von Gero Mayer | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media
In Videospielen nehmen Spieler*innen die verschiedensten Rollen ein. Dabei gibt es einige Games, die uns ein vorgefertigtes Identifikationsangebot aufzwängen, welches kaum bis gar nicht angepasst werden kann. Super Mario wäre ein Beispiel dafür. Genauso gibt es aber auch Games, in denen der eigene Avatar bis auf die kleinsten Details feingeschliffen und personalisiert werden kann.
Die Angebote reichen heutzutage allerdings weit über Menschen oder andere humanoide Avatare hinaus, was Spiele wie Goat Simulatoroder Untitled Goose Gamezeigen. Dennoch wird es im Weiteren um Games gehen, die die Spieler*innen in einen humanoiden Avatar schlüpfen lassen, welcher im Vorhinein, nach Vorlieben und gar Vorurteilen, selber inszeniert werden konnte. Zusätzlich wird untersucht, ob die Beziehung zwischen Mensch und Avatar eine rein einseitige ist, oder ob beide Seiten auf einander Einfluss nehmen können.Noch komplexer wird das Ganze, wenn Mensch-Avatar-Beziehungen im Kontext von MMORPGs, also massively multiplayer online role-playing games, betrachtet werden, weil Spieler*innen in diesen Teil eines sozialen, virtuellen Raumes sind, mit dem ausschließlich in Form des eigenen Avatars interagiert wird. Dafür werde ich mich an den Überlegungen des Artikels „Do Men Heal More When in Drag? Conflicting Identity Cues Between User and Avatar“von Nick Yee et al. bedienen. Denn dieser Artikel hat es sich zur Aufgabe gemacht, den sog. Proteus-Effekt in Videospielen genauer zu untersuchen. Jener Effekt wird wie folgt definiert:
„Specifically, the Proteus Effect describes the observed phenomenon where users conform to expected behaviors and attitudes associated with their avatar’s appearance. For example, users given taller avatars negotiate more aggressively in a bargaining task than users given shorter avatars. But what happens when an avatar’s identity is in direct conflict with the user’s identity?“[1]
Nick Yee et al.
Im Weiteren befassen sich Yee et al. mit der Teilhabe von männlichen und weiblichen Avataren an verschiedenen Aktivitäten im Spiel World of Warcraft, wie zum Beispiel in Bezug auf das Erfüllen von Aufgaben eines NPCs (non-player character), aber auch in Bezug auf Handwerkstätigkeiten, Sammeln, Heilen, Kämpfen. ‚Kämpfen‘ kann dabei in verschiedenen Kontexten betrachtet werden: an ‚Fronten‘ oder in den hinteren Reihen von Schlachten; als Kampf gegen das Spiel und seine Bösewichte (PvE, player versus environment); oder als Kampf verschiedener Spieler*innen gegeneinander (PvP, player versus player). Zwei dieser Tätigkeiten waren bei der durchgeführten Studie besonders auffällig bzw. wurden besonders hervorgehoben: heilen und PvP-Kämpfe.
Es wurde beobachtet, dass der Tätigkeit des Heilens von weiblichen und männlichen Spieler*innen etwa gleichen Maßen nachgegangen wurde. Bezieht man sich aber konkret auf die Avatare derselben Analysegruppe, fällt auf, dass deutlich mehr weibliche Charaktere diese Aufgabe übernehmen. [2] Das lässt also rückwirkend darauf schließen, dass Spieler*innen wohl dazu neigen, Charaktere, mit denen sie sich auf das Heilen spezialisieren wollen, bewusst als weibliche Avatare zu erstellen. Im Gegensatz dazu wurde ebenso aufgezeigt, dass in PvP-Kämpfen sowohl männliche Spieler also auch männliche Avatare dominanter vertreten sind.
