von Anonyma_us
Wenn wir uns heute Filme wie The Jazz Singer (1927) oder Dragon Seed (1944) ansehen, können wir aus Scham vor dem Blackfacing und Yellowfacing kaum hinsehen. Damals war es üblich, dass weiße Schauspieler/innen alle Rollen verkörperten und sich je nach dem verkleideten oder schminkten. Was heute ein Skandal wäre, war damals normale Filmpraxis.
Mittlerweile haben wir zwar akzeptiert, dass Menschen aller Hautfarben, die gleichen Rechte haben sollten und in der Theorie auch gleichermaßen repräsentiert werden sollen, doch es gibt immer noch Gruppen die diskriminiert oder ausgegrenzt werden. Es geht um Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, die mittels Disability Drag oder auch Crip Drag genannt, von ‚able-bodied actors‘ nachgeahmt werden. In der Folge werden vermehrt die englischen Bezeichnungen disabled people oder Menschen mit disabilites verwendet, da diese meiner Meinung nach eine weniger negative Konnotation haben, als die Bezeichnungen „Behinderte“ oder „Menschen mit Behinderungen“.
Die UN- Behindertenrechtskonvention definiert „Menschen mit Behinderungen“ als „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ [1] Zudem wird gesagt, dass sich das Verständnis von „Behinderung“ in der Gesellschaft stetig verändert, wodurch es von den gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig ist und als kein festes Konzept verstanden werden kann.
Dass sich unser Bewusstsein darüber verändert hat, kann man am ehesten daran erkennen, dass diese heterogene Gruppe von Menschen, früher bewusst von der Gesellschaft ausgeschlossen, weggesperrt und versteckt wurde. In unserer heutigen Gesellschaft gibt es immer mehr Regulierungen, die disabled people den Zugang zu bestimmten Dingen ermöglichen sollen, dabei sind „Accessability“ und „Barrierefreiheit“ wichtige Schlagwörter.
Dennoch bleiben ihnen immer noch viele Tore versperrt, denn es ist oft nicht möglich den Job auszuüben, von dem sie träumen, wie zum Beispiel den als Schauspieler/in. Die wenigen Rollen, die disabled Charaktere darstellen, werden meist an able-bodied Schauspieler/innen vergeben, welche außerdem oft auch noch für ihre großartigen Leistungen ausgezeichnet werden. Petra Kuppers ist eine Community-Performance-Künstlerin und Aktivistin der Disability Kultur und greift die Problematik auf, dass Schauspieler/innen mit disabilities oft keinen Job bekommen, weil ihre Performances als zu „authentisch“ interpretiert werden und die Person selbst repräsentieren würden, was keine Performance- skills ausmachen würde. Während non-disabled people ihre schauspielerischen Leistungen zeigen können und man es als große künstlerische Leistung ansieht, wenn sie disabled people spielen. [2]
Was ist Disability Drag?
Als Disability Drag oder Crip Drag wird das Verkleiden einer able-bodied Person als disabled bezeichnet. Es wird häufig in Filmen oder Serien verwendet, um Menschen mit disabilities zu zeigen und um das Gefühl der Inklusion zu vermitteln. Oft bleibt aber übersehen, dass Schauspielern/innen mit einem abled body bevorzugt Rollen gegeben werden anstatt disabled actors.
In Bezug auf den Disability Drag spielt auch die immer besser werdende Technik eine wichtige Rolle in der Filmwelt. Angela M. Smith schreibt, dass das Amputieren in Filmen ein großer Trend ist. Wo früher oft Kostüme verwendet wurden, werden heute Specialeffects, die sogenannten „dis-Fx“ eingesetzt, die einen abled body disabled machen. Disability Drag verlangt, dass abled-body actors ungewohnte Bewegungen ausführen und schließt daher disabled actors aus. [3]
Tobin Siebers sagt über den Disability Drag, es sei eine übertriebene Zurschaustellung von Menschen mit disabilities und fungiert als Köder für die Fantasien und Ängste eines nicht „behinderten“ Publikums und versichert ihnen, dass die Bedrohung durch die „Behinderung“ nicht real ist, dass alles nur vorgetäuscht war. Er meint, dass derartige Karikaturen von Darstellungen von Randgruppen dazu benutzt werden, die Überlegenheit der anderen Gruppe zu stärken. Außerdem wird die Leistung von Schauspieler/innen umso besser bewertet, je größer die Disability des dargestellten Charakters ist. [4]
Disability Drag in Serien
Über 90% der disabled Charaktere werden von Schauspieler/innen ohne disabilities gespielt. Bei den Wenigen, die gezeigt werden, stehen ihre disabilities meist im Vordergrund der Handlung. Beispiele für bekannte Fernsehserien in denen disabled people wichtige Rollen spielen sind etwa Glee oder Malcom Mittendrin.
