von Alexander Jirek | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media
Im Jahr 2022 einen Text über das klassische Medium Fernsehen zu schreiben, erscheint vielleicht auf den ersten Blick nicht sonderlich relevant. Sowohl im Unterhaltungswert als auch im Informationswert haben neue Medien und Streaming-Dienste das klassische Programmfernsehen in seiner Vormachtstellung abgelöst. Dennoch darf das Programmfernsehen als Medium nicht in seinen Möglichkeiten unterschätzt werden. Dies zeigt sich beispielsweise an der, bis in die Gegenwart andauernden, sogenannten Coronakrise. Bekanntermaßen forderten die pandemieeindämmenden Maßnahmen die Gesellschaft zur Kontaktvermeidung auf, was unumgänglich zu einem Rückzug in den privaten Raum führte. Assoziationen zum Familienleben in der Epoche des Biedermeiers kamen auf. Genau in dieser Restrukturierung des Privatlebens hat das Medium Fernsehen seine Chance erkannt, die Gesellschaft während der Pandemie mit neuen/alten Bildern zu versorgen.
Diese gleichzeitige Entwicklung von Medien – zwischen Reaktualisierung von Altem und Erfindung von Neuem – ist keineswegs neu. Schon 1999 beschrieben Jay D. Bolter und Richard Grusin in Remediation: Understanding New Media, dass sich einerseits neue Medien an ihren älteren Vorläufern bedienen. Andererseits verschwinden diese alten Medien dadurch nicht, sondern entwickeln sich durch das Aufkommen neuer Medien weiter. Sie nennen diesen Prozess Remediation. [1] Während 2020/2021 die Rezeption und Aufarbeitung der Pandemie im Internet maßgeblich vom gesellschaftlichen Diskurs geprägt wurde, profitierte das Medium Fernsehen von seiner Kernkompetenz, den alt eingeübten Programmstrukturen. In Bezug auf die Coronalage war das die Sachberichterstattung.
Auch im Unterhaltungssegment wurde dieser Rückgriff auf altbewährte Sendungsformate angewandt – im nationalen Unterhaltungsfernsehen bspw. als Arabella Kiesbauer 2021 im ORF die Neuauflage des 18-Jahre-alten Casting-Show-Hits Starmaniamit folgenden Worten anmoderierte:
„Ich kann mich noch so gut erinnern, an den Jubel und Applaus damals hier im Studio. Das hat uns immer sehr viel Kraft gegeben. Denn jeder, der ein Konzert gibt, braucht zumindest einen, der dieses Konzert auch nimmt. Das Publikum macht aus einem Geräusch Musik. Das fehlt. Sie fehlen. Was für ein Jahr. Aber trotzdem glauben wir daran: Träume überstehen selbst die schwierigsten Zeiten.“ [2]
Im internationalen Unterhaltungsfernsehen ereignete sich nicht zuletzt ein vergleichbarer, Pandemie-inspirierter Rückgriff, als am 6. November 2021 Thomas Gottschalk den Showklassiker Wetten, dass..?aus der Messehalle in Nürnberg wiederbelebte. Es wäre zu einfach, dieses Comeback des Fernsehformats als reine Nostalgie und Sehnsucht nach der guten alten Zeit abzuhandeln. Das Format Wetten dass..? ist im Jahr 2021 komplexer. Es versucht nicht nur, zu rekonstruieren, sondern auch zu modernisieren, indem es sich mit der eigenen Gegenwart und damit auch mit dem von der Pandemie gezeichneten Zustand der deutschsprachigen D-A-CH-Gesellschaft auseinandersetzt.
Die Rückkehr des Zeremonienmeisters
Eigentlich für Ende 2020 geplant, war es Anfang November 2021 so weit. Pünktlich um 20:15 erklang die Eurovisionsmelodie und Thomas Gottschalk betrat die Messehalle in Nürnberg. Zehn Jahre nach seinem selbst gewählten Rücktritt kehrte er in der Rolle des Moderators zurück, obwohl der Begriff Moderator es nicht ganz trifft. Er ist mehr, viel mehr, sozusagen der Zeremonienmeister. Einige deutsche Moderator*innen haben sich in den 2010er Jahren mal mehr, mal weniger ernst in dieser Rolle beiWetten, dass..? ausprobiert, doch es scheint nur Thomas Gottschalk als Dreh- und Angelpunkt des Fernsehformats zu funktionieren. Das bestätigte auch ein über dreiminütiger Auftrittsapplaus, dem er sichtlich gerührt „Danke Danke sehr. Hört auf. Das glaubt euch doch keiner. Danke. Wir haben doch noch gar nix geleistet. Hinsetzten!“ [3] entgegnete. Doch das besänftigte die 2500 anwesenden Zuschauenden nicht. Sie antworteten mit „Oh, wie ist das schön. So was hat man lange nicht gesehen.“-Sprechchören, die Assoziationen zur Euphorie bei Sportereignissen weckten. Innerhalb dieser ersten drei Minuten zeigte sich Gottschalks tiefe Verwurzelung im kollektiven Gedächtnis seiner Jahrzehnte treuen Zuseher*innenschaft, sowie in deren Sehnsucht nach einem Wiederstattfinden.
