Im Plasma der Schattenpandemie. Postkoloniales und queeres Blut als Infrastruktur und Leibarchiv

von Anna Wäger | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media

In der Erforschung der Medienumwelten, die unser Leben strukturieren, Zugänge schaffen und Wissen organisieren, ist auch der menschliche Körper als mediales Dispositiv vertreten. Sich der Medialität des Körpers zuzuwenden bedeutet, die Verflechtungen von biologischen mit sozialen, kulturellen und politischen Faktoren zu untersuchen und die darauf basierende Klassifizierung und Einordnung von Körpern als kulturelle Konstrukte kritisch zu betrachten. Eine medientheoretische Perspektive auf den Körper als biopolitisches Produkt soll die die Interdependenz unterschiedlicher Lebensformen und Materialitäten betonen . So steht am Ende des Nachdenkens über die Frage „Was sind Medien?“ oftmals die Abänderung der Fragestellung in „Wann oder wie sind Medien?“. Hierzu zähle ich auch den Begriff der Situiertheit [1], der einen perspektivischen Medienbegriff ohne Absolutheitsanspruch ermöglicht. Medientheoretisches Denken bedeutet, bestimmte Phänomene im Hinblick auf die epistemologische Leistungsfähigkeit ihrer Medialität zu untersuchen. Damit ist auch die Befreiung des Medienbegriffs von seiner herkömmlichen Vermittlungs- und Reflexionsfunktion gemeint. Die Frage nach der Medialität einer Epidemie legt die Verschränkungen von Luft, Wasser, Orten, Leben- und Arbeitsrhythmus, Ernährung und Ethos mit der Frage von Gesundheit und Krankheit offen. Im 19. Jahrhundert wurde für diese Zusammenhänge der aufklärerische Begriff „Kommunikation“ verwendet – ein Begriff, der nicht nur die Übertragung von Krankheiten, sondern die gesamte Infrastruktur der Zirkulation unddes Verkehrs von Menschen und Dingen meinte. [2] Kommunikations-Konfigurationen (Medien) sind demnach Ensembles aus natürlichen Elementen und menschlicher Intervention im Zusammenspiel mit kultureller Bedeutungsgenerierung. Darunter fallen Technologien genauso wie Materialien oder Infrastrukturen. Mein Interesse gilt hier besonders der Rolle des einzelnen Körpers in diesem Netzwerk des Austauschs. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Einschreibungen determinieren den biopolitischen Umgang mit dem menschlichen Subjekt?

Blut als innere Infrastruktur des Körpers

Körperliche Medialität wird nicht zuletzt dann erreicht, wenn die organische Struktur zum Wirt wird. Der Mensch ist nicht von Mikroorganismen zu trennen, das heißt, trotz Schwellenwert, der Wirt und Parasit abgrenzt, ist der Virus untrennbar mit dem Medium, der ihn trägt, verbunden. Bishnupriya Ghosh beschäftigt sich in ihrer Arbeit „Becoming Undetectable in the Chthulucene“ mit Blut als Infrastruktur, die die körperliche Existenz erst ermöglicht und erhält und erst in seiner extrahierten und mediatisierten Form „lesbar“ macht. Sie schreibt „Mediation is at the core of virus-human relations because viruses only come into view through technology.“ [3] Aber auch als Trägersubstanz wird Blut angesichts einer epidemischen Situation zu einer medialen Konfiguration, die die Grenzen individueller Körper überschreitet. Ghosh rückt die Analyse von Blut als einer der Übertragungswege des HIV/AIDS-Virus in den Fokus. Die Etablierung des „viral load test“ als Verfahren zur Bestimmung der Virussättigung des Blutes markierte einen Meilenstein im Umgang mit Epidemien. Der „viral load test“ transformiert Blutdurch Extraktion, Destillation, Klassifizierung und Quantifizierung bestimmter Biomoleküle zu einem Datensatz. Mittels der Testprotokolle wird aus den komplexen Bedingungen der individuellen pathologischen Situation ein kohärentes Krankheitsbild erstellt und klinische Schwellenwerte der Virussättigung definiert. Dieser Vorgang ist mittlerweile global standardisiert, was die chronische Blutüberwachung als eine der Hauptbehandlungsmethoden von HIV ermöglicht. Die Relation der Patient*innengruppe zu medizinischen Institutionen ist von dieser technologischen Blutklassifizierung geprägt. Damit tritt das Blut aus der Ordnung der Natur aus und in die des Wissens ein. Dies kann die reale Sorge um den individuellen Körper beeinträchtigen, wie Ghosh schlussfolgert:

