Neoliberale Ungerechtigkeit in Südkorea. „Squid Game“ als televisuelle Gesellschaftskritik

Von Leila Renn | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media

Video 1.: Trailer von „Squid Game“.

Das Kulturangebot einer Gesellschaft befindet sich immer in einem Wechselverhältnis mit dem Sozialen. Filme, Bücher, Videospiele und andere Medien der Kommunikation können nicht nur ganze Generationen beeinflussen, sie selbst sind meist das Produkt von gesellschaftlichem Wandel. Das koreanische Kino hat die enge Beziehung zwischen Gesellschaft und Kultur besonders deutlich gemacht. Mit der Koreanischen Welle zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlangte die zeitgenössische südkoreanische Popkultur immer mehr Aufmerksamkeit am weltweiten Kulturmarkt. [1] So wurde auch der südkoreanische Filmmarkt immer populärer, was heute an den Erfolgen von Filmen, wie Parasite oder Serien, wie der Netflix-Produktion Squid-Game festzumachen ist. Der veränderte Filmmarkt und der damit einhergehende enorme Erfolg südkoreanischer Produktionen ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, unter anderem auf eine charakteristische Kulturpolitik, infrastrukturelles Wachstum, digitale Technologien und veränderte Konsummuster des Publikums, sowie transnationale Einflüsse, einschließlich derer aus Hollywood. [2]

Die Serie, die 2021 besonders einschlägig war, ist die inzwischen weltweit bekannte Produktion Squid Game von Regisseur Hwang Dong-hyuk, welche dem Streamingdienst Netflix seine bisher höchsten Einschaltquoten verschafft hat und auf der Plattform zur erfolgreichsten Serie überhaupt erklärt wurde. In der Serie ringen verschuldete, meist von der Gesellschaft ausgestoßene Menschen um einen Pot voller Geld – und zwar in einem „Spiel“, das einem dystopischen Sozialexperiment in Form eines Kampfes um Leben und Tod gleicht. Es handelt sich eindeutig um eine fiktionale Erzählung, doch trotzdem wird bei der Rezeption der Serie eine Kritik an der südkoreanischen Leistungsgesellschaft auf mehreren Ebenen deutlich. Wie stark die Serie auf das neoliberale System Südkoreas, aber auch anderer kapitalistischer Staaten verweist und diesen einen Spiegel vorhält, versuche ich im Folgenden an der Erörterung der Geschichte Südkoreas zu erklären. Außerdem will ich anhand der Figurenanalyse des fiktiven Hauptcharakters der Serie, Seong Gi-Hun,aufzeigen, wie es Squid Game gelingt, der kapitalistischen Lebensweise die Idee einer differenzierten Care-Ethik entgegenzuhalten. 

Bereits 2019 sorgte der Film Parasite von Bong Joon-ho für Aufregung. Bongs Geschichten handeln, ob fiktiv oder nicht, immer von aktuellen Themen, die in der Gesellschaft verankert sind. So thematisiert Parasite die Klassenpolarisierung in Südkorea und verdeutlicht die enorme soziale Kluft zwischen Arm und Reich. Der Film schafft es einen Einblick darüber zu geben, wieviel Bedeutung der Stolz in der südkoreanischen Gesellschaft hat und wie Gefühle der Demütigung bei den Armen und Benachteiligten in einer Katastrophe enden können. Anstatt die schöne, verblendete Welt des wirtschaftlichen Reichtums zu thematisieren, bringen zeitgenössische südkoreanische Filme und Serien die sozial Schwachen, die Antihelden auf die Leinwand, die über die sozialen Missstände und deren Auswirkungen auf das Leben der einfachen Koreaner*innen aufmerksam machen. Der Autor Nam Lee, der sich mit den Filmen Bong Joon Hos auseinandergesetzt hat, meint, dadurch werde das südkoreanische Kino politisch:

