SIGNA
Haus der Republik
Samstag, 24. Mai & Sonntag, 25. Mai 2025

Simulation startet in 3,2,1 …
Katharina Petsch
Am Ende ist da dieser lange Gang. Spärlich ausgeleuchtet mit flackernden Lichtern. Der Geschmack von Dosenpfirsichen und Eierlikör liegt dir auf der Zunge. Nicht einmal deinen eigenen Namen kannst du dir richtig merken und manchmal fragst du dich, wann es einfach vorbei sein wird.
Wien, 25.05.2025 Die Theatergruppe SIGNA verwandelt für ihre immersive Performance-Installation das ehemalige ORF–Funkhaus – und jetzige Wiener Festwochen Haus der Republik – in ein Altenheim, genauer gesagt in eine Alzheimerstation, auf dieser sich die Teilnehmenden, begleitet von rund 40 Performer*innen, auf eine individuelle Zeitreise durch das eigene Leben begeben. In einer geführten Simulation lassen sie ihr aktuelles Ich zurück und versetzen sich in ihr altes, pflegebedürftiges Ich, das über den Verlauf von ganzen sechs Stunden sich in der fremden Umgebung immer wieder verloren vorkommen mag und ziemlich schnell feststellen muss: es geht allmählich auf das Ende hin.
Nach einer kurzen Einführung in die Simulation und das Aufteilen in kleinere Gruppen, werden die Teilnehmer*innen unmittelbar in ihre neue Situation geworfen. Es ist nicht klar, was genau alles um einen herum passiert und spätestens nach dem Tausch von der privaten Kleidung zu bereitgestellten Jogginganzug und Pantoffeln sowie dem Überwurf des neuen Namens mittels Lätzchen findet man sich nun allmählich in der simulierten Rolle angekommen. Das heimliche Spicken auf das eigene Namensschild oder die verzögerte Reaktion auf eine Adressierung der eigenen Person lassen dann im einen oder anderen Moment fast an die Demenzerkrankung glauben.
Die nächsten Stunden verfliegen überraschend schnell – mit Ausnahmen von wenigen Längen. Es geht unmittelbar von einem Raum in den nächsten, Begegnungen mit anderen „Heimbewohner*innen“ und dem Pflegepersonal leiten geschmeidig durch die bis ins kleinste Detail ausgestatteten Räume. Meine Simulation beinhaltete sogar eine Erinnerungsreise zum eigenen Kind, das man zunächst gar nicht erkennen vermag. Dabei konfrontieren diese Interaktionen das pflegebedürftige Ich immer wieder mit Fragen rund um den Tod und der Reflexion über das eigene Leben. Situationen können durchaus intimer werden als einem vielleicht lieb ist, die eigenen Gedanken und Gefühle können herausgefordert werden. Und wäre die teilweise unangenehme Situation in einem tristen Pflegeheim – Setting nicht schon genug aufwühlend, wird nach und nach deutlich, dass die Welt außerhalb dieses Heimes apokalyptisch den Bach runter geht. Ressourcen sind knapp, weshalb Menschen von außen in das Heim eindringen wollen, Leute schießen auf Kinder und von draußen hinter den abgedunkelten Fenstern, die keinen Blick hindurch zulassen, dringt stetig Hundegebell und das Donnern von Bomben. Die Stimmung ist bedrückend, es riecht nach alten Menschen und Urin.
Besonders hervorzuheben sei allerdings die aufwendig erschaffene Kulisse und die beeindruckende logistische Planung hinter der ganzen Performance. Die Akteur*innen tragen jede*r für sich einen entscheidenden Beitrag zu einem stimmigen Gesamtbild bei und die mit viel Aufwand und Liebe zum Detail ausgestatteten Räume halten die Simulation zu jedem Zeitpunkt aufrecht. All das in Kombination erleichtert das Einlassen auf die „neue“ Lebenssituation im simulierten Pflegeheim – etwas, das sicherlich ein hohes Maß an Offenheit der Teilnehmer*innen erfordert, um das Erlebnis in seiner ganzen Tiefe für sich ausschöpfen zu können.
Etwas bedauerlich wirkt am Ende, dass – wie sich in Gesprächen nach der Performance zeigt – nicht alle Teilnehmenden dieselben Erfahrungen machten, obwohl dies zu Beginn so angekündigt wurde. Ein einzigartiges Erlebnis bietet SIGNAs Das letzte Jahr allemal. Nichtsdestotrotz sollte man sich als Teilnehmer*in bewusst sein, dass man mit Fragen und Situationen konfrontiert wird, die mit Sicherheit nicht immer leicht zu verdauen sind. Ganz unvorbereitet sollte man dieses immersive Theatererlebnis besser nicht betreten – denn wer sich ohne Vorwissen hineinbegibt, läuft Gefahr, dass das pflegebedürftige Ich schnell aus den Pantoffeln gehauen wird
„Spielen Sie nicht, spüren Sie“ – Sterben, Karaoke und Eierlikör im Heilzentrum Wieden
Sarah Baumgartner
Am Ende wartet der Tod. Schluchzend. Ganz in weiß. Sowie ein letzter Gang im Schein flackernder Deckenleuchten. Doch bis dahin: Karaoke. Eierlikör. Serviettenfaltwettbewerb. In Signas neuer immersiver Produktion Das letzte Jahr verwandelt sich das ehemalige Funkhaus in der Argentinierstraße in ein Altersheim einer ungewissen Zukunft – und das Publikum in seine pflegebedürftigen Bewohner*innen.
Sechs Stunden lang lebt man als Frau Leitner, Herr Streng oder – in meinem Fall – Frau Raffelsberger. Oder, wie man mich bald liebevoll nennen wird: Raffi. Der neue Name kommt mit neuer Kleidung: graue Jogginghose, blaues, viel zu großes Spitalshemd, weiße Wellnessschlapfen. Der Eintritt in diese Welt beginnt mit dem Entzug von allem Eigenen – inklusive Handy. Zurück bleibt nur das Jetzt und das Hineinversetzen in sein zum Sterben geweihtes Ich.
„Nicht zusperren!“, mahnt die Pflegerin beim Toilettengang. „Groß oder klein?“ Die Fragen sind so direkt wie entwaffnend. Man ist nie allein, nie unbeobachtet – das Hiersein bedeutet auch: ausgeliefert sein. Und doch ist es keine kalte Beobachtung, sondern eine intime, manchmal fast liebevolle Begleitung in einen Zustand, den viele lieber verdrängen: Abhängigkeit. Altern. Loslassen.
Doch dieses Loslassen ist nicht gleichbedeutend mit Kontrollverlust – es ist vielmehr ein anderes Erleben von Präsenz. Denn plötzlich wird etwas möglich, was das Leben sonst kaum erlaubt: im Moment zu sein. Das Nichtkonforme, das Unangepasste – es darf hier sein. Vielleicht muss es das sogar.
Signa nennt das Ganze dabei nicht einfach Theater, sondern Simulation: „Spielen Sie nicht, spüren Sie“, heißt es im Einführungsvideo von „Lethe Simulationswelten“. Und tatsächlich: Man spürt. Die Inszenierung zwingt niemanden – sie verführt. Zum Mitgehen. Zum Mitfühlen. Es ist ein durchkomponiertes Chaos, in dem jeder Weg einzigartig ist und doch alles synchron funktioniert. Der Besuch der Tochter. Die Feinmotoriktherapie. Der Abschiedsraum.
Wir singen Karaoke. „Ich liebe das Leben“ flötet Vicky Leandros aus den Lautsprechern. Zwischen akustisch-vernehmbaren, dumpfen Explosionen und Hundegebell dringt demnach die Melodie einer tiefen Lebenslust durch die Station. Die Welt draußen ist nur noch eine Ahnung – das Kriegs-Setting bleibt diffus. Man weiß: Die Welt brennt, aber hier drinnen ist alles auf Pause. Oder: bereits danach.
