Von Anja Hudetz
Diese Reflexion ist eine Auseinandersetzung mit der Recherche- und Archivarbeit für die Zusammenstellung einer Biografie der Lyrikerin, Schriftstellerin und Dramatikerin Viola Gabriele Schlesinger. Darin soll der Prozess der Auswahl eines Schwerpunktes, der Quellensichtung und Datensammlung im Archiv sowie online und die Ausarbeitung der Biografie reflektiert werden.
Dazu gebe ich als Erstes eine kurze theoretische Einführung in die feministische Theaterhistoriografie und ihre Verknüpfung zu den Digital Humanities. Anschließend werde ich meine eigenen Erfahrungen in der feministischen Theaterforschung im Seminar reflektieren, die Herausforderungen und Probleme schildern, die mir während des Prozesses begegnet sind, wie ich mit diesen umgegangen bin und wie digitale Tools und Methoden, so die These meiner Reflexion, bei diesen Schwierigkeiten Abhilfe leisten und für die Geschichtsschreibung marginalisierter Gruppen von großem Wert sein können.
(Feministische) Theaterhistoriografie und Digital Humanities
Seit die Theaterwissenschaft an mehreren deutschen Universitäten als Disziplin eingeführt wurde, hat sich ihr Zugriff auf historische Gegenstände stetig gewandelt, wobei die Theaterhistoriografie als Methode nach wie vor von Bedeutung bleibt, auch in Bezug auf die Frage, wie und durch wen Geschichtsschreibung überhaupt zustande kommt:
„Geschichte ist nicht einfach da; es gibt sie nur, wenn sie geschrieben wird, wenn man also nach ihr sucht, Spuren sammelt, Fakten sondiert, Zusammenhänge herstellt und diese auf eine selbst gewählte Weise darstellt. […] Zur Praxis der Historiografie gehören Tätigkeiten, die denen des Schriftstellers ähneln. Wie Schriftsteller müssen Historiker ein Sujet auswählen, ihr Material anordnen, einen Anfang und ein Ende finden, sich für eine Erzählform und einen Textaufbau entscheiden. Mehr oder minder unbewusst verwenden sie rhetorische Strategien, um den Lesern ihre Geschichte plausibel zu machen.“ (Lazardzig et al., S. 5)
Es ist also wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass hinter Geschichtsschreibung immer Menschen stehen und somit das, was dokumentiert und damit erzählt wird, von ihnen beeinflusst ist. Geschichtsschreibung ist „mit einer besonderen Verantwortung verbunden […] Daher ist es wichtig zu bedenken, unter welchen Prämissen andere Autoren ihre Geschichte(n) geschrieben haben und welche Ziele das eigene Schreiben verfolgt“ (ebd., S. 6). Donna Haraway (1988) schlägt in diesem Kontext den Begriff „situiertes Wissen“ vor:
„Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick. Dieser objektive Blick stellt sich dem Problem der Verantwortlichkeit für die Generativität aller visuellen Praktiken, anstatt es auszuklammern. […] Feministische Objektivität handelt von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt.“ (S. 82)
Situiertes Wissen negiert damit die Existenz einer allgemein gültigen Objektivität und bezieht stattdessen den Einfluss der subjektiven Perspektive und der damit einhergehenden Verantwortung mit ein.
Eine Möglichkeit, intersektionale subjektive Perspektiven in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, besteht darin, Geschichten marginalisierter Gruppen zu sammeln. So wurde beispielsweise in den USA das Equality Archive ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine feministische Online-Enzyklopädie, die sich zum Ziel gesetzt hat: „to continue building momentum against racism and misogyny online, in the digital humanities, and in artist, activist, and academic spaces more broadly“ (Garcia, S. 196). Dabei sollen die Geschichten feministischer Bewegungen, Aktivist:innen und Organisationen, die oft nicht genug Beachtung finden, einem breit gefächerten Publikum zugänglich gemacht werden und eine Alternative zu herkömmlichen Portalen wie Wikipedia bieten, deren Informationen oft auf rassistischen, patriarchalen und heteronormativen Strukturen basieren, was sich in den Inhalten widerspiegelt (Vgl. ebd., S. 197). Dafür werden Methoden der Digital Humanities eingesetzt, indem beispielsweise die Seiten durch Metadaten zu einem Netzwerk miteinander verknüpft werden und damit die Suche erleichtern (Vgl. ebd., S. 198).