„Instead, the films are political in their aesthetics of subverting the conventions of blockbuster films and in the sense that they draw our attention to the world we live in and encourage us to ponder the social and political issues we identify with in his films. In certain ways, his films provide a cultural forum where important and pressing social issues are mobilized and discussed by the audience.“ [3] 

Dal Yong Jin

Die zeitgenössische südkoreanische Filmwelt lässt sich daher am besten durch eine Untersuchung der koreanischen Vergangenheit verstehen, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Sowohl Parasite als auch Squid Game umreißen eine Geschichte des Scheiterns. Diese Gegebenheit lässt sich auf die vielen gesellschaftlichen sowie politischen Umbrüche in der jüngeren südkoreanischen Geschichte zurückführen.

Nach der Befreiung von der über dreißig Jahren anhaltenden japanischen Kolonialherrschaft im Jahr 1945 erlebte das Land in der Nachkriegszeit die US-Besatzung, die nationale Spaltung, den Koreakrieg und dann fast drei Jahrzehnte aufeinander folgende Militärdiktaturen. In dieser Zeit wurden Bildung und Medien stark von der Politik beeinflusst und zensiert. In den 1970ern, noch während der Diktatur, wurden Großindustrien aufgebaut und Südkorea veränderte sich schnell vom Agrarstaat zu einem modernen, exportorientierten Industriestaat. Erst in den 1980er Jahren wurde die Diktatur durch einen intensiven Kampf um die Demokratie beendet, wodurch die wirtschaftliche Entwicklung erneut an Fahrt aufnahm und die Lebensqualität der Südkoreaner*innen erheblich verbessert wurde. Der Stolz auf die Errungenschaft der Demokratie schlug jedoch nach einer Finanzkrise im Jahr 1997, der sogenannten Asienkrise, und einem Rettungspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF), das die Einführung neoliberaler Maßnahmen vorschrieb, in zunehmende Verwirrung und Zynismus um, was wiederum zu einer Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheiten und sozialen Ungerechtigkeiten führte. In ökonomischer Hinsicht war der Übergang von der Militärdiktatur zu einer demokratischen Gesellschaft eine Reise vom staatlich geplanten Wirtschaftswachstum zum neoliberalen Kapitalismus. [4]

Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich Südkorea von einer der ärmsten Nationen der Welt zu einem Wirtschaftswunderkind. Der schnelle Aufstieg zog jedoch nicht nur positive Effekte nach sich – hohe Miet- und Immobilienpreise waren die Folge. Viele Südkoreaner*innen – vor allem auch junge Menschen – nahmen Kredite für Wohnungen auf, die sie später nicht abzahlen konnten. Gute Bildung ist für viele Südkoreaner*innen ein Muss, kostet aber auch sehr viel Geld, weshalb Eltern für ihre Kinder Kredite aufnehmen, um ihnen eine gute Ausbildung finanzieren zu können. Durch die Corona-Pandemie wurden solche Investitionen zur noch schlimmeren Schuldenfalle. Heute herrscht eine hohe Privatverschuldung im Land. So ist jede*r Südkoreaner*in durchschnittlich mit dreißigtausend Euro verschuldet. Dazu kommt, dass die Gesellschaft heute zu einer stark wettbewerbsorientierten Leistungsgesellschaft herangewachsen ist – Südkorea ist heute eins der kapitalistischsten Länder überhaupt. Was den kulturellen Markt angeht, hat die Regierung seit Ende der 1980er Jahre eine Politik verfolgt, die im Einklang mit der neoliberalen Globalisierung steht. Statt die Rolle des südkoreanischen Kinos zu reduzieren, wurde die strenge Zensur abgeschafft und mit der finanziellen Unterstützung durch andere demokratische Regierungen wurde die einheimische Filmindustrie in den letzten zwei Jahrzehnten rasch zu einem wichtigen globalen Kulturmarkt. Weltweit feierte dieser mit kapitalismuskritischen Filmen Erfolge. Paradoxerweise wirkt hier McLuhans Theorie „the medium is the message“, indem Kapitalismuskritik zur kapitalistischen Leistung wird.

