Dédé Vania

Regie: Tomi Janežič, Theater Akzent, 31. Mai 2023

Dédé Vania © D. Matvejev

«Un rire énorme que brise un sanglot qui renvoie au rire originel» (Amélie Grondin)

Das Stück Dédé Vania, inszeniert von Tomi Janežič, erzählt die Geschichte einer Niederlage gegen die Normalität. Zu Beginn des Stücks sagt der Arzt: Er hat einen großen Schnurrbart, er ist ein „Creep“ und die „Intellektuellen“ bezeichnen ihn, wenn sie nicht wissen, welches Etikett sie ihm anheften sollen, als „seltsam“. Aber er ist ein Charakter, der mich tief berührt hat. Er versucht, eine Rückkehr zur Natur, zum Wald zu predigen, um sich von seinem Zustand zu befreien. Mehrmals versucht er, das junge und hübsche Mädchen mitzureißen. Doch sie zieht es vor, in der Bequemlichkeit des Hauses und des Paares, das sie mit einem alten Professor bildet, zu bleiben. Wie sein Scheitern, die Person zu retten, die er zu Beginn des Stücks auf seinem Esstisch vorfindet, resultieren alle seine Handlungen in einem Scheitern.

Das Bühnenbild ist sehr interessant. Das Dach besteht aus kunststoff-Wellplatten und sieht aus, wie das Dach einer Garage oder eines Abstellraums, in dem die Dinge stehen, die im Haus nicht mehr gebraucht werden: ein nicht funktionierender Motorroller, eine alte Couch, Theater- oder Kinositze und der Esstisch, der nicht in die zu kleine Küche passt.
Die Charaktere sind trotz ihrer Skurrilität sehr liebenswert. Der Professor wird vom Zahn der Zeit geplagt, das Alter ist für ihn die schlimmste Geißel, aber er glaubt, dass es die anderen sind, die unter seinem Alter leiden. Das Mädchen, das sich selbst als hässlich empfindet, befindet sich ebenfalls in einer äußerst rührenden Situation: Sie ist nicht schön und kann sich der Liebe nicht hingeben. Sie versucht mehrmals, sich von diesem Bild zu lösen, indem sie dem Arzt ihre Liebe vorsingt oder schickere Kleidung anprobiert.

Ich habe bei diesem Stück nicht unbedingt gelacht. Ich fand es pathetisch, grotesk und traurig – aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht genossen habe. Gerade der übertriebene Humor, die Witze, die zu lange dauern, die übertriebene Aggressivität und die Pantomime sind eine wunderbare Ode an das Scheitern. Diese Inszenierung erinnert mich an das neue Theater. Ich rücke es in die Nähe von Jean Genet, der ebenfalls von einer Tragödie sprach, die nur über das Unglück und die Gewalt lacht. Er beschreibt sie als ein „gewaltiges Lachen, das von einem Schluchzen gebrochen wird, das auf das ursprüngliche Lachen verweist“ („rire énorme que brise un sanglot qui renvoie au rire originel“).

Die mehr als vier Stunden, aus denen das Stück besteht, sind kaum verstrichen und ich war trotz einiger sprachbedingter Schwierigkeiten von der Ausdruckskraft der Schauspieler*innen berührt. Leider erlaubten es die Untertitel nicht, den Dialogen, Einwürfen und Improvisationen der Schauspieler*innen vollständig gerecht zu werden.


Aber tut doch was!
(Louise Batallé)

Der slowenische Regisseur Tomi Janežič bietet uns eine großartige Adaption von Tschechows Onkel Wanja. Das Bühnenbild und die Inszenierung bleiben schlicht, aber farbenfroh, inspiriert von den 1980er und 90er Jahren. In diesem Stück findet man subtile Dialoge, psychologischen Realismus und eine gewisse Melancholie mit viel Humor.

Inszenierung und Schauspiel verwischen die Grenze zwischen Bühne und Publikum. Die dekorativen Kronleuchter hängen im Saal, eine Perücke geht im Publikum verloren, die Schauspieler*innen setzen sich selbst ins Publikum und essen während der Pause auf der Bühne, was als Dekoration diente. Die vierte Wand wird mehrmals durchbrochen: Das Publikum ist eingeladen, mit diesen Charakteren zu leben. Die tschechowschen Figuren werden ausgenutzt: Jeder ist deprimiert, niemand hat wirklich etwas erreicht, alle sind immer am Klagen, aber es gibt auch Momente von Tiefe und berührender Verletzlichkeit, untermalt von Popmusik der 1990er Jahre.