Die Digital Humanities sind somit für die feministische Datensammlung und damit für die feministische Geschichtsschreibung von großem Wert. Auch im theatergeschichtlichen Kontext können diese Methoden produktiv gemacht werden. Nora Probst und Vito Pinto (2020) weisen auf die Vorteile digitaler Methoden innerhalb der theaterhistoriografischen Forschung hin. Diese basiert auf einer Bandbreite unterschiedlicher Quellen mit komplexen Informationen und Beziehungen, die eine „quellenkritische, kulturhistorische Einordnung erfordern“ um ihrer Erforschung gerecht zu werden (Vgl. Probst/Pinto, S. 162). Trotz dieser komplexen Sachlage ist in der Theaterwissenschaft noch keine „wissenschaftliche Standardisierung im Hinblick auf Datenformate und Normvokabulare konsensuell etabliert“ (ebd., S. 174f). Der gezielte Einsatz von Verfahren der Digital Humanities ist in diesem Bereich jedoch sinnvoll, denn er „birgt […]die Chance, vermeintlich etabliertes Wissen zu hinterfragen, in der methodischen Annäherung blinde Flecken auszumachen oder neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen“ (ebd., S. 172). Die Forschung profitiert von diesen quantitativen Daten, bedarf jedoch auch einer eigehenden qualitativen Analyse von „kausalen Zusammenhängen und größeren Kontexten“ sowie „einer kultur- und theaterhistoriografischen Auslegung und Einordnung“ (ebd.). Mit einem Fokus auf Frauen und Randgruppen können diese digitalen Werkzeuge und Methoden also dabei helfen, marginalisierte Perspektiven in der Theaterhistoriografie sichtbar zu machen.
Arbeitsprozess
Der Arbeitsprozess der Zusammenstellung meiner Biografie begann mit der Auswahl der Person, über welche die Biografie verfasst werden sollte. Ich entschied mich für Viola Gabriele Schlesinger, da ich die Tatsache, dass sie auch außerhalb Europas ausgedehnte Reisen unternahm, äußerst spannend fand und gerne mehr über die Hintergründe herausfinden wollte. Der Fokus auf einen bestimmten Aspekt ihres Lebens und Wirkens grenzte den Suchbereich stark ein, was die Arbeit im Archiv deutlich erleichterte. Das vorhandene Material in den Archivboxen der Wienbibliothek im Rathaus war sehr umfangreich, es fanden sich darin nicht nur ihre veröffentlichten Bühnen- und literarischen Werke, sondern auch zahlreiche Entwürfe und Notizen, eine immense Anzahl an Gedichten und daneben private Schriftstücke wie Briefe, Postkarten oder Arztberichte. Nach der Sichtung der drei vorhandenen Archivboxen beschloss ich jedoch, den Fokus auf ihre Werke zu verlegen, da es zu ihren Reisen wenig Anhaltspunkte gab. So konnte ich beispielsweise nicht herausfinden, weshalb sie im Stande war, diese Reisen zu unternehmen, was für eine Frau zur damaligen Zeit eher ungewöhnlich war. War es ihre Arbeit als Korrespondentin bei der Neuen Freien Presse, die ihre Reisen ermöglichte? Waren sie zu beruflichen Zwecken oder privater Angelegenheit, aus dem Interesse an fremden Kulturen oder zur Inspiration ihres kreativen Schaffens?