Als Teil dieser Studien wurden Spieler*innen ebenfalls befragt, wie sie die bereits genannten Tätigkeiten zwischen Männern und Frauen aufteilen würden. Das Ergebnis zeigte, dass generell davon ausgegangen wird, dass Frauen vermehrt als Sammlerinnen oder Heilerinnen tätig seien, wohingegen Männer als Kämpfer an der Front oder als PvP-Spieler bekannt seien. [3] Vergleicht man nun diese Umfrage mit den tatsächlichen Ergebnissen der Studie, wird eine Diskrepanz in Anbetracht der Heilenden deutlich. Es handelt sich hier um ein Vorurteil, das erst dadurch zu Stande gekommen ist, weil primär Heilerinnen in der virtuellen Welt von World of Warcraft vertreten sind. In Wirklichkeit sind aber, wie bereits erläutert, Männer und Frauen gleichermaßen an spielerischen Praktiken des Heilens von diversen Figuren interessiert und üben diese Praktiken gleichermaßen häufig aus. Es ließe sich schlussfolgern, dass Stereotype auch erst in der virtuellen Welt entstehen und sich rückwirkend auf den Menschen hinter dem Bildschirm auswirken. Dies Annahme würde der landläufigen Position widersprechen, dass Stereotype und Vorurteile von Spieler*innen lediglich in virtuelle Welten mitgenommen werden.
Mit dem Proteus-Effekt kann ferner eine De-Individualisierung einhergehen. Der reale Körper verliert an Bedeutung und es wird mehr Aufmerksamkeit auf die Repräsentation in der virtuellen Welt gelegt. Das heißt auch, dass das eigene Verhalten dem Erscheinungsbild des Avatars angepasst werden muss. Statt sich zu fragen „Was würde ich in dieser Situation machen?“, wird eher darüber reflektiert, was denn der eigene Avatar-Charakter (auf Basis seiner ihm zugeschriebenen Merkmale) in bestimmten Kontexten machen würde. Avatar und Spieler*in fallen damit nicht mehr in eins. Die Beobachtungen legen damit nahe, dass männlich identifizierte Spieler* bewusst dazu neigen, Heilerinnen als ihre Avatare zu erstellen, damit sie sich bei Spielhandlungen des Sorgens-um-andere-Spieler*innen wohl in ihrer Rolle fühlen. Gender-bending scheint in World of Warcrafteine männlich konnotierte Methode zu sein, atypisches Verhalten zu legitimieren. Vielleicht fühlen sich Männer selbst in einer virtuellen Spielwelt nicht sicher genug, als Mann Sensibilität und Fürsorge zu performieren.
Flüchten in eine andere Welt – hier vielleicht konkreter in einen anderen Körper – wird gemeinhin als Eskapismus perspektiviert. Games sind häufig Anlaufstelle für das Eintauchen in etwas Neues. Sie ermöglichen das Vergessen der realen Welt, der realen Probleme.Ein Artikel von Warmelink et al. sieht sich diesen Zusammenhang konkret im Rahmen der MMORPGs an. [4] Den Autor*innen zufolge gilt es zwei Arten des Eskapismus zu unterscheiden: den cause-based und effect-based Eskapismus. Von cause-based wird gesprochen, wenn Spieler*innen sich eskapistischen Tätigkeiten hingeben um sich eine Pause vom stressigen und monotonen Alltag zu gönnen oder anderen Ängsten und Unsicherheiten für eine Zeit lang zu entkommen. Dabei gibt es einen konkreten Grund, weswegen die Spieler*innen sich ablenken und in eine andere Welt entführen lassen möchten. [5] Effect-based Gründe sind wiederum jene, welche keine tiefergehende Motivation benötigen. Hier geht es um das Spielen um des Spielens Willen, um etwas Neues auszuprobieren oder um die eigene Kreativität zu entfachen. Es geht nicht um das Unter-den-Teppich-Kehren negativer Emotionen, sondern um die Amplifikation positiver Gedanken. [6]
Ich denke, angesichts der beiden vorgeschlagenen Eskapismus-Varianten, dass den Praktiken des gender-bendings sowohl Anlass- als auch Effekt-basierte Motivationen zu Grunde liegen können. Gender-bending stellt in Games auf jenen Fall einen ‚Luxus‘ dar, der es männlichen Spielern* ermöglicht, bestimmten gesellschaftlichen Normen temporär zu entkommen, während andere gleichzeitig affirmiert werden: Wie etwa die Wiederholung und Bestätigung der weiblichen Vergeschlechtlichung von Akteur*innen, die sorgend, heilend, hegend und pflegend agieren.