Nach seinem Rücktritt 2010 blieb Gottschalk in der deutschen Medienlandschaft nicht untätig. Er probierte sich noch einmal aus. Unter anderem schrieb er eine zweiteilige Autobiographie, trat in anderen Fernsehformaten auf und versuchte sich als Podcaster. Er scheute sich nicht, in anderen beziehungsweise neuen Medien aufzutreten. Jedoch gelang es ihm nicht, das sogenannte gemeinschaftsstiftende Samstagabend-Fernsehlagerfeuer woanders aufzuschlagen. Das Medium Fernsehen hat sich in diesen 10 Jahren in seiner Funktion und Rezeption weiterentwickelt. Das weiß auch Gottschalk, weshalb er Wetten, dass..? 2021 mit folgendem gewitzt nachdenklichen Anfangsstatement einläutete:
„Es hat sich doch das ein oder andere geändert in der Zeit, in der ich nicht da war, seit ich mich von hier verabschiedet habe. Aber vieles ist auch gleich geblieben […] Ich habe natürlich mir lange überlegt, wie fang ich das an. Ich will auch nicht vor Rührung zerfließen […] [auf die Frage] Werden sie gendern bin ich oft gefragt worden? Natürlich habe ich gesagt. Wetten der. Wetten die. Wetten das. Das geht doch gar nicht anders. Und man hat auch gefragt, haben sie Angst vorm Shitstorm? Es ist ja keine Frage, ob ich einen Shitstorm schaffe, sondern wie lange es dauert. Und ich bin der Meinung, ab einem gewissen Alter sollte einem vieles egal sein und ich muss ihnen sagen, ich habe dieses Alter erreicht.“ [4]
Dieses Anfangsstatement schwankt zwischen sitzendem Stand-Up-Monolog und versöhnlichem Selbsterklärungsversuch. Er weiß, dass seine früher unangefochtene patriarchale Moderatorenrolle innerhalb des 1981 konzipierten Fernsehformats im Jahr 2021 in Erklärungsnot gerät.
Fernsehen samt digitaler Assoziationsflut
Eine der maßgebenden Eigenheiten von Sendungen wie Starmaniaoder Wetten, dass..? war und ist noch immer die Liveübertragung. Thomas Gottschalk versteht es wie nur wenige andere, sich innerhalb dieses starren Ablaufkorsetts Freiräume einzuräumen. Das Überziehen der Sendezeit wurde sogar zu seinem Markenzeichen. Doch niemand nahm ihm das übel. In diesen Freiräumen funktioniert er schließlich am besten. Die Liveübertragung ermöglicht den Zusehenden auch das Partizipieren am Wettgeschehen. Laut Monika Bernolds Text Fernsehen ist gesternschafft der Live Moment des Fernsehens eine spezifische Form der Augen/Zeit/Zeug*innenschaft. Einerseits den Erfahrungsmodus des Dabei-Seins und andererseits das Wissen um die Erfahrung des Dabei-Gewesen-Seins. [5] Durch diese Augen/Zeit/Zeug*innenschaft schafft es die Wetten, dass..?-Sendung nicht nur dem Saalpublikum, sondern auch allen Rezipient*innen vor den Fernsehern ein Gefühl des Dabei-Seins zu vermitteln, und sie mit der vorpandemischen Vertrautheit des Sendungsformats abzuholen.
Einen weiteren Aspekt gegenwärtiger Fernsehliveübertragung, der nicht außer Acht gelassen werden darf, führt Markus Stauff in seinem Text Zuschauern zuschauenan. Er arbeitet heraus, dass das Fernsehschauen erst in Kombination mit den neuen digitalen sozialen Medien zu vergesellschaftenden/assoziierenden Praxis wird. [6] Er versteht Fernsehen als soziale Aktivität, bei der das Gesehene übersetzt wird und Assoziationen gebildet werden. Im Fall von Wetten, dass..? war dieser soziale Austausch von Assoziationen lange Zeit die Kaffeepause in der Arbeit am folgenden Montag. Im Jahr 2021 verlagerte sich diese Assoziationsflut in Echtzeit auf den Mikrobloggingdienst Twitter. Der Fernseh- und Podcastmoderator Micky Beisenherz fasst dies in seiner Stern-Rezension folgendermaßen in Worte:
„[Gottschalk] nimmt sich viel Zeit immer wieder über das zu reden, worüber er nicht reden möchte. Während Twitter ein bisschen zu eifrig das schaut, was man auf keinen Fall schauen will. Man braucht einander. Ein sich über 50.000 Tweets erstreckendes Abhängigkeitsverhältnis.“ [7]
Das Fernsehlagerfeuer wird weiter brennen
Der Ablauf des Showformats wurde nicht angefasst. Zu oft hat es schon zu gut funktioniert, um im Pandemiejahr 2021 etwas daran zu ändern. Altbewährtes funktioniert weiter. Es gab sowohl eine Bagger-, Kinder-, Tier-, als auch Außenwetten. Keine Zeit für Experimente. Die Erwartungen der Jahrzehnte treuen Zuseher*innenschaft durften nicht enttäuscht werden, beispielsweise als Björn Ulvaeus und Benny Andersson als Wetteinsatz, im Schein überrascht, ein ABBA-Lied gemeinsam mit Helene Fischer interpretieren mussten. Die Erfahrung des Dabei-Gewesen-Seins steht im Mittelpunkt.