Bei den in den Archivboxen enthaltenen Dokumenten, die sich mit Ländern und Kulturen befassten, handelte es sich zudem nicht um Reiseberichte, sondern um fiktionale Werke. Zwar spielten diese etwa in Indien, das Schlesinger auch selbst bereist hatte, jedoch gaben sie keine Anhaltspunkte für ihre dortigen Aufenthalte. Deshalb entschied ich mich dazu, stattdessen nach Hinweisen zu Schlesingers Privatleben und ihrem kreativen Schaffen zu suchen und ein umfangreiches Werkverzeichnis anzulegen. Im Handbuch der österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen war bereits ein Werkverzeichnis vorhanden, das ich nun mithilfe der Dokumente aus den Archivboxen ergänzen konnte. Das Handbuch hatte sich folgendes Ziel gesetzt:
„Die Aufnahme der (…) Autorinnen orientierte sich am Kategorienschema der Datenbank biografiA2 – bei dem, anders als bei herkömmlichen Datenbanken, die sich an männlichen Lebensläufen orientieren – das gewohnte Schema durchbrochen wurde, die bisher allgemeingültigen Kategorien infrage gestellt und zum Teil aus einer feministischen Sicht der Lebensläufe erweitert wurden. Besonders die Kategorienbereiche Namensformen, Beziehungen, Wirkungs- und Tätigkeitsbereiche wurden in einer Art und Weise gestaltet, dass sich auch speziell weibliche Lebensläufe, die meist nicht ohne Brüche verlaufen, erfassen lassen.“ (S. 9)
Es wurde also gezielt der Fokus auf weibliche Autorinnen gelegt, indem ein Schema herangezogen wurde, das nicht auf die männliche Norm ausgerichtet ist, um Begebenheiten zu berücksichtigen, die sonst nicht einbezogen werden. Auch das Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft: 18. bis 20. Jahrhundert, das ich für meine Recherche heranzog, bezog sich mit dem Fokus auf Jüdinnen*Juden explizit auf eine marginalisierte Gruppe, um Sichtbarkeit zu schaffen. So steht im Vorwort:
„Die Publikation versteht sich daher einerseits als ein Akt des Widerstands gegen das Vergessen und möchte andererseits einen, wenn auch kleinen Beitrag zur ‚geistigen Wiedergutmachung‘ leisten.“ (Blumesberger et al., Vorwort).
Besonders aufschlussreich für meine Recherche waren die Tagebucheinträge Arthur Schnitzlers, mit dem Schlesinger über Jahre hinweg sowohl im beruflichen Kontext als auch privat in Kontakt stand. In ihrem Nachlass in der Wienbibliothek sind einige Briefe Schnitzlers an Schlesinger enthalten. Sein Tagebuch, das komplett digitalisiert wurde und online zugänglich ist, lässt sich nach Stichworten durchsuchen und so können alle Einträge, die beispielsweise einen bestimmten Namen enthalten, herausgefiltert werden. Das erwies sich in Bezug auf Schlesingers Biografie als besonders hilfreich, da darin einige Informationen über ihr Privatleben enthalten waren. So konnte ich etwas über ihren familiären Hintergrund und über ihr Glaubensbekenntnis herausfinden. Hier zeigt sich erneut, wie die Disziplin der (feministischen) Geschichtsschreibung von den Digital Humanities profitiert. Wenn man bedenkt, dass Arthur Schnitzler jeden Tag in seinem Tagebuch dokumentierte, kann man sich den enormen Umfang dieser Einträge vorstellen. Ohne die Digitalisierung seiner Einträge und die Möglichkeit, diese zu filtern, wäre ich wohl nie an diese Informationen gelangt. Besonders für die Thematik unseres Seminars ist diese Quelle von großer Bedeutung, da über Theaterfrauen dieser Zeit außerhalb der analogen Archive teilweise wenig Material auffindbar ist. Kontakte zu „berühmten Männern“ erweisen sich in diesen Fällen als äußerst hilfreich, besonders wenn durch digitale Methoden Verknüpfungen hergestellt werden können. Eine Tatsache, die umgekehrt wiederum auf die patriarchalen Logiken des Sammelns, Aufzeichnens und Erinnerns verweist.
Die wohl größte Problematik bei den analogen Dokumenten im Archiv war die Entzifferung der Handschriften. Diese waren teilweise verblichen oder die Schrift verwischt, oder generell unleserlich, besonders für eine Generation, die kaum noch an das Lesen von handschriftlichen Dokumenten gewöhnt ist. Auch bei dieser Problematik kann die Digitalisierung Abhilfe schaffen.
