Barbarischer Beziehungssimulator

Filmkritik zu There was no one here before (R: Antonio Mérida, AT 2022)

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Im Kurzdokumentarfilmprogramm 1 der Diagonale 22 in Graz erschaffen Antonio Mérida und Carmen Kirschner ein gedankliches Trümmerfeld.


Mérida ist zwar als Regisseur von There was no one here before gelistet, doch wird schnell klar, dass eigentlich das Zusammenspiel der beiden das zentrale dokumentarische Thema ist. Der überspannende Bogen ist eine romantische Paarbeziehung, die in ihrer Entstehung, Führung und einem offenen Ende angedeutet wird. Soweit zum fiktiven Teil. Allerdings wird in der 22-minütigen Laufzeit keine eigenständige Geschichte „der beiden“ im Sinne fixer Figuren-Korsette erzählt. Vielmehr funktionieren die Körper von Mérida und Kirschner als Platzhalter für deren verschiedenen Rollen, zwischen denen im Stil eines alten Carousel-Projektors ständig vor- und zurückgeschalten wird. Einerseits lernen sich die realen Privatpersonen Kirschner und Mérida kennen, dokumentieren auf einer zweiten Ebene ihren gemeinsamen filmischen Arbeitsprozess als Schauspielerin & Regisseur und erzählen auf einer dritten Ebene schließlich die diegetische Geschichte der Beziehung. All das ist im Film zu sehen, aber nicht immer leicht auseinander zu halten. Dröselt man es mathematisch auf, ergeben sich pro Körper je 3 Rollen und damit wiederum 9 mögliche Beziehungen, in denen sich deren Hüllen begegnen und gegenseitig bedingen. So beginnen die beiden Privatpersonen ihre Freundschaft bei einem gemeinsamen Abend in einer Bar, besprechen später ihr professionelles Projekt anhand des Drehbuchs auf einem Balkon und unterhalten sich innerhalb der diegetischen Beziehung über ihre Erwartungshaltung an eine Paarbeziehung.

Das In-Verbindung-Setzen dieser Rollen und die dadurch entstehenden Konflikte sind das Zentrum des Films. Wie bei einem Zahlenschloss eines Tresors rotiert man als Publikum um den Kern dieser vielschichtigen Beziehung und hofft, dass sich währenddessen im Hintergrund die Kolben entwirren und den Innenraum schließlich freigeben. Man hofft auf die dokumentarische Erkenntnis hinter der Tür. Letztendlich bleibt diese Tür aber verschlossen, denn keine Ebene wird narrativ zu einem Abschluss gebracht. Stattdessen ringen die Rollen auf ihren jeweiligen Ebenen um ihren eignen Willen und ein gleichzeitiges Fortbestehen der gemeinsamen produktiven Existenz. Die individuellen Charaktere um die Paarbeziehung, Schauspielerin und Regisseur mit ihren künstlerischen Visionen um das gemeinsame Projekt und Mérida und Kirschner um ihre soziale Beziehung. „Es gibt nicht die eine Lösung. Findet Kompromisse!“ scheint der Nexus zu sein, der aus allen Ebenen durch die Leinwand zum Publikum spricht. Anstelle einer Milestone-ähnlichen Figurenentwicklung wird man mit den Bruchpunkten der Rollen konfrontiert, die versuchen ein funktionierende Version ihrer Beziehung zu konstruieren. In einer Loop-artigen Sequenz kommt Kirschner dreimal hintereinander aus dem Badezimmer, nur mit einem Handtuch umwickelt und fragt lasziv in die Kamera „Can you dry me?“, als würde sie die Verführung ihres Partners einstudieren und feinjustieren. Mérida wiederum hadert in immer wieder eingeblendeten Texttafeln mit der dokumentarischen Authentizität seines Projekts. Er merkt wie Kirschner als Schauspielerin und Privatperson unter seinem Skript auseinanderfallen müssen. Gibt er sein Skript auf oder opfert er emotionale Tiefe und damit Realismus?

There was no one here before zeigt die Schwierigkeiten dieser Dialoge. Wenngleich sich der Film in seinen einzelnen Erzählsträngen gnadenlos verliert, macht er die Grundkonflikte doch umso mehr, und vielleicht gerade deshalb so unerbittlich spürbar. Das Trümmerfeld, mit dem man zurückgelassen wird, zeigt nicht die Überreste einst glorreicher Gebilde, die im Verlauf des Films zerfallen sind, sondern stellt als Totgeburt eine Benjaminsche Erfahrungsarmut aus, die die Hilflosigkeit der Realität schlussendlich erfahrbarer macht als jede narrative Dokumentation.