Die unendliche Ausweitung der endlichen Trauer. „Promising Young Woman“ und Trauerarbeit

von Jenny Unterkofler | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media

Vor über zwei Jahren feierte Promising Young Woman am 36. Sundance Film Festival Weltpremiere. Seitdem wurden nicht nur unzählige Rezensionen zum Film verfasst, sondern auch einige Nominierungen und sogar ein Oscar-Gewinn gefeiert. Neben all der internationalen Aufmerksamkeit rund um Handlung, Cast und Produktionsgeschichte wurde Emerald Fennells Regiedebüt übereilig in eine Schublade gesteckt.

Vom „bitterernsten Rachefeldzug gegen übergriffige Männer“ [1]

The Guardian bezeichnet Promising Young Woman als „rape-revenge satire“ [2]. Variety schreibt in einer vieldiskutierten Rezension über die „female revenge fantasy“ [3], während The New York Times den „feminist revenge thriller“ [4] kritisiert. Ob Satire, Fantasy oder Thriller, man ist sich der Bezugnahme auf das amerikanische Subgenre des Rape-and-Revenge-Movies einig, was auch die deutschsprachigen Kolleg*innen so übernehmen: „Einmal Rache, kalt und pink“ [5]. Die Hauptdarstellerin Carey Mulligan überzeuge als „Racheengel im Partyoutfit“ [6]. Ja, „Rache ist süß“ [7] …

Und es stimmt – nach der ersten Sichtung des Filmes mag mensch so einige Elemente davon wiedergefunden haben. Peter Lehman beschreibt in einem im Jahr 1993 erschienenen Aufsatz wesentliche Elemente der Rape-and-Revenge-Filme anhand von filmhistorischen Beispielen. Ausschlaggebend sei, dass das Subgenre von Männern und vor allem für das männliche Publikum eingeführt worden ist. [8] Der Plot solle demnach auch den männlichen Vorlieben entsprechen. Im Film verführen die missbrauchten Frauen jene Männer, welche ihnen zuvor noch Leid hinzugefügt haben. Diese höchst erotischen Momente weichen gewalttätigen Szenen, in welchen die Männer von denselben Frauen gequält und schließlich getötet werden. [9] Die Rache ist hier nicht ‚süß‘, sondern extrem ‚sexy‘. Da der sexuelle Höhepunkt nicht erreicht werden kann, enden die Filme im gewaltsamen Höhepunkt des Todes.

Promising Young Woman wurde hingegen nicht nur von einer Frau geschrieben, sondern spricht auch ein feministisches Publikum an. Fennell muss bereits beim Dreh davon ausgegangen sein, dass die Verbindung zum Rape-and-Revenge-Film aufkommen wird, denn sie stellt einige Szenen bewusst darauf ein. So etwa die Auflösung nach der ersten Auseinandersetzung: Cassie überquert die Straße blutverschmiert. Der Kameraschwenk nach oben in ihr Gesicht beruhigt schließlich – die rote Flüssigkeit ist nur übermäßig herabtropfendes Ketchup des Hot Dogs, den sie gerade isst. Die Regisseurin baut solche augenzwinkernden Andeutungen immer wieder gezielt ein, um mit der Rezeptionshaltung der Zuschauenden zu spielen. Hier läuft alles anders.

Dreihundertfünfundsiebzig Stichwörter zum Plot

Es geht um etwas anderes. Die Männer, welche auf Cassies Spiel hereinfallen, sollen weiterleben. Sie dürfen auch weiterhin feiern, aber müssen sich ihrer selbst und ihren Handlungen bewusst werden. Unangenehme Szenen sollen nicht mehr vorkommen. Cassie konnte ihre beste Freundin Nina vor einigen Jahren allerdings nicht davor schützen. Auch deren Selbstmord konnte Cassie nicht aufhalten.

Sieht so Rache aus? Die Filmplattform IMDb listet insgesamt 375 Schlüsselbegriffe zu Promising Young Woman und es überrascht nicht wirklich, dass sich der Großteil davon auf Variationen von „rape“ und „revenge“ bezieht. Darunter zählen nur wenige vereinzelte Begriffe auf etwas ganz anderes: Die thematischen Ausreißer*innen unter den Schlagworten scheinen, den kritischen Gehalt des Films auf einer anderen Ebene zu identifizieren, die ihn als Verhandlung von Trauerarbeit lesbar macht.