Wir sind im Gymnastikraum. Wir werfen uns Bälle zu und sagen dem Gegenüber, was wir in dessen Augen sehen. „Ein Rätsel“, sagt eine Figur zu mir. Ich nehme das mit wie ein kleines Geschenk. Was bleibt am Ende, wenn fast alles vergessen ist? Vielleicht genau das: dass wir füreinander ein Rätsel bleiben dürfen.
Zwischen Gymnastikraum und Speisesaal fließt dabei nicht nur Tee. Eierlikör, Stamperl, verschütteter Kaffee. Die Eigenart und der Geruch des Lebens ist bei Signa nie gefiltert. Viele der Figuren, vom Leben gezeichnet, tragen ihre Geschichten wie alte Narben – und manchmal trifft einen die Alkoholfahne der Schauspielerin mit solcher Wucht, dass man sich fragt: Spielt sie noch?
„Das Karussell wird sich weiterdreh’n, auch wenn wir auseinandergeh’n“, tönt Vicky Leandros gemeinsam mit den Stimmen der Darstellenden und singlustigen Teilnehmenden weiter aus dem Karaokeraum durch die Flure. Namen von Verstorbenen werden über Lautsprecher durchgesagt. Niemand bleibt. Und trotzdem bleibt alles irgendwie da.
Das letzte Jahr ist kein Theaterabend, sondern ein Zustand. Eine Zwischenwelt, die einen einholt, verändert – und, so paradox es klingt, einem etwas zurückgibt: das Gefühl, lebendig zu sein. Nicht, weil es tröstlich oder bedeutungsvoll wäre, sondern weil es schonungslos ehrlich ist. Weil das Sterben hier so greifbar ist, dass das Leben – auch wenn es sich manchmal als Karaokeschlagersong tarnt – umso lauter zurückschreit.
Ein intensives, überwältigendes Erlebnis.
Eine existentiell-aufrüttelnde Erinnerung: Du bist noch hier.
Frau Felbermeier stirbt. Und ich auch ein bisschen.
Fiona Bienhaus
Ein Pflegeheim im Ausnahmezustand. Krieg, Hunger und der Tod schallen aus Lautsprechern, während mein pflegebedürftiges Ich, Frau Felbermeier, mein letztes Jahr in der Simulation der Firma „Lethe“ verbringt. So erfolgt das immersive Erlebnis des Künstlerkollektivs Signa, das mit der Weltpremiere Das letzte Jahr eine beunruhigende Nähe zwischen Pflege, Kontrolle und Kontrollverlust herstellt.
Schon der Einstieg erinnert an dystopische Spielsysteme: In Gruppen sortiert, mit Uniform (Jogginghose, T-Shirt, Pantoffeln), wird uns der Alltag als dementiell Erkrankte zugemutet. Doch wer hier spielt, verliert. Emotionale Authentizität ist Pflicht. Folgende sechs Stunden gliedern sich in drei Teile: Die Pflegestation, der Wohnraum und ‚andere Räume‘. Das erste Drittel verbringe ich in der Pflegestation. Dort wird Gymnastik praktiziert, mit Lupe gelesen und Karaoke gesungen. Hört sich friedlich an – ist es nicht so ganz. Kriegsgeräusche und Hundebellen von Draußen lösen ein beklemmendes Gefühl aus. Thematisiert wird das Ganze eher beiläufig ängstlich von den schauspielenden Pfleger*innen, sowie den ebenfalls schauspielenden demenzkranken Personen. Etwas mehr Hintergrundgeschichte und Kontext wären wünschenswert gewesen. Die darauffolgende Evakuierung in die Wohnräume eröffnet eine neue narrative Wendung: Hier wird es körperlich grenzwertig. Eine Szene rund um Nacktheit, Macht und Übergriffigkeit überschreitet nicht nur Rollenbilder, sondern auch persönliche Komfortzonen. Die Enge des Raums verstärkt das Gefühl von Ausgeliefertsein unserer pflegebedürftigen „Ichs“. Aus der Situation rettet mich meine „Tochter“, die ich nicht erkenne. Sie zeigt mir „meine Enkelin“, Bilder von früher und durch ihre bemerkenswerte schauspielerische Leistung, werde ich emotional in eine Mutterrolle gedrückt. Die dritte Phase, welche erneut einen Raumwechsel mit sich brachte, nahm mich mit auf eine Reise in meine Vergangenheit. Ich erlebte vor meinem bevorstehenden Tod nochmals Erinnerungen, wie Kirschenpflücken in einem dunklen Raum mit meiner vergangenen Liebe und einen leicht verstörenden, alkoholisierten Bar-Abend mit Armdrückwettbewerb. Das große Finale wurde durch eine Simulationsunterbrechung angekündigt und es starb Frau Felbermeier – und mit ihr ein Teil von mir. Auf der auditiven Ebene erfüllte das ganze Gebäude daraufhin ein herzzerreißendes Weinen, welches sowohl emotional als auch körperlich meinen Versuch einer aufrechtzuerhaltenden Fassade scheitern ließ. Das Finale im nebligen Gesangshimmel verfehlte seine Wirkung nicht, aber die Simulation bröckelt. Vielleicht war es dann doch nur Theater.
Das letzte Jahr ist keine Inszenierung, die man konsumiert, es ist ein Ausnahmezustand auf Zeit, der körperlich wie emotional fordert. Signa gelingt es, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufzulösen und das Publikum in radikale Intimität und Angewiesenheit zu zwingen. Die Erfahrung bleibt ambivalent: intensiv, verstörend, bewegend und nicht ohne Nachhall. Ich ertappe mich noch dabei, an meine „Tochter“ zu denken, an ihre Stimme, „meine Enkelin“, ihre Geschichten. Vielleicht war alles nur Spiel. Vielleicht aber auch ein kurzer Moment echter Nähe inmitten der Simulation.
„Nicht spielen, sondern spüren“
Laura Lewandowski
Mein Name Frau Auer – wie ich hier gelandet bin, keine Ahnung und was ich hier mache, ist auch unklar.
Das letzte Jahr ist ein immersives Stück von dem Künstler*innenduo Signa. In dieser sechststündigen Aufführung soll man sich in sein Pflegebedürftiges-Ich hineinversetzten, das auf einer Demenzstation in einem Pflegeheim lebt und sein letztes Jahr verbringt. Im Hintergrund sind ständig Kriegsgeräusche zu hören, da außerhalb von dem Heim Bürgerkrieg herrscht.
Die Einführung in die Simulation erfolgt durch fünf Wächter und Wächterinnen, die Mitarbeitende der Firma „Lethe“ sind. Diese erläutern was während der Simulation zu beachten ist und wie man eine persönliche Simulationsunterbrechung signalisieren kann. Besonders wichtig ist, dass man nicht ansprechen darf, dass es sich um eine Simulation handelt. Außerdem soll man sich auf die Simulation einlassen und nicht spielen, sondern spüren. Im darauffolgenden Moment werden wir in kleine Gruppen unterteilt und jeder beginnt seine Reise durch das Pflegeheim an unterschiedlichen Stationen. Sofort bekommt man ein Leibchen mit einer Nummer und seinem neuen Namen drauf. Um sich besser in die Simulation hineinversetzten zu können, muss man auch seine Alltagskleidung ausziehen und bekommt von dem Wachpersonal neue Klamotten, die alle nur in eine gewisse Farbpalette aus beigen und blau-grünen Tönen passen. Die verschiedenen Räume und Situationen führen zu einem Chaos der Gefühle. Ruhige Momente bei einem Teekränzchen oder bei einer Fußmassage werden unterbrochen von emotional aufwühlenden Momenten. Auf einmal bekommt man Besuch von seinem eigenen „Sohn“, an den man sich nicht mehr erinnern kann oder man muss evakuiert werden, da das Heim angegriffen wird. Viel Hintergrundinformation zu dem Krieg erfährt man jedoch nicht. Lediglich wirken die Evakuierungen als Mittel zum Wechsel der Stationen. Ein großes Thema der Immersion, ist der Alkoholkonsum. Bei Gelegenheit bekommt man Schnaps, den man sich auch ab und zu bei den Simulant*innen kaufen kann. Die Reise führt mich weiter von dem skurrilen Besuch einer Bar zu einer Karaoke Session, in der Frau Auer schließlich stirbt. Besonders emotional wird nach dem eigenen Tod auf der auditiven Ebene gearbeitet. Weinende Schreie von vermeintlichen Angehörigen verfolgen uns auf dem Weg in den Himmel. Dieser besteht aus einem benebelten Raum mit weißen Gestalten, welche zu einem Sprechgesang und erschütternden Trommelschlägen sich bewegen. Schlussendlich führt das Wachpersonal eine Desimulation durch, wobei die Grenze zwischen Realität und Simulation verschwimmt.