Die Modernisierung des Formats steckt jedoch im Detail. Eine überaus wichtige Rolle innerhalb von Liveübertragung nahm Michelle Hunziker ein. Sie fungierte erneut als die wichtige koordinatorische Co-Moderation. Während sich Gottschalk selbst witzelnd als Kavalier der Alten Schule bezeichnete, griff sie in Bezug auf frühere Sendungen obligatorisch auf sein Knie. Ein kleiner Bruch in der heteronormativen Tradition der Show.
Es fällt schwer, die Sendung vom 6. November 2021 gesamtheitlich in ihrer Funktion der Fernsehfürsorge in Krisenzeiten einzuordnen. Der 25-jährige Satiriker El Hotzo formuliert in einem Tweet eine solche Einordnung:
„Wetten, dass… ist eine Show aus den 90ern von einem Moderator aus den 80ern, die in den 2010ern gestorben ist und im Jahr 2021 von einem Publikum gesehen wird, das sich die 2000er zurück wünscht“ [8]
Das Sendungsformat Wetten, dass..? funktioniert einerseits trotz und andererseits wegen seiner Jahrzehnte eingelernten Prozesse sogar in Zeiten einer weltweiten Pandemie. Die Quoten bestätigen das. Allein in Deutschland haben 14,4 Millionen Zuseher*innen, ohne die Mediathek miteinberechnet, die Sendung verfolgt.[9] Ein Comeback ist bereits sowohl für 2022 als auch 2023 angekündigt. Hoffentlich dann ohne Krise. Eine Neuauflage von Wetten, dass..? zeichnete sich bereits im Abspann der Liveübertragung ab. Als der Konfettiregen das Kamerabild wie eine Patina überzog, gratulierte der 79-jährige Erfinder des Formats, Frank Elstner, mit den Worten: „Auf viele neue Sendungen“. Der 71-jährige Thomas Gottschalk antwortete: „Ich bin mal gespannt also“ [10] Das Samstagabend Fernsehlagerfeuer wird weiter brennen.
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Referenzen und Anmerkungen
[1] vgl. Jay D. Bolter/ Richard Grusin, Remediation: Understanding New Media. USA: MIT Press 1998, S.50.
[2] Starmania, ORF, 26.02.2021, https://www.youtube.com/watch?v=DgvGbmhR790, 01:33.
[3] Wetten, dass..?, R.: Frank Hof, ZDF, 06.11.2021, 00:02:53.
[4] Wetten, dass..?, R.: Frank Hof, ZDF, 06.11.2021, 00:04:42.
[5] vgl. Monika Bernold, „Fernsehen ist gestern: Medienhistorische Transformationen und televisuelles Dabeisein nach 1945“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 12/4, 2001, S. 8–29, hier S. 14.
[6] vgl. Markus Stauff, „Zuschauern zuschauen: Fernsehen als social medium“, Klassenproduktion: fernsehen als Agentur des Sozialen, hg. v. Andrea Seier / Thomas Waitz, Münster: LIT 2014, S. 111-130, hier S. 116.
[7] Micky Beisenherz „Make Germany Great Again – in Thommys Jurassic Park“, Stern, 07.11.2021, https://www.stern.de/kultur/micky-beisenherz/micky-beisenherz–make-germany-great-again—in-thommys-jurassic-park-30902288.html, 10.01.2021.
[8] E L H O T Z O, 07.11.2021, 13:04 (MESZ), Twitter: https://twitter.com/elhotzo/status/1457318075225853955, 24.01.2022.
[9] Uwe Mantel, „Wetten, dass..?-Reichweite stieg noch deutlich an“, DWDL, 11.11.2021, https://www.dwdl.de/zahlenzentrale/85307/wetten_dassreichweite_stieg_noch_deutlich_an/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term=, 10.01.2021.
[10]Wetten, dass..?, R.: Frank Hof, ZDF, 06.11.2021, 03:30:32.