Bei Glee sitzt einer der Hauptcharaktere Artie Abrams, gespielt von Kevin McHale, im Rollstuhl und die Nebenfigur Becky Jackson, gespielt von Lauren Potter, spielt eine Cheerleaderin mit Downsyndrom. Im Gegensatz zu Kevin McHale hat Lauren Potter auch im echten Leben Trisomie-21.
Stevie Kenarban in der Serie Malcom Mittendrin wird gespielt von Craig Lamar Traylor und sitzt in der Serie im Rollstuhl, leidet an Asthma und ihm fehlt ein Lungenflügel, wodurch er nur ganz langsam reden kann und immer wieder tief einatmen muss. Der Schauspieler trägt zwar im wahren Leben auch eine Brille, hat aber ansonsten keine disabilities.
Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass disabled Charaktere von non-disabled Schauspielern/innen verkörpert werden. Neben Lauren Potter ist ebenso RJ Mitte einUS-Amerikanischer Schauspieler mit disability, der durch seine Rolle als Walter White Jr. in Breaking Bad bekannt wurde.
Eine eher neue Serie, die das Thema disabilities behandelt, trägt den Titel Special (2019) und stellt das Leben eines jungen, schwulen, disabled Jungen in den Mittelpunkt. Ryan O’Connell spielt im Grunde sich selbst und teilt seine eigenen Erfahrungen des Heranwachsens. Auf humorvolle Weise werden viele verschiedene Themen angesprochen, die zum Beispiel den Berufswunsch oder das Liebesleben von Ryan betreffen. In diesem Fall spielt Ryan sich selbst, mit den gleichen körperlichen Eigenschafften, da die Serie auf seiner Autobiografie basiert.
Disability Drag im Film
Bei Kinofilmen ist die Behandlung des Themas disabilities meist etwas anders. Es gibt weniger Nebenrollen die disabled sind, dafür gibt es zahlreiche Filme, die geistige oder körperliche disabilities behandeln und ihren Fokus darauf richten, um die medizinischen Hintergründe und Krankheitsverläufe zu zeigen.
Der französische Film Verstehen Sie die Béliers (2014) handelt von einer Familie, in der alle außer der Tochter gehörlos sind. Der Schauspieler des Sohnes Quentin, Luca Gelberg, ist der Einzige, der auch im echten Leben gehörlos ist. Die anderen Schauspieler der Familie, François Damiens, Karin Viard und Louane erlernten die Französische Gebärdensprache für den Film. Den Schauspielern/innen wird für ihre großartige Leistung gratuliert, da sie sehr authentisch gehörlos gespielt haben und die Gebärdensprache extra erlernt haben. Man kann sich die Frage stellen, warum nicht gleich gehörlose Schauspieler/innen für die jeweiligen Rollen engagiert wurden. Zur Legitimisierung der Wahl von non-disabled people wird oft die problematische Argumentation verfolgt, dass es zu wenige Schauspieler/innen mit disabilities gebe oder dass die, die sich beworben haben, einfach weniger Talent gehabt hätten. Aber selbst, wenn diese Behauptung stimmen würde, würde es bestimmt mehr Menschen mit disabilites geben, die eine Schauspielausbildung absolvieren und zu sehr kompetenten Schauspieler/innen werden, wenn sie wirklich das Gefühl hätten eine faire Chance in der Filmwelt zu haben.