Das Absurde ist ebenfalls im Stück präsent und gibt eine gewisse Leichtigkeit zu den tragischen Elementen. Die einzige Figur, die aktiv handelt und ein Ziel im Leben hat, ist ein Arbeiter, der während des gesamten Stücks die absurde Aufgabe hat, eine Atmosphäre auf der Bühne zu schaffen, indem er die Schauspieler*innen im Schlamm herumlaufen lässt oder Wasser aus einer Gießkanne gießen lässt, dann stoppt und verkündet „The rain is over“.

Die Dualität zwischen Komik und Tragik wird während der fünfstündigen Aufführung, die sich wie zwei Stunden anfühlt, sehr gut umgesetzt. Die Qualität des Schauspiels ist lobenswert. Jede Figur hat ihre Geheimnisse, Momente der Verletzlichkeit oder Vulgarität, und man fühlt für jede*n von ihnen eine Sympathie. Die Schauspieler*innen haben den Text voll ausgeschöpft und improvisierten um ihn herum. Leider waren die Improvisationen nicht untertitelt (Inszenierung auf Litauisch), aber das sehr menschliche und fast groteske Spiel der Schauspieler*innen ermöglichte ein vollständiges Verständnis. Jeder Moment war erfüllt von Herzlichkeit und Menschlichkeit, was dieses Stück zu einem gemeinsamen Erlebnis machte, das man nicht verpassen sollte.


Am Ende werden wir leben
(Till Kanis)

Das Theater Akzent ist höchstens zu drei Vierteln gefüllt und eine große Kreidetafel verkündet den heutigen Fahrplan dieses Kraftaktes von einer Inszenierung. Über mehr als vier Stunden spielt sich das zehnköpfige Ensemble des The State Small Theatre of Vilnius durch Tschechows Onkel Wanja und schafft unter der Regie von Tomi Janežič ein wahres Schauspielfest.

Auf einer verhältnismäßig minimalistischen, mit Spanplatten ausgekleideten Bühne tummeln sich die Figuren rund um den namensgebenden Onkel und seine Familie. Diese wohnt auf einem ausgedehnten Landgut und lebt dort ein einfaches, aber ruhiges Leben. Als der Gatte von Wanjas verstorbener Schwester auf das Gut zurückkehrt, spitzen sich die Ereignisse zu und die Anwesenden verlieren sich in diversen Fehden sowie Streitereien rund um Liebe, sozialen Status und Neid. Parallel wird hin und wieder musiziert, die spärliche Bühneneinrichtung zerstört und dem Alkoholismus gefrönt.

Was zunächst nach einem gewöhnlichen Abend mit Tschechow klingt, erweist sich im Verlauf der Vorstellung immer mehr als chirurgisch genau inszenierte Milieustudie, in der keine der Figuren wirklich zu seinem Glück findet. Das litauische Ensemble spielt mit reduziertem Witz, bricht von Anfang an die Form auf und weiß mit einiger Raffinesse zu improvisieren. Dabei wechseln sich in den besten Momenten Humor und emotionale Tiefe Schlag auf Schlag ab und führen die Zuschauer*innen auf eine manchmal langsame aber niemals langweilige Reise in die Welt der chronischen Verlierer*innen.

Jede der Figuren im 1980er Jahre-Look besticht durch ihre Reduziertheit, ihr intrinsisches Leiden zwischen Exzess und Niederlage sowie ihren Charm im Spiel mit dem Publikum. Man nimmt sich selbst nicht zu ernst und schafft es dennoch, Onkel Wanja in ganzer Härte und Trauer auf die Bühne zu stellen. Anderthalb Jahre intensive Probenjahre haben sich mehr als ausgezahlt und nach dem letzten Akt bei vollem Saallicht bricht zurecht für mehrere Minuten frenetischer Applaus los.