Besonders beeindruckend war für mich die große Bandbreite an Genres, denen sich Schlesinger gewidmet hat. So finden sich in ihrem Nachlass Essays, Feuilletons, Märchen, Romane, Bühnenwerke, Erzählungen und zahlreiche Gedichte. Aber auch inhaltlich und thematisch besteht eine beeindruckende Diversität, die unter anderem Themen wie Politik, Kolonialismus, Kapitalismus, verschiedene Kulturen, Heirat und Religion beinhaltet. Auch was diese überwältigende Fülle angeht, könnte durch den Einsatz digitaler Methoden Abhilfe geleistet werden:
„Die Vorteile einer in diesem Sinne digital gestützten Theaterforschung liegen somit nicht nur in der Erschließung von Quellenmaterial und in der standortunabhängigen Verfügbarmachung von Digitalisaten und Metadaten. Durch eine gewinnbringende Verknüpfung von fachwissenschaftlicher Expertise und Methoden der Digital Humanities lassen sich vielmehr Analyse- und Visualisierungstools entwickeln, die einen maßgeblichen Beitrag leisten, um theaterhistoriografische Forschung zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern.“ (Probst/Pinto, S. 171)
Die Arbeit mit analogen Archivalien ist äußerst zeitaufwendig und könnte gerade bei unbekannteren Personen abschreckend sein. Eine feministische Online-Enzyklopädie bzw. ein digitales feministisches Online-Archiv könnte sowohl den Zugang zu den Dokumenten als auch ihre Durchsuchung und Verknüpfungen zu anderen Personen und Dokumenten erheblich erleichtern und mehr Menschen motivieren, sich mit diesen vergessenen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen.
Für zukünftige Forschungen zu Schlesinger wäre es etwa interessant, mehr über ihren Karriereweg in Erfahrung zu bringen, besonders hinsichtlich ihrer Arbeit bei der Neuen Freien Presse, sowie den Hintergründen zu ihren Reisen. Generell wäre eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren nicht-fiktionalen Werken mit Sicherheit aufschlussreich über ihre persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Einstellungen.
Fazit
Wien Geschichte Wiki ist zwar keine explizit feministische Plattform, kann aber, wie die Arbeit in diesem Seminar gezeigt hat, für das Sichtbarmachen von Frauen und marginalisierten Personen und damit intersektionalen Perspektiven genutzt werden. Trotz allem glaube ich, dass Plattformen, die ihren Fokus speziell auf Frauen und Randgruppen legen, einen wichtigen Beitrag in der feministischen Geschichtsschreibung leisten, da sie sich nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell an alternativen oder neuen Schemata und Strukturen orientieren. Dafür bedarf es jedoch sowohl einer Archivierung als auch einer sensiblen Digitalisierung von Daten marginalisierter Personen. Plattformen wie das Equality Archive oder Projekte wie dieses Seminar leisten dafür einen wertvollen Beitrag in die richtige Richtung.
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Literatur
Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. von Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt a. M./New York: Campus 1995, S. 73–97.
Lindsay Garcia, „Centering Intersectional Feminism Online: Equality Archive as Digital Humanities Praxis“, American Quarterly 73/1, 2021, S. 195–200.
Jan Lazardig et al., Theaterhistoriografie: eine Einführung, Stuttgart/Bern: UTB 2012. Nora Probst/Vito Pinto, „Re-Collecting Theatre History. Theaterhistoriografische
Nachlassforschung mit Verfahren der Digital Humanities“, Neue Methoden der Theaterwissenschaft, hg. v. Benjamin Wihstutz/Benjamin Hoesch, Bielefeld: transcript 2020, S. 157–179.
Susanne Blumesberger, „Schlesinger, Viola Gabriele von“, Handbuch der österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Band 2: M bis Z, Wien: Böhlau 2014, S. 1013–1014.
Susanne Blumesberger et al., „Schlesinger, Viola Gabriele (Maria) von“, Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft: 18. bis 20. Jahrhundert, hg. v. Österreichische Nationalbibliothek, Berlin/Boston: De Gruyter Saur 2011, S. 1211.