Ein anderer französischer Film, der international sehr viel Erfolg hatte, ist Ziemlich Beste Freunde (2011). Der Hauptcharakter Philippe in diesem Film, sowie auch Philip im amerikanischen Remake Mein Bester & Ich (2019) sind querschnittsgelähmt. Dargestellt werden sie von François Cluzet und dem US-amerikanischen Schauspieler Bryan Cranston, den wir bereits aus Malcom Mittendrin und Breaking Bad kennen. Auch in diesem Fall wird nur die überzeugende schauspielerische Leistung bewundert. François Cluzet habe sich sehr auf seine Rolle vorbereitet, um sich bestmöglich in die Lage hineinversetzen zu können. Es liegt nahe, dass es nur wenige querschnittsgelähmte Schauspieler gibt, denen er den Job weggenommen haben könnte, dennoch würde ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt, besser nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, einen Teil seines Körpers nicht richtig bewegen zu können. Ähnlich ist es in Ein ganzes halbes Jahr (2016), wo Sam Claflin den querschnittsgelähmten William Traynor spielt. Nach einem Unfall beim Sport, sitzt er im Rollstuhl und benötigt ständige Betreuung und Hilfe. Obwohl er sehr reiche Eltern hat und er eine Liebesbeziehung mit der hübschen, jungen Louisa Clark hat, will er dennoch sein Leben beenden, da es für ihn keinen Sinn mehr hat. Neben der Tatsache, dass Sam Claflin im wirklichen Leben nicht im Rollstuhl sitzt, hat dieser Film mehr auf Grund seines Inhalts für Aufregung in der disability Szene gesorgt. Der Film impliziert, dass das Leben in einem disabled body nicht mehr lebenswert wäre und der einzige Ausweg der Tod sei. Doch viele Menschen mit disabilities wollen sehr wohl leben und haben meist nicht das Glück so viel Geld für teure Geräte und Therapien zu besitzen.
Generell kann beobachtet werden, dass in Filmen häufig die Botschaft vermittelt wird, dass,solange eine Heilung möglich ist, alles dafür getan werden sollte, dass der Körper wieder in den alten, funktionstüchtigen, „normalen“ Zustand gelangt. Ist eine Heilung nicht möglich, gebe es keinen Grund mehr weiterzuleben, da man keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft erbringe.
Studien zufolge sind 20% der US-amerikanischen Bevölkerung disabled, jedoch nur weniger als 2% der TV-Charaktere repräsentieren diese. Außerdem werden etwa 95% der Charaktere mit disabilities im US Fernsehen von able-bodied Schauspielern/innen gespielt. [5] Dass es in Europa anders aussieht, kann nicht behauptet werden. Überall wird zwar mehr Inklusion gefordert, dennoch werden disabled Personen jedes Mal Chancen verwehrt, wenn Rollen an able-bodied Schauspieler/innen vergeben werden. Es scheint paradox, dass wir Charaktere aller Schichten, Geschlechter, Ethnien und körperlichen Merkmale im TV zeigen wollen, um die Gesellschaft als Gesamtes abzubilden, jedoch einzelnen Gruppen darunter nicht die Möglichkeit geben sich selbst zu repräsentieren. Wie soll sich jemand mit Schauspieler/innen identifizieren können oder diese als großes Idol ansehen, wenn er/sie nur vortäuscht eine/r von ihnen zu sein.
Denn um erstmal überzeugend genug spielen zu können, müssen sich able-bodied Schauspieler/innen meist längere Zeit auf ihre Rolle vorbereiten und sich mit der Krankheit beschäftigen, um sich in die Lage hineinversetzen zu können. Gelingt dem/der Schauspieler/in dies, wird er/sie für seine/ihre herausragende Leistung und Authentizität gelobt. Im Gegensatz dazu, müsse sich ein gehörloser Mensch oder jemand im Rollstuhl nicht derartig auf eine Rolle vorbereiten. Seine/ihre Performances seien automatisch authentisch. Doch genau diese Echtheit wird bei Schauspielern/innen mit disabilities kritisiert, da behauptet wird sie würden ja sich selbst spielen, was keine schauspielerische Leistung wäre. Dabei könnte man umgekehrt fragen: Spielt zum Beispiel eine weiße, 40-jährige, heterosexuelle Frau mit einem abled body nicht im Grunde auch sich selbst, wenn sie eine abeld-body-Rolle spielt? An dieser Frage wird klar, dass die Kritik an disabled people in disabled Rollen eine Fiktion ist, da schließlich immer eine Rolle performt wird, die jemand anderen darstellt. Dies wäre doch eigentlich auch genau dasselbe bei disabled actors, die Texte lernen und sich in die jeweilige Rolle hineinversetzen.