Die sechs Stunden vergehen wie im Flug, durch ständige Situationswechsel wird mein pflegebedürftiges Ich zeitlos. Die Räume und die Inszenierung wurden speziell für das Haus der Republik entworfen und detailgetreu realisiert. Insbesondere ist der muffige Geruch einem in der Nase geblieben. Eine Erfahrung, die das eigene Selbst hinterfragt, zur Auseinandersetzung mit schwierigen Situationen im Leben einlädt und das einen tiefgreifend mitnimmt. Sogar nach dem Stück grübelt man noch lange nach und das Erlebnis hinterlässt viele Denkanstöße und eine einzigartige Erfahrung.
Zwischen Lätzchen und Loslassen
Anja Döllinger
Wie fühlt es sich an, in sein letztes Lebensjahr einzutreten?
In der sechsstündigen Theaterperformance des Künstlerkollektivs SIGNA erleben die Teilnehmer*innen hautnah, wie sich das letzte Jahr in einem Pflegeheim anfühlen kann. Die Zuschauer*innen schlüpfen in die Rolle alter, dementer Menschen und werden aufgefordert, ganz in ihr pflegebedürftiges Ich einzutauchen. Es ist ein intensives, vollkommen immersives Erlebnis – verstörend, berührend und tiefgreifend.
Zu Beginn wird die gesamte Gruppe der Teilnehmer*innen in einen nüchternen Raum geführt. Dort erklären die Simulationsleiter*innen in autoritärem, fast militärischem Ton den weiteren Ablauf. Schon hier beginnt die Transformation: Die Gruppe wird in kleinere Vierergruppen aufgeteilt, und es wird eindringlich darum gebeten, den Anweisungen der Leitung unbedingt Folge zu leisten. In einem grellen Zimmer mit mehreren Krankenbetten erhält jede*r Teilnehmer*in eine Tasche mit persönlicher Ausstattung: eine Hose, ein Hemd, Socken, Schlapfen, eine Bauchtasche sowie ein Lätzchen mit einer Nummer und einem zufällig zugeteilten Namen. Dieses neue, fremde Ich dient dazu, das jetzige Ich abzulegen und sich ganz in die neue Rolle zu begeben. Obwohl die Kleidung frisch gewaschen war, hatte ich das Gefühl, sie hätte bereits ein früheres Leben hinter sich – als hätte jemand anders sie schon getragen. Diese skurrile Einstiegsszene erinnert mich an die Anfangsszenen der koreanischen Serie Squid Game – auch hier regiert die surreale Mischung aus Kontrolle und bizarrer Ästhetik. Schauspieler*innen in Mäusekostümen, die als ‚Helferlein‘ agieren, verstärken das absurde Szenario noch zusätzlich.
Die Räume des Funkhauses werden in ein detailgetreu gestaltetes Pflegeheim verwandelt: Krankenhausbetten, abgenutzte Möbel, verblasste Gegenstände und ein trister, pastellfarbener Mix aus Rosa, Blau und Grau dominiert das Setting. Es wirkt gleichzeitig vertraut und fremd – ein Ort zwischen Leben und Verfall.
In den zu Beginn angesprochenen sechs Stunden geistert man als pflegebedürftige Person durch die Flure dieses Heims – jedoch nie allein. Pflegepersonal, Mitpatient*innen und gelegentliche Besucher*innen begleiten einen durch die Tage, die sich endlos zu dehnen scheinen. Gemeinsam werden Klassiker wie Vom Winde verweht gelesen, Servietten gefaltet, leichte Gymnastikübungen durchgeführt oder Karaoke gesungen. In der Ruhezone gibt es sogar die Möglichkeit, sich bei einer kurzen Fußmassage zu entspannen. Und inmitten dieser Routine tauchen sie auf – diese kostbaren, flüchtigen Momente von Schönheit, Nähe und Leichtigkeit. Für einen Augenblick vergisst man das Schwachsein, das Kranksein. Man vergisst sogar, dass es eine Simulation ist. Doch dann gibt es Momente, die mich aus der Simulation herausreißen – und ein tiefes Unwohlsein in mir auslösen. Es ist der ständige, oft ungefragt nahe Körperkontakt mit den Pfleger*innen, die allgegenwärtige Kontrolle, die zwar als Hilfe daherkommt, aber schnell als Bevormundung empfunden wird. Besonders eindrücklich ist der Toilettengang – eine Erfahrung, die in ihrer Intimität und Fremdbestimmtheit kaum zu beschreiben ist. Die Tür darf nicht vollständig geschlossen werden, Privatsphäre ist nur bruchstückhaft möglich. Selbst das Toilettenpapier – spärlich und rationiert – wird zum Symbol für den Verlust von Autonomie.
Diese Performance hat mich auf unbeschreibliche Weise berührt und wirkt noch lange nach. In manchen Szenen kann ich mich vollkommen hineinversetzen, bin emotional ganz nah dran – in anderen bleibe ich auf Distanz, fast wie aus einer anderen Realität. Der stärkste Schockmoment trifft mich allerdings erst nach dem Ende: als ich wieder draußen stehe, zurück in der sogenannten Wirklichkeit, der realen Welt.
Nein, sorg‘ dich nicht um mich, du weißt, ich werde dich eh vergessen
Adel Ermak
Ein von der Außenwelt abgeschottetes Paralleluniversum – ein Wien, das unter dem niederschmetternden Mantel eines allumfassenden Krieges liegt und der scheinbar letzte Zufluchtsort, an dem ein Hauch von Sicherheit zu spüren ist: eine Demenzklinik in Wieden und wir – die Patient*innen, die immer mehr mit dem Vergessen zu kämpfen haben und durch das letzte Jahr unseres Lebens geführt werden. Jetzt, während ich das hier schreibe, bin ich zwar bereits seit einigen Stunden wieder in der Realität angekommen, jedoch fühlt es sich so an, als wäre ein Teil von mir noch immer im ORF-Funkhaus und würde an der immersiven Installation Das letzte Jahr des Künstler*innen-Duos SIGNA teilnehmen – so sehr hat mich diese Erfahrung mitgerissen und geprägt.
Die Rahmenhandlung lässt sich folgendermaßen beschreiben: Ein Simulationsunternehmen ermöglicht dem Publikum eine inszenierte Reise zum Ende ihres individuellen Lebens. Zu Beginn legen wir die privaten Gegenstände ab und erhalten ein Kostüm und einen neuen Nachnamen, was dabei helfen soll, sich in das sogenannte „pflegebedürftige Ich“ hineinzuversetzen. Mittels meditativer Szenarien und einem Hilfsvideo wird man in die von SIGNA gestaltete Welt eingeführt – in eine Welt der Demenzkranken, eine Welt des Vergessens und Loslassens; des Verabschiedens und Dahinscheidens.
Es gestaltet sich als nahezu unmöglich, hier von klassischen theatralen Konzepten wie „Kostüm“, „Bühnenbild“ oder „Schauspielenden“ zu sprechen. Vielmehr taucht man als Rezipient*in in eine Welt ein, die auf allen Ebenen der Wahrnehmung funktioniert und sich in ihrer Gesamterscheinung auf jeglicher Ebene der Beschreibung einer klaren Inszenierungskonfiguration entzieht.