Spontane Brillanz und tiefsinniger Humor: Dédé Vania von Tomi Janežič
(Anna-Luisa Mahaffy)

Tomi Janežičs Inszenierung Dédé Vania katapultiert das Publikum in das russische Landleben des 20. Jahrhundert und schafft sogleich einen berührenden und doch urkomischen Theaterabend. Dédé Vania basiert auf dem bekannten Stück Onkel Wanja von Anton Tschechow, das die tiefsten Sehnsüchte und schmerzhaftesten Frustrationen des menschlichen Lebens thematisiert. Die Inszenierung von Janežič durch das Vilnius-Maly-Theater verleiht dem Stück zusätzliche Aspekte, die durch improvisatorische Elemente, einen einzigartigen Humor und eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und den Schauspieler*innen beeindrucken.

Janežič ist ein Regisseur, der seine Stücke im Kollektiv erarbeitet, wobei er ganz bewusst den gängigen Zeitdruck in den Produktions- und Probenphasen ausspannt. Er nutzt seine Erfahrung als ausgebildeter Psychodrama-Therapeut, um eine sichere und unterstützende Umgebung für die Schauspieler*innen zu kreieren, wodurch sie ihr kreatives Potenzial entfalten und eine starke emotionale Bindung zu ihren Charakteren aufbauen können, um die vielfältigen Persönlichkeiten auf der Bühne darzustellen. Janežič ermöglicht den Schauspieler*innen einen Freiraum, in dem eigene Ideen einbebracht werden können, wobei er gleichzeitig die Produktion lenkt, um den roten Faden der Handlung nicht zu verlieren. Diese symbiotische Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler*innen ist in jeder Szene spürbar und trägt zum Erfolg des Stücks bei. Janežič nutzt dabei den stetigen Bruch der vierten Wand. Es wird mit dem Publikum gespielt, geredet, gescherzt, was die Zuschauer*innen nicht nur zum Lachen, sondern auch wieder zurück in den Theatersaal bringt und somit zum Nachdenken sowie Reflektieren der Handlungen angeregt. Es ist demnach keine große Überraschung, dass Janežič ein Verfechter des Brechtschen Theaters ist. Zudem scheint es, als würden die Schauspieler*innen auf der Bühne improvisieren und spontane Entscheidungen treffen, was der Inszenierung eine lebendige, spontane Atmosphäre verleiht und eine gewisse Authentizität vermittelt. Die Interaktionen wirken auf natürliche Weise, was einen gewissen Raum für Überraschungen und unvorhergesehene Wendungen bietet.

Der Humor in Dédé Vania ist clever und vielschichtig. Die Schauspieler*innen nutzen vor allem eine Situationskomik, um das Publikum zum Lachen zu bringen. Die komischen Elemente sind jedoch nicht oberflächlich, sondern haben oft einen tieferen Sinn, der zum Nachdenken anregt. Es ist bemerkenswert, wie Tomi Janežič den Humor geschickt in die Handlung integriert und so das Publikum auf einer intellektuellen und emotionalen Ebene anspricht.

Das Bühnenbild ist minimalistisch, jedoch effektiv, wobei das Scheinwerferlicht geschickt eingesetzt wird, um einerseits die Stimmung und Atmosphäre zu gestalten und andererseits die Handlung zu unterstreichen. Dabei wird mit Licht und Schatten, teilweise humoristisch, teilweise metaphorisch und melancholisch gespielt. Die Kostüme in Dédé Vania sind einfach, aber gut durchdacht. Die Charaktere sind in alltäglichen Kleidungsstücken gekleidet, die ihre Persönlichkeiten widerspiegeln. Gleichzeitig ist der Kleidungsstil den 1980er Jahren entsprungen, was eine groteske Verbindung zu unseren heutigen Modetrends schafft. 

Dédé Vania ist eine faszinierende Inszenierung mit einer gekonnten Mischung aus naturalistischen Elementen und intelligentem Humor. Tomi Janežičs Zusammenarbeit mit dem gesamten Kreativteam schafft eine lebendige und mitreißende Performance. Das Bühnenbild, das Spiel mit dem Scheinwerferlicht, die musikalische Begleitung und die Kostüme tragen zum Gesamterlebnis bei und machen Dédé Vania zu einer empfehlenswerten Theaterproduktion.