# dead best friend; # mourning one’s friend

„Der erste Tod, der einem im Leben begegnet […] ist für gewöhnlich nicht der eigene Tod, sondern der Tod eines anderen Menschen […].“ [10] Und in Cassies Leben ist dieser erste Tod, dem sie begegnet, ausgerechnet der ihrer besten Freundin. Sie hatten sich als Kleinkinder kennengelernt und seitdem alle Lebensabschnitte gemeinsam gemeistert, auch das erfolgreiche Medizinstudium. Unzertrennliche Freundinnen. Bis hin zu diesem einen Abend, an welchem Nina von einem anderen Studenten auf einer Party missbraucht wurde. Danach war sie nicht mehr dieselbe. Es folgte ihr Selbstmord. Zurück blieb Cassie.

# stuck in the past; # unable to move on

Es wird schnell deutlich, dass Cassie nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch den Spaß am Leben verloren hat. Sie bricht ihr vielversprechendes Studium und den Kontakt zur Freundesgruppe ab, lebt weiterhin bei ihren Eltern und entwickelt sich zu einer Außenseiterin. Nach der täglichen Arbeit in einem Café verbringt sie die restliche Zeit zuhause und schaut sich allein alte Fotos mit Nina an. Außer es ist Wochenende, dann spielt sie ihr Spiel und lässt sich – angeblich betrunken – von ausbeuterischen Männern mit nach Hause nehmen, um diese dann aber dort zu belehren. Verlässlich hängt dabei stets ihre Hälfte der Freundschaftskette um Cassies Hals.

Cecilia Valenti schreibt, dass sich Trauernde in einen Zustand der „ausschließlichen Hingabe“ [11] begeben würden. In dieser Situation drehe sich alles nur um das Andenken und Pflegen der Verstorbenen. Dieser Anteilnahme an Ninas Tod verfällt Cassie vollends. Die nicht enden dürfende Trauer um das verlorene Leben ihrer besten Freundin hat sich so stark in ihrem Dasein verinnerlicht, dass sie ohne nicht mehr leben kann. Sie lebt, um die Erinnerung an Nina fortleben zu lassen. Kein Tag vergeht ohne intensiver Beschäftigung mit dem einschneidenden Verlust ihrer Wegbegleiterin. Cassie wirkt nicht wie eine wütende, nach Rache dürstende Person. Wenn man ihre Handlungen auf eine Emotion zurückführen möchte, dann ist das jene der Trauer – auch wenn bereits Jahre vergangen sind, seitdem sie ihre beste Freundin verloren hat. Ungeachtet dessen beschäftigt sie sich täglich mit Ninas An- und Abwesenheit, denn: in Cassies Leben bleibt sie anwesend.

# traumatized protagonist

Im Moment der tiefen Trauer eröffnet sich nicht nur die eigene Verwundbarkeit, sondern die dem Menschen grundlegende Interdependenz. [12] Durch die Beziehungen, die wir untereinander knüpfen, machen wir uns den anderen gegenüber verwundbar. Damit ist vor allem die Verletzungsgefahr auf der emotionalen Ebene gemeint. Letztendlich wird in dem Moment der Trauer diese Interdependenz widergespiegelt. Wer ist Cassie ohne Nina? Wir wissen nichts über Cassies Vorgeschichte, aber klar scheint, dass Nina ein elementarer Teil ihrer Entwicklung war: „I couldn’t believe she wanted to be my friend“, sagt Cassie voller Dankbarkeit. Es muss ein enormer Verlust für sie gewesen sein, den sie bis heute noch nicht überwunden hat.

# letting go and moving on; # unable to forgive self

Cassie ist jahrelang schon mit diesem überwältigenden Schmerz beschäftigt, bis sie zufällig auf einen ehemaligen Studienkollegen trifft. Ryan war schon zu Studienzeiten in Cassie verliebt und schafft es, sie zu einem Date zu überreden. Cassies Eltern sind außer sich: endlich lebt ihre Tochter wieder. Es ist ungewohnt, sie lachen zu hören und glücklich zu wissen. Hier könnte ein Rape-and-Revenge-Film mit Happy End nun abschließen. [13] Auch Sigmund Freud erkennt das Ende der Trauer in der Zuwendung zu einem neuen Objekt, welches die verstorbene Person nun ablöst und ein freies Weiterleben der Trauernden ermöglicht. [14] Die Überwindung der Trauer und die damit einkehrende Wiederherstellung von Cassies Lebensfreude ist scheinbar erreicht, [15] doch da erhält sie das ausschlaggebende Video zum Tathergang von Ninas Missbrauch. Im Hintergrund spricht eine allzu bekannte Stimme.