Mit diesem Wissen um das schnelle Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand und der damit ebenso einhergehenden Verschuldung einzelner Akteur*innen, die im Wettkampf nicht mithalten können, ist es nicht verwunderlich, dass die Geschichte von Squid Game bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Hwang Dong-hyuk fertigte das Skript für Squid Game sogar bereits zehn Jahre vor der Entwicklung der Serie an. Das Spiel, für das die Menschen ausgesucht wurden, funktioniert nach neoliberalen Denkmustern. Demnach haben alle Beteiligten vermeintlich dieselbe Chance zu gewinnen – unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Alter. Im Spiel seien alle gleich. Mit der Zeit wird jedoch deutlich, dass, wie auch in der Leistungsgesellschaft der angenommenen Gleichheit aller Menschen keine gleichen Chancen vorausgehen. Frauen und Alte werden wegen ihrer körperlichen Schwäche von den anderen Gruppen ausgestoßen, um zu gewinnen. Außerdem wird im Spiel, wie auch am neoliberalen Markt, nicht nur mit fairen Mitteln gespielt. Die Gewitzten und Starken schaffen es die anderen übers Ohr zu hauen, die Gutgläubigen sind dem Tode geweiht. 

Eine weitere kritische Anspielung auf die Paradoxien der Leistungsgesellschaft ist die Prämisse der Freiheit. So steht es den Teilnehmenden frei, überhaupt mitzuspielen. Nach der ersten Spielrunde, in der die Spieler*innen realisieren mussten, wie brutal das Spiel in Wirklichkeit ist, wird den Überlebenden sogar die Option eingeräumt, wieder nach Hause zu gehen. Nur wenige steigen jedoch aus. Nach einigen Wochen werden die Teilnehmer*innen erneut angeworben und treffen sich wieder in der geheimnisvollen Arena, um auf Leben und Tod um eine bessere Zukunft zu spielen. Dieses Denkkonstrukt spielt auf die Ausweglosigkeit an, die für viele prekär lebende Menschen Realität ist.Die koreanischen Bürger*innen erwarten, dass das System, das die Nation dominiert, sie vor Katastrophen oder Krisen schützt und rettet, aber ihre Erwartungen werden immer wieder enttäuscht. Auch in Squid Game stellen sich die Teilnehmer*innen die Frage, ob das Leben da draußen wirklich besser ist, als der Versuch in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu sterben. Einer der Spieler, ein alter Mann mit Demenz, meint: „Ich werde zurückgehen, habe ich entschieden. […] Wer weiß vielleicht stehe ich später als Gewinner da? […] Jetzt wo ich wieder hier draußen bin, da merke ich, dass diese Menschen recht hatten. Das Leben hier draußen ist noch viel höllischer.“ [5] Obwohl die Angelegenheit in der Serie stark zugespitzt dargestellt wird, bringt sie das Problem, das in der Serie zum eigentlichen Verhandlungsgegenstand gemacht wird, auf den Punkt. Denn in der Hauptstadt Seoul stößt man im Stadtteil Dongja-dongdirekt hinter glänzenden Wolkenkratzern, die von Botschaften, Medienhäusern und Unternehmen bewohnt werden auf ein Armutsviertel, in dem hunderte von Menschen in heruntergekommenen Wohnungen auf drei Quadratmetern hausen, mit nichts als einem Fernseher, einer Toilette und Lichtern. So durchleuchtet die Serie die ruinöse soziale Ungleichheit der heutigen koreanischen Gesellschaftund kritisiert merklich die negativen Auswirkungen eines neoliberalen, kapitalistischen Systems.