Man lernt Figuren kennen – mitsamt ihrer Geschichten, die teils humorvoll, teils an emotionalen Grenzen kratzend wiedergegeben werden. Nach einem – und ich bin mir sicher, auch nach mehreren Aufführungsbesuchen – ist die Palette an Charakteren, die hier porträtiert werden, bestehend aus Mitpatient*innen, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und eigenen Familienmitgliedern nicht allumfassend nachzuvollziehen, genauso wenig wie die unzähligen Flure, Kammern, Treppen und Säle. Die Art und Weise, wie die Aufführung erlebt wird, ist so individuell, wie ihre Zuschauenden (oder eher: Mitmachenden, Partizipierenden). Die möglichen Kombinationen, wie die hier verbrachten sechs Stunden gestaltet sein könnten, scheinen endlos.
Die begleitenden Figuren, die sich zwischen den Ebenen des Spiels befinden – zwischen „Simulant*innen“ und Zuschauenden – sind eine Art Anleiter*innen, die für eine*n da sind, sollte eine Unterbrechung nötig sein (hierfür gibt es eine dezidierte Code-Geste) und die im letzten Drittel der Aufführungszeit einen kleinen Check-In durchführen, in dem sie mit je kleinen Gruppen aus dem Publikum reflektieren, welche Erkenntnisse diese bisher sammeln konnten. Es entsteht der Eindruck eines nicht enden wollenden doppelten, dreifachen, vierfachen… Bodens – was ist echt und was nicht? Wer bin ich und wieviel von mir selbst ist noch da, wenn ich mit einem mir völlig fremden Nachnamen angesprochen werde? Und ist mir dieser nach den sechs Stunden überhaupt noch so fremd, oder ist es eher meine Realität, die nach dem Hinausschlüpfen aus der Rolle irgendwie… unbekannt scheint?
Während die Installation sich im Verlauf der sechs Stunden immer mehr entfaltete und ich alle Chancen nutzte, neue Figuren kennenzulernen oder bereits bekannte weiter zu erforschen, arbeitete eine ganz außerordentliche Art der Reflektion in mir auf Hochtouren. Etwas zutiefst Menschliches, alle Menschen im Kern Verbindendes wird in diesem Werk eingeschlossen und beim Höhepunkt – im Tod – entfacht.
Der erste Satz, den ich nach Vorstellungsende zu meinen Kolleg*innen gesagt habe und auch derjenige, mit dem ich diesen Versuch der Erfahrungswidergabe abschließen möchte, ist:
„Ich bin nicht dieselbe, die ich vorher war“.
Themenpark des Todes
Moe Inoue
„Edutainment“ ist ein Konzept der Firma KidZania, die für Kinder bis zum Alter von 15 Jahren Erlebnisse in verschiedenen Berufswelten bietet. In „a real city for Kids“ können Kinder ihren Traumjob ausprobieren und in die Welt der arbeitenden Erwachsenen eintauchen – passend gekleidet als Krankenschwester, Feuerwehr:frau, Bäcker:in usw. Mit dem Konzept „Edutainment“, bei dem sich „education“ und „entertainment“ verbinden, lässt sich die simulierte Welt also als eine Einrichtung der amüsanten Erziehung verstehen. Nun könnte man die Performance Das letzte Jahr des dänisch-österreichischen Theaterkollektivs Signa auch als eine amüsante Gattung – jedoch für Erwachsene und viel ernster – erachten, denn man entkleidet sich in Pflegekluft in unlebhaften Farbtönen, taucht langsam in die eigene simulierte Welt von Signa ein und erlebt sie mit dem eigenen Körper und simulierten alten Seelen. Man nascht also das letzte Jahr vor dem eigenen Tod und den „Tod“ tatsächlich einmal.
Es werden im Altersheim häufig eigene Familien der Pflegebedürftigen besucht. So hatte ich als „Frau Strohmann“ auch einen Besuch Meines[1] Sohnes, an dessen Namen ich mich einen Tag nach der Aufführung nicht mehr erinnern konnte. Doch selbst gestern konnte ich mich nicht daran erinnern, dass Ich überhaupt einen Sohn habe. Die Teilnehmenden der Theaterperformance bekommen am Anfang von einem unheimlich wirkenden, aber gleichzeitig netten Mitarbeiter der mysteriösen Firma „Lethe Simulationswelten“ eine ganze Kluft, ein Namensschild und dazu die Anweisung, dass wir ein älteres Ich abrufen und langsam darin eintauchen sollen. Allerdings ist das alles, was man vor der Aktivierung des pflegebedürftigen Ichs bekommt. Dadurch gelingt es der Signa-Performance, eine natürliche Demenzsituation auf die Bühne zu bringen, indem sie die tatsächlichen Wahrnehmungen der Teilnehmenden nutzt, die ebenfalls die verwirrende Demenz erleben, da die – simulierte – Frau Strohmann keine Ahnung von ihrem Sohn, ihrer alten Liebhaberin und ihrem ganzen Leben hat. Im Pflegeheim gab es letztlich weder ein Willkommen noch ein berührendes Wiedersehen, sondern lediglich eine verwirrende Begegnung mit einem anderen Menschen. Dementsprechend schreibt Signa: „Du weißt nicht, wie du hierhergekommen bist oder wann. Du erinnerst dich nicht daran, was du verloren hast, aber du weißt, es ist enorm.“
Während der Schaukelstuhlstunde kam eine andere pflegebedürftige Frau zu Mir, also Frau Strohmann, und sagte unsicher, aber vor verwirrter Freude nur so strotzend: „Du bist … du bist doch Sophie!“ Ich erinnerte mich jedoch kaum selbst an Meinen Namen. Anscheinend hieß Ich Sophie Strohmann. Später hat Mich Mein Sohn besucht und Mir einen Brief dieser Frau gegeben. Darin stand, dass sie Meine ehemalige Liebhaberin in Meiner jüngeren Zeit gewesen sei und sich sehnlich ein Wiedersehen hier im Altersheim wünsche. Mein Sohn hat versprochen, sie zu Mir zu holen. Doch kam plötzlich das Ende des Lebens in einem Wohnzimmer, während wir in einer Kleingruppe einen verfaulten Apfel beschrieben. Noch bevor Mein Sohn die Frau zu Mir mitbringt. Alles ist, was ich verloren habe: die Liebe, schöne Erinnerungen an die Vergangenheit und die allerletzte Chance, die ehemalige Liebhaberin zu erkennen und noch einmal voller Herzenswärme in die Arme zu schließen.
Allerdings ist bei Signas grauer Vorstellung des Ersterbens zu fragen, ob jeder, der sich dem Sterbebett annähert, zwangsläufig depressiv sein oder körperlich schwer leiden muss, wie Signa es hier demonstrierte. Alle Teilnehmenden und Simulanten befanden sich anscheinend in einer Demenzklinik und dürften nicht heiter sein. Es könnte auch sein, dass wir alle gerade unser letztes Jahr begonnen haben. Alles, woran wir uns jetzt erinnern können, was wir jetzt besitzen, kann irgendwann verloren gehen, deshalb sollten wir von jetzt an unsere wichtigen und lebenden Besitztümer, wie Familie, Freunde und Erinnerungen, gut aufbewahren. So lehrt uns Signa durch den letzten Tag unseres simulierten Lebens.
[1] Da es sich bei der theatralen Inszenierung um zwei verschiedene Ichs handelt, wird im Kontrast zum realen Ich das pflegebedürftige Ich namens Strohmann beim ersten Buchstaben immer großgeschrieben.
Gedanken eines bröckelnden Hirns
Amba Botland
Gestern hat mir mein verwirrter Kopf geschwirrt, der Entschluss ‚eine Nacht darüber zu schlafen‘ war recht schnell gefasst. Nun ist es der nächste Morgen und die Träume haben sich mit dem Stück vermischt. Das Gefühl bleibt gleich.