Cassies Leben hätte glücklich weitergehen können – sie hätte sich wahrscheinlich auf eine Zukunft mit Ryan einlassen können. Aber nun ist er klar auf der Seite der Täter positioniert. Es scheint so, als ob Cassie selbst darüber lachen muss, dass sie fast an eine glückliche Beziehung glauben konnte. Doch in ihrer Welt ist sie nur umgeben von (Mit-)Täter*innen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als die „Endlichkeit der Trauer“ [16] auf einen unendlichen Zeitraum zu verlängern. Das Ende der Trauer findet zeitgleich mit dem Tod Cassies statt.

Wie anfangs dargestellt, beziehen sich die internationalen Rezensent*innen in ihrer Analyse allerdings ausschließlich auf den Aspekt der Rache. Die in Promising Young Woman durchgängig porträtierte Facette von reflexiven Sorgepraktiken des Trauerns im Kontext von sexueller und sexualisierter Gewalt findet hingegen keinen Platz in den vorherrschenden Medien, obwohl der Film den komplexen Trauerprozess über Verlust und Gewalterfahrung sensibel veranschaulicht. Er verdeutlicht das aus Täter*innen und Mittäter*innen bestehende Konstrukt, aus welchem eine missbrauchte Person allzu oft keinen Ausweg mehr findet. Vielleicht ist die relevanteste Botschaft des Films tatsächlich die, uns eine solche Erfahrung näherzubringen und darauf hinzuweisen, dass es für das außenstehende Umfeld im schwierigen Prozess der Trauer elementar ist, den Opfern und Trauerenden endlich mehr Gehör zu schenken.

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Referenzen

[1] Hering, Lili, „Cassandras erstickende Schreie”, Zeit online, 23. 04. 2021, https://www.zeit.de/kultur/film/2021-04/film-promising-young-woman-carey-mulligan, 29. 01. 2022.

[2] Bradshaw, Peter, „Promising Young Woman review – a deathly dark satire of gender politics”, The Guardian, 15. 04. 2021, https://www.theguardian.com/film/2021/apr/15/promising-young-woman-review-carey-mulligan, 29. 01. 2022.

[3] Harvey, Dennis, „‚Promising Young Woman‘: Film Review“, Variety, 26. 01. 2020, https://variety.com/2020/film/reviews/promising-young-woman-review-1203480660/, 29. 01. 2022.

[4] Catsoulis, Jeannette, „‚Promising Young Woman‘ Review: Courting Dangerous Liaisons“, The New York Times, 24. 12. 2020, https://www.nytimes.com/2020/12/24/movies/promising-young-woman-review.html, 29. 01. 2022.

[5] Wiesner, Maria, „Einmal Rache, kalt und pink“, Frankfurter Allgemeine, 19. 08. 2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/neu-im-kino-carey-mulligan-als-racheengel-in-promising-young-woman-17490640.html, 29. 01. 2022.

[6] Zeithammer, Sabina, „Racheengel im Partyoutfit“, Falter, 18. 08. 2021, https://www.falter.at/zeitung/20210818/racheengel-im-partyoutfit/_bc61b07e22, 29. 01. 2022.

[7] Jahn, Pamela, „Rache ist süß“, ray Filmmagazin, 03. 2021, https://ray-magazin.at/rache-ist-suess/, 29. 01. 2022.

[8] Vgl. Lehman, Peter, „Don’t blame this on a girl“, Screening the male. Exploring masculinities in Hollywood cinema, hg. v. Steven Cohan/ Ina Rae Hark, London/New York: Routledge 1993, S. 106.

[9] Vgl. ebenda, S. 107.

[10] Anderson, Inga, Bilder guter Trauer. Neue Sichtbarkeiten der Trauer in der Psychologie, Philosophie und Fotografie, Leiden [u.a.]: Fink 2018, S. 11.

[11] Valenti, Cecilia, „Trauer medial denken. Die Sorge um den Anderen im militanten Dokumentarfilm der 1970er Jahre“, Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/24, 2021, S. 48.

[12] Vgl. ebenda, S. 49.

[13] Vgl. Lehman, „Don’t blame this on a girl“,S. 105.

[14] Vgl. Valenti, „Trauer medial denken“, S. 49.

[15] Vgl. Anderson, Bilder guter Trauer, S. 46.

[16] Valenti, „Trauer medial denken“, S. 49.