Klassenkampf durch Fürsorge

Die Leistungsgesellschaft wirkt auf ihre Akteur*innen stark entsolidarisierend, da der Erfolg der einen nur auf dem Misserfolg der Anderen beruht. Die Bindungen, die die Menschen eingehen, sind Zweckbündnisse. Auch in der Serie Squid Game scheint es für die Figuren besonders effizient zu sein, sich zuweilen Verbündete zu machen, um gegen Angriffe der anderen Gruppen gewappnet zu sein und bei den Spielen einen Vorteil zu haben. Wo sich bei der Gruppenbildung vor allem starke und durchsetzungsfähige Männer zusammentun, setzt sich Seong Gi-Hundurch ein anderes Verhalten von diesen ab, indem er sich entgegen dem leistungsorientierten Druck den Schwächeren annimmt. So bildet sich ein Team aus seinen Freunden, einem Alten und zwei Frauen. Gi-Hun übt mit seinem Verhalten eine Art von Care-Ethik aus, die nicht auf Erfolg, sondern auf Fürsorge und Solidarisierung abzielt. So schafft die Figur es innerhalb eines vernichtenden Systems eine Art des antikapitalistischen Protests in Gang zu setzen, wie ihn Johanna Hedva bereits in ihrer Sick Woman Theory beschreibt:

„The most anti-capitalist protest is to care for another and to care for yourself. To take on the historically feminized and therefore invisible practice of nursing, nurturing, caring. To take seriously each other’s vulnerability and fragility and precarity, and to support it, honor it, empower it. To protect each other, to enact and practice community. A radical kinship, an interdependent sociality, a politics of care.“ [6]

Johanna Hedva

Auch zeitgenössische südkoreanische Medienformate wie Squid Game thematisieren die verschiedenen sozialen Missstände, die durch die neoliberale Politik zur Kontrolle der Märkte, der Privatisierung öffentlicher Güter, dem Abbau von Sozialleistungen und dem Abbau von Gewerkschaften geführt hat, die allesamt die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern. Da sich diese neoliberalen Maßnahmen mit der globalen Marktwirtschaft ausbreiten, sind die Folgen weltweit zu spüren. Obwohl Serien wie Squid Game also spezifisch koreanische Realitäten darstellen, sind die zugrunde liegenden sozialen Probleme und Fragen universell. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass der koreanische Filmmarkt, indem er das wachsende Gefühl der Ungerechtigkeit und des Scheiterns widerspiegelt, mit dem sich auch das globale Publikum identifizieren kann, ebenso außerhalb des Landes Erfolge feiert. Auf der einen Seite bietet die Serie zwar keine Auflösung der Missstände, auf der anderen geht der Hauptcharakter gegen die trennenden und isolierenden Maßnahmen des Kapitalismus vor und bietet so eine Lösung in Form von Ethiken der Sorge.

Solche sozialkritischen Filme und Serien werden uns in Zukunft hoffentlich immer häufiger begegnen. Die wachsende Ungleichheit in der Weltbevölkerung bringt zwangsweise eine Auseinandersetzung über die Lebenslage ärmerer sozialer Schichten auf die Leinwand und auf den Bildschirm, um sie in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Denn das ist das große Potenzial gesellschaftskritischer kultureller Medien: der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und in den Menschen einen neuen Sinn für alternative politische Wege der Verantwortlichkeit zu wecken. 

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Referenzen und Anmerkungen

[1] Vgl. Dal Yong Jin, Transnational Korean Cinema, New Brunswick: Rutgers U.P. 2019, S.vii.  

[2] Vgl. Dal Yong Jin, Transnational Korean Cinema, New Brunswick: Rutgers U.P. 2019, S.2.  

[3] Nam Lee, The Films of Bong Joon Ho, New Brunswick: Rutgers University Press 2020, S.2. 

[4] Dal Yong Jin, Transnational Korean Cinema, New Brunswick: Rutgers U.P. 2019.

[5] Squid Game, R.:Hwang Dong-hyuk, Südkorea 2021, Staffel 1, Folge 2. 

[6] Johanna Hedva: „Sick Woman Theory”, in: Mask Magazine, Nr. 24: The Not Again Issue, 2016, maskmagazine.com/not-again/struggle/sick-woman-theory (29.9.2020).