Dass die anderen Teilnehmenden eine komplett andere Reihenfolge der Räume und Begegnungen hatten, scheint absurd – meiner war dramaturgisch perfekt. In Gesprächen bei der dringend benötigten Zigarette danach erfuhr ich recht schnell, dass die anderen ähnlich bezüglich ihrer Abläufe fühlten. Gratuliere, SIGNA – das Konzept scheint aufzugehen!
Ebenfalls war ich erstaunt, dass sich nicht nur die Reihenfolge der Begegnungen, sondern auch deren Inhalte von Person zu Person unterschieden haben. So haben manche Mitstreiter:innen eine gewisse sexuelle Übergriffigkeit der „Simulant:innen“/Schauspieler:innen kritisiert. Außer der Puderpistole, die beim Herrn Dreschler (Arthur Köstler himself!) auf dem Tisch lag, ist mir nichts dergleichen untergekommen. Darüber bin ich recht froh, da das Erlebte auch ohne sexuelle Übergriffe stellenweise am Zuviel sein knapp vorbeigeschrammt ist. Die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Erfahrungen erinnert ans echte Leben – wir sind alle im selben Stück, doch gleicht keine Erfahrung der anderen.
„Nicht spielen, fühlen!“ – so lautet die Anweisung, die man vor Beginn der „Simulation“ erhält. Dem habe ich probiert Folge zu leisten, nur um dann recht schnell zu merken, dass andere Teilnehmende dieses Stück nutzen wollten, um ihren großen Träumen einer Schauspielkarriere ein Stück weit näher zu kommen. Das hat zu einigen Verwirrungsgefühlen geführt, da ich für meinen Teil versucht habe mich zu öffnen und aus meinem echten Leben zu schöpfen, während sich der neben mir sitzende Studienkollege als Friedensnobelpreisträger outete. Ich denke, das Stück geht so oder so auf und im Endeffekt geht es darum für sich selbst die früchtebringendste Erfahrung zu kreieren.
Ab und zu hatte ich Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich mich vielleicht nicht allzu sehr hätte öffnen sollen… Ein Beispiel hierfür ist das „Wartezimmer“, bzw. der Erinnerungsraum. Durch die Dunkelheit und die simulierte Geborgenheit war es erschreckend leicht für mich einer fremden Person, deren Gesicht ich nicht sehen konnte, mein gesamtes Kindheitstrauma sowie meine größten Ängste mitzuteilen. Diesen Raum habe ich dann mit einem recht mulmigen Gefühl verlassen, da ich mir nicht sicher war, ob diese Schauspielerin das wirklich alles hören wollte und ob dies das richtige Setting dafür war. Die Logik spricht dagegen, gefühlsmäßig hat es allerdings gepasst. Ich denke, in dieser Theatererfahrung ist die Logik ohnehin fehl am Platz. Außerdem konnte ich nicht lange in diesem Gefühl marinieren, da ich von meiner Geisterfreundin der Erinnerung in die Bar geführt wurde und die nächste halbe Stunde in einem Schockzustand verbracht – und mit reichlich Vodka hinuntergespült – habe.
Erst im Einzelgespräch mit dem äußerst feschen Simulationsleiter kamen die Bedenken des ‚Oversharings‘ wieder auf. Dieser konnte mich allerdings damit beruhigen, dass das genau das Ziel dieses Stückes ist: sich mit seinen eigenen Erfahrungen in einer simulierten Realität auseinanderzusetzen. Die Schauspieler:innen sind bestens auf genau solche Situationen vorbereitet. Weiters fragte er mich warum es mir denn unangenehm sei, mich zu öffnen. „Angst vorm Zuviel sein“, etc…. permanent wurde man gezwungen sich mit seinem Inneren auseinander zu setzen – wie anstrengend! (Auf eine sehr gute Art.)
Da es Nachtkritik heißt und nicht Nachtich-lobe-alles-an-diesem-Stück, ist es nun Zeit zu kritisieren: Die letzten zwei Minuten des Stückes waren überflüssig. Beziehungsweise haben sie mir nicht gefallen. Nachdem ich mich fünf Stunden und achtundfünfzig Minuten auf eine vermeintliche Realität eingelassen habe und sie Stück für Stück angenommen habe, fühlte sich das Ende zu sehr nach „Theater“ an. Auf einmal war ich wieder Zuseherin und es wurde etwas aufgeführt. Ich war nicht mehr Teil des Geschehens. Vielleicht ist das Absicht, um den Teilnehmenden die Rückkehr in ihr echtes Leben zu erleichtern – ich persönlich, hätte jedoch lieber ein wenig länger in diesem Gefühl gebadet.
So oder so wird mich das Stück noch länger begleiten – Tage, Wochen? – und ich bin froh über die Erfahrung. „Froh“ ist vielleicht das falsche Wort. Ich denke, es braucht ein wenig, bis ich klare Gedanken fassen und formulieren kann – vor allem bin ich erstaunt.
Über Heterotopie, Harnprobe und Himmelstor
Anna Stippel
„DAS LETZTE JAHR“, die aktuelle immersive Produktion des Künstler:innenduos SIGNA im Funkhaus Wien, lädt ein, sich mit dem eigenen Sterben zu konfrontieren. Als Bewohner:innen eines Pflegeheims in Wieden kann sich das Publikum durch eine individuelle Abfolge an Erfahrungen durch unterschiedliche Räume bewegen. Das Einzige, das einen Bruch mit dieser Illusion zulässt, ist die Tatsache, dass diese in der Narration in eine Simulation des Unternehmens „Lethe Simulationswelten“ eingebettet ist. Das Publikum befindet sich also in einer Simulation des eigenen letzten Lebensjahres. Von sogenannten Simulationsleiter:innen werden immer wieder Simulations-unterbrechungen durchgeführt, die auch selbst im Rahmen einer Geste eingefordert werden können. Dieses Konzept der Mehrstufigkeit führt zu einem immersiven Erlebnis, in das das Publikum eingeführt wird und bei dem scheinbare Unterbrechungen in die Narration soweit eingebettet sind, dass es unmöglich wird, sich dieser zu entziehen. Ein Raum der sich mit Michel Foucaults Begriff der Heterotopie greifen lässt:
„Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“
(Foucault M., Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 – 46)
Der geschlossene Raum verfolgt eigene Logiken, in die sich das Publikum mehr oder weniger bereitwillig integriert. Es kommt zu Handlungen, die in diesem Kontext scheinbar selbstverständlich sind, in den allermeisten anderen Performance- und Theatersituationen jedoch undenkbar sind. Bereits nach einer kurzen Einführung in das Simulationserlebnis, wird das Publikum in kleine Gruppen aufgeteilt und ist aufgefordert, sich mit einigen anderen gemeinsam in einem Mehrbettzimmer umzuziehen. Die darauffolgenden Erlebnisse sind von Person zu Person unterschiedlich, da nicht alle jeden Raum durchlaufen. Das Publikum wird von den Performer:innen konsequent wie pflegebedürftige, alte Menschen mit Demenz behandelt: Getränke gibt es aus Schnabeltassen, manche werden gefüttert, wer während dieser sechsstündigen Performance auf die Toilette muss, bekommt erst nach Antwort auf die Frage „Groß oder klein?“ die entsprechende Menge Toilettenpapier ausgehändigt. Die Türe darf dabei nicht abgeschlossen werden, man könnte stürzen oder kollabieren. Privatsphäre gibt es nicht mehr, stattdessen Urinproben und Gespräche über die eigene verlorengegangene Libido. Was in anderen Kontexten absurd erscheint, wird hier wie das „normalste“ der Welt gehandhabt und vom Publikum mitgetragen, das sich in die neue Rolle einfügt und entsprechend verhält. Mit Foucault lässt sich sagen, dass hier Räume vereint werden, die scheinbar unvereinbar sind. Immerhin befindet sich das Publikum zeitgleich im ehemaligen ORF-Funkhaus-Wien (Argentinierstraße) – während den Festwochen das Haus der Republik – in einer Performance der Wiener Festwochen – in einer Simulation – in einem Pflegeheim.