Man sollte also immer hinterfragen, warum manche Menschen ausgeschlossen werden, denn nur weil es die gängige Filmpraxis ist, heißt es nicht es sollte sich nicht in Zukunft ändern. Früher durften auch Frauen oder Schwarze nicht auf Bühnen auftreten, doch heute sehen wir ein, das dies diskriminierend war. Dennoch finden wir immer noch Diskriminierung gegenüber disabled people vor. Würden wir immer noch alle ausschließen und nur weiße heteronormative Männer der Mittelschicht zeigen, wären Film und Fernsehen – gelinde gesagt – sehr langweilig. Außerdem bilden diese nur etwa 1% der Gesamtbevölkerung. [6] Niemand könnte diese Darstellungen wirklich ernst nehmen oder sich mit ihnen identifizieren. Es würde so wirken, als ob die Schauspieler/innen sich über einen lustig machen. Jeder sollte sich daher einmal selbst fragen, wie er/sie gerne repräsentiert werden möchte, denn Menschen die sich nicht ausgeschlossen oder auf diskriminierende Weise dargestellt fühlen, sind kaum mit diesem Thema konfrontiert. Natürlich sind wir alle unterschiedlich, doch wenn man ähnliche Eigenschaften bei einer anderen Person sieh, fühlt man sich automatisch schneller mit dieser verbunden.
Tatsache ist, dass die Bezeichnung einer Person als disabled nicht wertfrei ist. Die Definition von disability konzentriert sich auf den Mangel an Handlungsfähigkeit. Kuppers vergleicht diese Bezeichnung damit, dass auch Frauen oft als „weniger rational“ oder Schwarze als „tierähnliche“ Menschen bezeichnet werden. [7] Das bedeutet, dass die Konstruktion von Bezeichnung sozial bedingt ist und sich daher auch immer verändern kann. Womöglich werden in Zukunft diese Kategorien anders konstruiert und das mag Auswirkungen auf die Auswahl der Schauspieler/innen haben, bei denen nicht mehr nur auf äußere Körpermerkmale geachtet wird, sondern das Talent eines jeden Menschen Beachtung findet. Gegenwärtig wird vermeintlich nur auf das Talent geachtet, wenn ein/e able-bodied Schauspieler/in für einen disabled Charakter gecastet wird und auf diese Weise jemand anderem den Job wegnimmt. Es ist möglich, dass dies in der nahen Zukunft auch umgekehrt geschieht, wenn der Fokus auf die tatsächliche Leistung gerichtet wird. Denn egal wie er/sie aussieht oder welche körperlichen Merkmale er/sie hat, wenn es sich um eine hervorragende schauspielerische Leistung handelt, dann sollte er/sie den Job bekommen und die Rolle je nach dem an den Schauspieler/ die Schauspielerin angepasst werden.
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[1] UN- Behindertenrechtskonvention (2008): Menschen mit Behinderung. Online unter: https://www.behindertenrechtskonvention.info/menschen-mit-behinderungen-3755/(07.02.2020)
[2] Kuppers, Petra (2013): Disability and Contemporary Performance. Bodies on Edge, S.54.
[3] Smith, Angela Marie (2019): Disaffection: Disability Effect and Disabled Moves at the Movies. In: Mitchell David (et al.): The Matter of Disability. University of Michigan Press, S. 119-123.
[4] Siebers, Tobin (2009): Disability Theory. University of Michigan Press, S. 116.
[5] Woodburn, Danny/ Kopic Kristina (2016): The Ruderman White Paper. On employment of actors with disabilities in television.
[6] Perry, Grayson (2014): The Straight, White, Middle- Class Man Needs to Be Dethroned. Online unter: https://newrepublic.com/article/119799/straight-white-middle-class-default-man-needs-be-dethroned
[7] Kuppers, Petra (2013): Disability and Contemporary Performance. Bodies on Edge, S.5.
Abb. 1 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Al_Jolson_Jazz_Singer.JPG
Abb. 2 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dragon_Seed_(1944)_1.jpg
Abb. 3 https://www.flickr.com/photos/albert_hsieh/28167738145