Nur ein (un)perfekter Tag
(Dennis Traud)

Draußen frühsommerliche Temperaturen, drinnen ein oft gespielter Theaterklassiker, in dem nichts und doch so viel passiert, mit einer angekündigten Länge von fast fünf Stunden. Und dann in einer Sprache, die vielen im Publikum wohl fremd ist. Was heißt eigentlich Langeweile auf Litauisch?

Doch man wurde glücklicherweise bei diesem ausgezeichneten und auch in Wien gefeierten Gastspiel des State Small Theatre of Vilnius schnell eines Besseren belehrt. Der slowenische Regisseur Tomi Janežič inszenierte Dédé Vania als schrullig-spaßige und berührende Charakter- und Beziehungskomödie an diesem erfrischenden Theaterabend – und dass, obwohl auf die Übertitel nicht immer Verlass war. Der Stoff ist ohnehin bekannt: Wanja und Sonja verwalten gewissenhaft und penibel das Landgut der verstorbenen Schwester bzw. Mutter. Als Serebrjaków mit seiner neuen Frau zurückkehrt, droht das dort so trostlose Leben für einen kurzen Moment aus den Fugen zu geraten. Der gescheiterte Professor möchte das Gut verkaufen und lieber in Aktien investieren – das ist lukrativer, um seinen Ruhestand abzusichern. Seine gesamte Existenz in Frage gestellt sieht Wanja nur eine Möglichkeit: er schießt auf seinen Schwager und verfehlt ihn doch wieder, zweimal. Am Ende wird das Gut nicht verkauft und alles bleibt, wie es ist.

„Wir müssen leben“ ist einer der bekanntesten Sätze des Stückes und wie lässt sich die unausweichliche menschliche Existenz besser aushalten als mit dem trocken-herzlichen Humor, mit dem Janežič und das Ensemble die „liebenswürdigen Verlierer*innen“ zum Leben erwecken. Slapstick und Situationskomik, alles hervorragend getimt und von den vor allem komödiantisch überzeugenden Darsteller*innen regelrecht ausgekostet. Dabei wird auf inhaltlicher Ebene (bis auf ein paar Aktualisierungen) nichts hinzugedichtet. Die Inszenierung ist dem originalen Stück gegenüber – mit seinen ganzen Beobachtungen über die Banalitäten des Alltags, die sich nur mit Arbeit und Alkohol therapieren lassen – sehr textgetreu. Tschechow bezeichnete seine Stücke nicht ohne Grund als Komödien. In einem Bühnenraum aus Pressspannplatten und Wellblechdecke, der an eine Baustelle oder eine Lagerhalle erinnert, bewegen sich die Charaktere in einem ziellosen Durcheinander oder stehen einfach verloren in der Gegend herum. Menschen kollidieren, Schränke brechen zusammen und Lebenspläne platzen. Man redet von verpassten Chancen, unerwiderten Liebschaften und einem unerfüllten Leben. Man verliert sich im Lamentieren über das Leben und den technischen Fortschritt, während die Menschen stagnieren. Nichts will so richtig gelingen, auch die Special Effects nicht.

Zeit ist ein übergeordnetes Thema des Stücks, und auch Janežič gibt seinen Darsteller*innen scheinbar unbegrenzt Zeit, Tschechows Text, den man sicher in weniger als zwei Stunden abspulen könnte, in aller Ruhe und Breite zu entfalten. Mit der Zeit lernt man die Charaktere sowie ihre Beziehungen untereinander immer besser kennen und fühlt sich selbst als Teil dieses stillen Familiendramas, das sich vor einem abspielt. Die Gruppe der bemitleidenswerten Gestalten, die auf der Bühne des Lebens umherirren, wird immer wieder durch musikalische Pop-Rock-Einlagen und metatheatrale Interaktionen mit dem Publikum und der Technik aufgelockert. Das alles ist so lustig und traurig zugleich und wirkt so herrlich unperfekt, wie es im Leben meistens zugeht.

Am Ende weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll und man fragt sich, ob man Tschechow je wieder anders lesen kann. Das Theater Akzent war an diesem bei der ersten von lediglich zwei Vorstellungen leider bei weitem nicht vollständig gefüllt, vielleicht schreckte die Dauer viele Besucher*innen ab. Es entging ihnen ein perfekter Theaterabend, der auch gerne noch länger hätte gehen können.