Auch der Bruch mit der gewohnten Zeitwahrnehmung bettet sich in Foucaults Konzept ein. Handys und Schmuck werden abgegeben, alle Uhren, die innerhalb der Rauminstallationen hängen, gehen falsch. Es scheint unmöglich, im Überblick zu behalten, wie viel Zeit vergangen ist. Obwohl es sich im Nachhinein, nach Ende der Performance und dem Zurückkehren in den gewohnten Lebenskontext, nicht anfühlt, als wären sechs Stunden vergangen, wirken die Szenen oft lange bzw. langweilig; es wird viel Zeit mit Warten verbracht – auf Ärzt:innengespräche, die nicht kommen – auf die nächste Therapie – auf das Aufstehen und Weitergehen von anderen Personen, letzlich darauf, dass etwas passiert.
So langsam die Zeit vergeht, so plötzlich kommt am Ende der Tod, den das gesamte Publikum gleichzeitig „erlebt“. Alle begeben sich – erbittert weinenden Engelsfiguren folgend – nacheinander in einen großen Saal, in dem weiß dominiert. Die Engelspuppen, die in weißer Spitze gekleidet sind, erinnern an Bräute und auch der große Saal mit weiß-goldenen Luftballonketten und weißem Konfetti wirkt als wäre man eher auf einer christlichen Hochzeit, als in einer christlich inspirierten Jenseitsvorstellung angekommen. Dies dauert jedoch nicht lange an, denn darauf folgt der Bruch mit der Simulation. Die sogenannte Desimulation soll das Publikum zurück in den Körper des eigenen Alters bringen. Doch auch hier erfolgt ein Bruch. Die Desimulation wird immer wieder von Elementen der Simulation unterbrochen, bis schließlich die gesamte Simulation für beendet erklärt wird.
Glitching life simulation
M.L.
Signa’s performance for this year’s edition of the Wiener Festwochen is an
apocalyptic immersion into the last year of our lives. In the former Funkhaus, the performance collective rearranged the rooms into a cold, dark, medical facility for seniors with memory loss, its interior design following a strict palette of pastel colours. All the windows are hidden behind curtains and from out there comes a constant background noise of bombs exploding and dogs barking. An eerie feeling of insecurity slowly grows from this loop sounds but also from the anxiety of the simulators here to give impulses in our adventure.
Similar to a video game, each member of the audience follows a different storyline, with varying side quests. Getting into the skin of our older self, we can decide how much of the outside world we want to know, how many shots we want to drink and how much we want to open up to our emotions and reflect on our own approaching death. Each step of the six-hour long performance is choreographed by patients, doctors, nurses but also the agents of the simulation with whom you can interrupt your experience at any time.
Signa has succeeded in making me believe, if only for a moment, that I might have lost my mind, that what’s happening outside of the facility, the war, the brotherhood attacking the building were events I could not understand because I could not remember them. However, it also got me thinking of the present world I live in. It felt wrong to be in a simulation of a war, when I know that at this same time thousands of lives are in danger in other places of the world, in Gaza, in Ukraine, in Sudan. It felt like playing war, when others are dying under bombs, only that I was never afraid to die since I knew it was a simulation. I wonder if that mysterious war background story was necessary to make the audience feel closer to their dying self.
Another aspect of the simulation was unsettling as well: the arbitrarily assumed gender and sexuality of the audience. The simulators and agents of the simulation referred to our characters by only Frau X or Herr Y by assuming our gender just by the way we looked, which I can imagine being a painful or awkward situation for a gender queer person. But also, through the performance, some members of the audience were being told they have/had a husband or a wife which to my knowledge were exclusively heterosexual couple. This situation can be unsettling for queer audience who already fight in their daily life to always justify their gender and sexuality. If Signa really wanted the audience to get closer to their ego in need of care (Pflegebedürftigen Ich) shouldn’t other forms of life realities be taken into account? Of course we cannot know what future awaits us, but I wonder if a simulation should be hurtful or rather an attempt to expand our empathy. Anyways, isn’t this experience another validation of our privileges as Western Europeans, who did not have had to live through war or hunger since decades?
Von Tod, Stuhlgang und der Intimität
Jan Schüssler
„Du erinnerst dich nicht daran, was du verloren hast, aber du weißt, es ist enorm.“ Mehrmals ertönt dieser Satz während der interaktiven Theaterinstallation Das letzte Jahr über die Lautsprecher des nachgeahmten Altersheims, der Spielort für Theatermacher:innen und Publikum ist. Die Worte sind direkt an die Teilnehmer:innen gerichtet, welche im neusten Projekt des Künstlerduos SIGNA, mithilfe eines intradiegetischen Simulationsverfahrens in die Rolle einer pflegebedürftigen Person schlüpfen sollen. Der von den Lautsprechern verkündete Verlust wurde zum Leitmotiv meiner persönlichen Erfahrung.
Wie zu Anfang der Installation erklärt wird, liegt die Aufgabe nicht darin, eine Figur zu spielen, sondern einfach eine Veränderung im Selbst zu „fühlen“. Drastischer ist schon die Empfindung von Identitätsverlust, wenn man das eigene Gewandt gegen ein Set von unpassender Heimkleidung tauschen muss und einen neuen Namen zugeteilt bekommt. Das Fehlen von funktionsfähigen Uhren und die verzweigten Gänge und Räume lassen einen immer mehr das Gefühl für Zeit und Raum verlieren. Trotz ständigen Gesprächen hat man selten den Eindruck richtig kommunizieren zu können und so verliert man auch immer mehr den Bezug zu den Menschen. Dabei lässt der konstante Wechsel zwischen Besucher:innengruppen auch keine Bindung zu den anderen Mitgliedern des Publikums zu. Man verliert die eigene Wirkungskraft, da man von den zahlreichen Schauspielenden von einer Aktivität zur nächsten gedrängt wird.
Am intensivsten habe ich jedoch gespürt, wie für Heimbewohner:innen jegliche Intimität verloren gehen muss. Themen wie Sexualität und Selbstbefriedigung werden durch die Ärzte und Pfleger zu einem freizeittechnischen und hygienischen Anliegen erklärt und damit komplett institutionalisiert. Selbst der Gang auf die Toilette darf nicht mehr ohne Begleitung stattfinden, welche ihre Anwesenheit während des gesamten Prozesses spürbar macht. Die Beziehungskonstellation zwischen Darsteller:innen und Publikum macht deutlich, dass man hier als „Zuschauer:in“ nicht mehr die beobachtende Rolle einnehmen kann. Als Bewohner:in des Pflegeheims wird man selbst zur Zielscheibe eines konstanten Blicks von außen. Jede Bewegung wird beobachtet und jede Aktion bewertet. Das letzte Jahr zeichnet ein düsteres Bild vom Leben in Pflegeheimen und macht die erdrückende Kraft der Institution physisch und psychisch spürbar.
Im Kontrast zu den gesamten vorherigen fünfeinhalb Stunden war es darum umso berührender, als ich im Finale Teil einer Szene wurde, in der Kontakt zwischen den Teilnehmer:innen hergestellt wurde. Wir saßen zu sechst mit einem Schauspieler bei einem Körper, der mit einem Leichentuch bedeckt war. Die Aufgabe bestand darin, unsere Gedanken zum Thema Abschied zu teilen. Ich erzählte von einem Verwandten, den ich vor kurzem verloren hatte, ohne Abschied nehmen zu können. Plötzlich teilten zwei Besucherinnen ähnliche Schicksale mit der Gruppe. Der kleine abgeschirmte Raum war auf einmal von einer unfassbaren Melancholie ergriffen. Tränen flossen. Köpfe wurden an Köpfe gelehnt. Eine solche Nähe zwischen wildfremden Menschen habe ich vorher noch nie gespürt.
