hable con ella, R: Pedro Almodóvar, E 2002.
Julieta, R: Pedro Almodóvar, E 2016.
La ley del deseo, R: Pedro Almodóvar, E 1987.
La mala educación, R: Pedro Almodóvar, E 2004.
La piel que habito, R: Pedro Almodóvar, E 2011.
Los abrazos rotos, R: Pedro Almodóvar, E 2009.
Los amantes pasajeros, R: Pedro Almodóvar, E 2013.
Mujeres al borde de un ataque de nervios, R: Pedro Almodóvar, E 1988.
Tacones lejanos, R: Pedro Almodóvar, E 1991.
The Farewell, R: Lulu Wang, CHN/US 2019.
Todo sobre mi madre, R: Pedro Almodóvar, E/F 1999.
Volver, R: Pedro Almodóvar, E 2006.