Gaming offenbart sich damit als eine kulturelle Praxis, die ähnlich vielfältige Funktionen erfüllen kann, wie etwa das Praktizieren von Yoga. Von einer einseitigen, pessimistischen Sicht auf die Potenziale derartiger kultureller Praktiken, rät so auch Maja Figge ab. In ihrem Sinne möchte ich auch Gaming als etwas begreifen, das „hier Bewältigungsstrategie [ist], um mit der Überforderung […] umzugehen.“ [7] Natürlich können Games auch – ähnlich wie im Artikel über Yoga von Figge beschrieben – von einer heilenden, selbstsorgenden Freizeitaktivität zu einem weiteren Mittel der neoliberalen Selbstoptimierung und Arbeit mutieren. Videospiele möchten von uns gespielt werden, dazu werden sie schließlich entwickelt. Die Strategien, die Spieler*innen allerdings zum Weiterspielen bewegen, können sehr verscheiden sein. Einige Games bieten Systeme an, in denen beispielsweise ständig alte Rüstung oder Equipment mit neuem und besserem ausgetauscht werden muss. Bessere Gegenstände finden sich primär in PvE-Inhalten, da diese x-beliebig oft wiederholt werden können. Beim Besiegen von Gegner*innen können zufällige Gegenstände fallen gelassen werden, die die Spieler*innen dann plündern oder loten. Die besten und bedeutsamsten Gegenstände lassen sich aber nur zu einem sehr geringen Prozentsatz finden. Dieser (Selbst-) Optimierungsprozess des Avatars hat kein klar definiertes Ende, da der Zufall vorgibt, wann ein Ziel erreicht wird. Häufig sind derartig seltene Items allerdings notwendig um an den schwierigsten und prestigereichsten Inhalten teilnehmen zu können/dürfen. Somit können sich Games von einer eskapistischen, selbstsorgenden Tätigkeit, zu einem krampfhaften, stressigen Wettrennen entwickeln, wo Spieler*innen auf das (fehlende) Equipment des Avatars reduziert werden. Ist es jemandem wichtig, ‚dazuzugehören‘ oder Teil einer Community zu sein, könnten Spieler*innen sich gezwungen fühlen, jede freie Minute in der virtuellen Welt verbringen zu müssen, sodass diese eher als virtueller Arbeitsplatz verstanden werden kann.
Wie aufgezeigt, handelt es sich bei der Beziehung zwischen Mensch und Avatar nicht um eine einseitige Einwirkung, in der die gesamte Handlungsmacht vom Menschen ausgeht. Vielmehr wurde auffällig, dass beide Seiten Einfluss aufeinander nehmen können. Der Avatar ist nicht bloß eine ferngesteuerte Puppe, sondern eine Prothese, die unsere Interaktionen mit einer anderen Welt grundliegend erlaubt und weitergehend prägt. In virtuellen Welten dürfen wir sozusagen üben, jemand anderes zu sein. Avatare müssen keine Repräsentation der Spieler*innen sein, ganz im Gegenteil: eine neue Welt aus den Augen einer gänzlich anderen Figur erleben zu können, scheint für viele Spieler*innen ein attraktives Angebot zu sein.
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Endnoten
[1] Nick Yee et al., S.1.
[2] Ebd., S. 3.
[3] Ebd., S. 2, Abb.: Table 1.
[4] Harald Warmelink et al., S. 1.
[5] Ebd., S.2.
[6] Ebd., S.2.
[7] Maja Figge, S.139.
Quellen
Harald Warmelink et al. „Press Enter or Escape to Play. Deconstructing Escapism in Multiplayer Gaming“, Breaking New Ground: Innovation in Games, Play, Practice and Theory. Proceedings of DiGRA 2009, Brunel University: 2009.
Nick Yee et al. „Do Men Heal More When in Drag? Conflicting Identity Cues Between User and Avatar”, Proceedings of the International Conference on Human Factors in Computing Systems, CHI 2011, Vancouver, Canada: 2011.
Maja Figge, «Doing Yoga». Zwischen neoliberaler und transformativer Selbstsorge. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 24: Medien der Sorge, Jg. 13 (2021), Nr. 1, S. 139–142. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/15766.
Bildnachweis
Abb.1.: Charakter-Erstellung in Monster Hunter: World. https://www.gamesradar.com/its-not-just-you-a-bunch-of-monster-hunter-world-players-think-their-characters-looked-better-at-creation-too/