Prepare to die
Coura-Lale Talll
Das dänisch-österreichische Kollektiv SIGNA ist bekannt für seine immersiven site-specific Performances. Inspiriert von der Infrastruktur leerstehender Gebäude, kreieren sie ganze Parallelwelten, in welche die Besucher*innen vollständig eintauchen können. Im Rahmen der diesjährigen Wiener Festwochen entstand im Funkhaus – dem Herzen der Republik der Liebe – die 6-stündige Performance Das letzte Jahr. Der Ankündigungstext spricht von einer Simulation ans Ende des eigenen Lebens. Auf der Demenzstation eines Krankenhauses soll den Besucher*innen die Realität alter pflegebedürftiger Menschen kurz vor ihrem Tod erfahrbar gemacht werden. Als junger Mensch war es für mich zunächst schwer vorstellbar, mich in den körperlichen und mentalen Zustand einer an Demenz erkrankten Person einfühlen zu können. Andererseits ist mir die Thematik aus eigenen Erfahrungen im Familienkreis durchaus vertraut. Neugier und Vorfreude auf ein ungewöhnliches Theatererlebnis mischten sich daher mit der Angst vor einer Konfrontation mit Themen, die ich im Alltag lieber verdränge.
Bereits beim Eintritt in die Räumlichkeiten der Performance, kommt ein mulmiges Gefühl auf. Eine Gruppe von uniformierten Simulationsleiter*innen führt uns einen dunklen Gang entlang in ein altmodisches Zimmer mit schweren Vorhängen und dunkeln Holzwänden. Auf dem Weg kommen wir bereits an Darstellenden vorbei, deren Gesichter jedoch mit Masken bedeckt sind. Ihre starren Haltungen und die unbewegten Gesichtszüge lassen sie wie tot erscheinen. Die darauffolgende kurze Einführung in die Performance ist bereits Teil der Fiktion. Die Simulationsleiter*innen bedanken sich im Namen der Firma Lethe, dass wir uns für dieses einmalige Erlebnis entschieden haben. Es folgt ein Filmausschnitt, der uns mental auf unser pflegebedürftiges Ich einstellen soll. Begleitet von einer Spieluhr Melodie spricht eine Stimme aus dem Off über den langsamen Zerfall der eigenen Persönlichkeit, während auf dem Bildschirm ein Wald in Nebelschwaden versinkt. Die geschilderte Erfahrung wirkt auf mich so hoffnungslos und endgültig, dass bereits vor dem Beginn der eigentlichen Simulation die ersten Tränen fließen. Direkt im Anschluss werden die Besucher*innen aufgeteilt und in Kleingruppen auf ihre Anfangspositionen geführt. Meine Gruppe startet in einem Gemeinschaftsraum mit einer ausgeblichenen Sofaecke. Wir bekommen neue Kleidung und damit auch zufällig eine Rolle zugeteilt, die den individuellen Ablauf der nächsten 6 Stunden bestimmen wird. Auf meinem Namenschild steht Teufelsbrucker und die Patient*innen Nummer A09.
Ohne jegliches Vorwissen werde ich zur Verkörperung einer Figur, die den Darstellenden innerhalb der Fiktion jedoch sehr vertraut scheint. Diese Diskrepanz bildet die Grundlage für die immersive Erfahrung. Begegnungen mit Personen, die mich zu kennen scheinen, die ich jedoch noch nie gesehen habe und Gespräche über Situationen, an die ich mich nicht erinnern kann, führen zu einem wachsenden Gefühl von Unsicherheit. Ich bin schon seit 5 Jahren in der Einrichtung, erzählt mir mein Sohn Jim, den ich bei der ersten Begegnung natürlich nicht erkenne. Es ist ein seltsamer Moment von einer mir völlig unbekannten Person als Mutter angesprochen zu werden. Trotzdem ist da ein erstaunliches Gefühl von Nähe und Verbundenheit in der Selbstverständlichkeit mit der der Darstellende sich mir gegenüber verhält. Es geht nicht ums Spielen, sondern ums Fühlen. Dieser Leitsatz wurde uns zu Beginn mit auf den Weg gegeben und im Laufe der 6 Stunden, die erstaunlich schnell an mir vorbeiziehen, wird mir immer bewusster was damit gemeint ist. Es braucht im Grunde gar kein als-ob von Seiten der Besucher*innen, um die Erfahrung möglichst real wirken zu lassen. Natürlich versuche ich mich in meinen Bewegungen und meinem Gang ein bisschen an mein fiktives Alter anzupassen, aber allein die ständigen Verweise auf meine körperliche Schwäche, die ungefragten Hilfestellungen beim Gehen, Hinsetzen und Aufstehen, haben einen erstaunlichen Einfluss auf meine eigene Wahrnehmung von mir selbst. Dazu kommt die geschickte Simulation von Erinnerungslücken und einem unzuverlässigem Zeitempfinden. Jedes Mal, wenn ich versuche auf vorherige Gespräche und Situationen zu verweisen, die nach meinem subjektiven Erleben erst vor wenigen Minuten stattgefunden haben, werde ich zurechtgewiesen oder ernte verständnislose Blicke. „Aber Frau Teufelsbrucker, dass ist doch schon mehrere Wochen her, dass ihr Sohn sie besucht hat.“ Im Laufe der 6 Stunden wird das chronologische Zeitempfinden immer wieder auf die Probe gestellt. Räume und Personen ziehen an mir vorbei und am Ende fällt es mir tatsächlich schwer den genauen Ablauf der Performance wiedergeben zu können.
Während die Besucher*innen von Ort zu Ort geführt – manchmal auch gezerrt oder gescheucht – werden, geht außerhalb der Einrichtung zeitgleich die Welt zugrunde. Akustisch ist durchgehend lautes Knallen und Hundegebell zu vernehmen. Von den Darstellenden erfährt man hier und da Informationen über die unbekannte Außenwelt. Wieden sei durch eine Grenze vom Rest der Stadt Wien abgeschnitten, es herrsche Ressourcen Knappheit und der Großteil der Infrastruktur sei zerstört. Der Zerfall der Welt draußen spiegelt unseren menschlichen Zerfall im Inneren der Einrichtung. In Anbetracht der unzähligen realen Krisen und Kriege, scheint dieses dystopische Zukunftsszenario gar nicht so weit entfernt zu sein. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, was übrigbleibt von der Welt und uns. In einer angeleiteten „Therapiesitzung“ über den Umgang mit Verlust und Abschieden (einer der persönlichsten und emotionalsten Momente für mich), kommt prompt die Antwort: Viele ungesagte Worte…
Als am Ende schließlich die Anweisung kommt zu Sterben, bin ich tatsächlich erleichtert. Trotz der Möglichkeit sich kurzeitig aus der Simulation zu entziehen, indem man zu Gesprächen mit der Simulationsleitung eingeladen wird, ist die Unmöglichkeit sich aus diesen Räumlichkeiten und der Fiktion an sich zu entziehen auf die Dauer sehr ermüdend. Den abschließenden Aufstieg in den Himmel, begleitet von hysterisch schluchzenden Engelfiguren, hätte es meiner Meinung nach gar nicht mehr gebraucht. Was als Auflockerung der Situation gemeint ist, reißt mich komplett aus der zuvor entwickelten Verinnerlichung. Im SIGNA typischen Stil, bricht zu guter Letzt dann auch die Simulation auf: Die Leiter*innen verlieren für kurze Zeit die Kontrolle und die unterschiedlichen Ebenen der Fiktion Ebenen vermischen sich. Doch bevor alles komplett zusammenbricht, werden wir wieder hinausgeführt, erhalten unsere eigene Kleidung zurück und mit all den Gedanken und Gefühlen wieder ins Leben entlassen. Ehrlicherweise fühle ich mich dazu weniger vorbereitet, als auf den den fiktiven Tod zuvor.
FOMO garantiert – das eigene letzte Jahr gleicht keinem anderen
N.O.
Achtung Publikumsinvolviertheit vorausgesetzt! Wer glaubt, er/sie kann bei SIGNA´s Performance Das letzte Jahr sich aus dem Zuschauer*innenbereich gemütlich berieseln lassen, wird ins kalte Wasser geschmissen – oder in diesem Fall in eine sterile Klinik, gelegen im dystopischen Wieden. Denn von einer Durchbrechung der „vierten Wand“ kann hier gar nicht erst gesprochen werden, da von Anfang an darauf gesetzt wird, ihre Errichtung zu stören. Inmitten einer nahezu wirklichkeitsabbilden Welt aus Krankenzimmern, Arztpraxen und Therapieräumen, die eine Klinik für pflegebedürftige Senior*innen imitiert, soll die Simulation des letzten Jahres vor dem eigenen Tod so real, individuell und vor allem ungestört ablaufen wie nur möglich.
Das Als-ob im Realen
Bei einem Besuch im Theater erwartet man vielleicht nicht selbst derjenige zu sein, der stirbt, bis man es doch ist. Noch weniger rechnet man aber damit Essen und Trinken von den Performer*innen angeboten zu bekommen, Gymnastikübungen zu machen, einen Rohrschachtest durchzuführen oder eine echte Urinprobe abzugeben. Obwohl zu Beginn die Leitung der Simulation die Regeln des Zusammenspiels zwischen Teilnehmer*innen und Simulanten(=Performer*innen) als „Als-ob-Handlungen“ ankündigt, indem einer der Simulationsleiter eine echte Gurke (in die er hineinbeißt) und eine Plastikgurke (bei der er ein Hineinbeißen nur vorspielt) für die Simulation als gleichwertig zu betrachten aufstellt, wird nur wenig mit Requisiten hantiert. Um sich so intensiv wie möglich auf die Erfahrung seines eigenen pflegebedürftigen dementen Ichs und seiner neuen Umgebung einlassen zu können, bekommt man Krankenhaushemden, Hausschlapfen und eine Schürze mit einem Nachnamen zugeordnet mit dem man über die ganze Performance hinweg adressiert wird. Außerdem wird man immer wieder neu mit anderen Teilnehmer*innen und Darsteller*innen zusammengewürfelt und wandert von einem Raum zum anderen. Dass Theater oder eine Aufführung stark subjektiv sind und von der Dynamik der Anwesenden abhängig ist, treiben SIGNA hier auf die Spitze. So überzeugen die Performer*innen mit ihrer Fähigkeit auf die Fragen, Aussagen und Handlungen der Teilnehmer*innen einzugehen und dabei nicht aus der Rolle zu fallen.
(Psycho-)Terror oder (Psycho-)Therapie?
Wie sehr die Performance von der Subjektivität der Erfahrung lebt, merkt man auch bei den ganzen Angeboten, die man bekommt und wie mit ihnen von Teilnehmer*innenseite umgegangen wird, wobei den Besucher*innen leider nur wenig Freiheit zum Lenken des Ablaufs gelassen wird. Immerhin stößt man bei manchen an seine/ihre Grenzen. So wird einem zum Beispiel im Gymnastikraum der Spiegel vorgehalten und erhält die Aufforderung in die eigenen Augen zu schauen, um dann festzustellen was man darin sieht. Auch in anderen Räumen setzt man sich mit seinem eigenen Leben und was man vielleicht – nun – da man in seinen letzten Augenblicken angekommen ist – bereuen würde, auseinander. Dass man da bei vielen sensible Punkte erwischt, während andere eine therapeutische Erfahrung daraus ziehen, ist nicht zu verwundern.
Abgesehen davon, dass eine stärkere Immersionserfahrung vielleicht noch durch einen stärkeren Spielraum die Handlungsabläufe zu lenken, begünstigt werden könnte, lässt SIGNA kein Mittel ungenutzt, um Immersion zu gewährleisten. Dafür verzichten die Performer*inne am Ende auch auf einen Applaus.
SIGNAS bevormundende Hände berühren mich nicht.
Marie Josephin Handlechner
Was passiert mit partizipativem Theater, wenn man leider überhaupt keinen Bock hat? Greift Signas Das Letzte Jahr durch, auch wenn man sich davor verschließen will?
Die kurze Antwort: Nein. Leider. Oder?
Die Lange: Kommen Sie! Kommen Sie!
Hallo ihr Lieben! Ich heiße Marie Josephin und bin über Prof. Hulfelds Festwochen Campus in Signas Das Letzte Jahr gestolpert. Ein Ort an dem ich so gar nicht sein wollte, denn auf grenzüberschreitende Kunst steh ich echt überhaupt nicht. Nichts destotrotz sitz ich dann da in einem Raum mit ca. 60 Leuten, soll mein privates Leben auf der Argentinierstraße vor dem Funkhaus parken und mich einstellen auf mein letztes Lebensjahr.
Das Setting, durch das wir geführt werden, überzeugt. Von der Einrichtung, über den Desinfektionsmittel-Altersheim-Geruch, den fettigen Haaren und den Urin-Geruch der Akteur*innen, bis zu den lauter werdenden Bombengeräuschen. Danke Signa!
Die Erzählung will Vieles: Bürgerkrieg um Wieden, Altersheim, Psychiatrie, Thriller und am besten noch die Zuseher*innen ein bisschen therapieren und uns mal richtig was spüren lassen. Alles gemeinsam geht für mich leider nicht auf.
Lags an überzeichneten Bildern, wie der traurigen Musik aus dem blechernen Radio, während wir uns von einem ausgestopften Leichnam aus weißem Stoff verabschieden sollten und der nackten schreienden Frau während einem Bombenangriff. Oder doch einfach an fehlenden Interaktionen auf Augenhöhe, in der wirkliche Beziehung entstehen könnte.
So lange wie es im Rahmen einer Nachtkritik möglich ist suche ich nach dem passenden Wort für das Gefühl, dass die Akteur*innen in mir ausgelöst haben, ich finde keines. Es muss irgendwo zwischen bevormunden, bemuttern (im negativsten Sinne) und mansplainen liegen. Ein Gefühl von: jede Frage, die man stellt, wäre dumm, naiv, peinlich und übergriffig. Ich verstehe, dass hier eine klare Entscheidung getroffen wurde und auch der darin verpackte kritische Kommentar zum Umgang mit alten- und pflegebedürftigen Menschen kommt an. Aber im permanenten Versuch mich zu brechen und mich doch endlich mal was fühlen zu lassen, wird meine Abwehrhaltung nur größer, bis ich meinen Tod neben dem heulenden zwei Meter Engel eher peinlich als traurig finde. Die Produktion nimmt sich die Möglichkeit mich, als Marie, Teil werden zu lassen und mich zu berühren. Meine Versuche in direkteren Kontakt zu treten, wie gebeten wirklich aufzuhören zu spielen und anzufangen zu erleben, laufen ins Leere. Schade, Signa.
Im Bemühen mich zu schockieren und mal richtig auf die Kacke zu hauen, geh ich verloren. – Ich bin aber auch wirklich nicht die Person die sechs Stunden immersives Theater, oder vielleicht sogar noch eine Holzinger Performance braucht, um sich mal zu spüren und steh wie gesagt echt nicht drauf. Und ganz prinzipiell hat es für mich einen unangenehmen Beigeschmack, das diese Kunst brauchen, um sich lebendig zu fühlen. Aber bevor ich hier noch in verallgemeinernden Aussagen über die Teilnahmemotivation und das Kunstkonsumverhalten fremder Menschen abrutsche, bin ich lieber ruhig.
Eher müde als wachgerüttelt, verlass ich die Produktion. Kümmere mich um meinen großen, großen Hunger, trinke noch ein Bier mit Freundinnen und lege mich ins Bett.
Ich träum von fremden Händen, die mich zu jeder kommenden Veranstaltung meines Festwochen Campus bringen, mir helfen mich auf Stühle zu setzen, meine Schulter tätscheln und mir „Gut machen Sie das, Frau Klopfer“ zurufen. Na gut, Signa. Ich will eure Arbeit schon würdigen. Danke fürs bauen und eintauchen lassen in diese Welt.