„‚Managed HIV‘ is now the grand accomplishment of this formidable biomedical behemoth. Yet, as I have suggested, what such valuation produces is the erasure of clinical labor at dispersed points of clinical care – doctor’s office to home – without which neither tests nor drugs would settle blood. Quotidian exertions of stemming saturation ensue at clinical microscales: in modest environs, living with saturation becomes creative practice.“ [4]

Bishnupriya Ghosh

Was Ghosh hier anspricht ist die Koppelung medizintechnologischer Errungenschaften an ein funktionierendes Netzwerk aus öffentlichem Gesundheitssystem, aber vor allem auch an Care-Arbeit im privaten Bereich. Der Mangel an Ressourcen verunmöglicht besonders in vielen Ländern des globalen Südens eine Infrastruktur, die diese Fürsorge gewährleisten kann. Um hier Theorien des biologischen Determinismus zu entkräften möchte ich Nick Estes Beitrag „The Empire of All Maladies“ anführen, indem die vermeintliche epidemiologische Anfälligkeit der indigenen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Invasion Amerikas auf koloniale Praktiken der Ausbeutung zurückgeführt wird. Die enorme Depopulation wurde lange Zeit als eine kausale Folge des Importes europäischer Krankheiten, die sich aufgrund der fehlenden Immunität der einheimischen Bevölkerung rasch ausbreiteten, somit als „biologische Katastrophe“, bezeichnet. Heute ist klar, dass die koloniale Politik einen maßgeblichen Einfluss auf das Massensterben hatte. Der US-Handel führte beispielsweise zu ökologischer Destruktion sowie erhöhter Militarisierung der besetzten amerikanischen Gebiete, sowie zur Transformation der Ernährung der einheimischen Bevölkerung. Erst durch diese Entwicklungen wurde der Effekt der importierten Krankheiten massiv verstärkt. 

Pandemisches Management von Körpern

Mit der Corona-Pandemie sind nun auch die westlichen Industrienationen von den gesundheitlichen Auswirkung des kapitalistischen und kolonialistischen Systems betroffen. Natürlich blieben auch diese Länder damals nicht von der verheerenden HIV/AIDS-Pandemie in den 1990ern verschont, jedoch galten vornehmlich marginalisierte und queer-vergeschlechtlichte Personengruppen, homosexuelle Männer*, MSM (Männer, die Sex mit Männern haben), Sexarbeiter*innen und Menschen aus dem globalen Süden als gefährdet. [5] Auch in der globalen Reaktion auf die Corona-Pandemie konnte eine Welle von Rassismus und Xenophobie, besonders gegenüber der asiatischen Bevölkerung, beobachtet werden. Grenzschließungen und Isolationsmaßnahmen zur Gesundheitskontrolle verstärken nationale Identitätskonstrukte und zeigen die Spannungen zwischen lokalen und überregionalen Handlungen auf. Estes schlägt vom historischen Rückblick einen Bogen zur Corona-Politik der USA, in deren Namen die Regierung Trump sich ebenfalls einer Narration bediente, die bestimmten nicht-weißen Bevölkerungsgruppen schlechtere genetische Voraussetzungen unterstellte als Grund für deren erhöhte Vulnerabilität gegenüber dem Virus. Dass diese Bevölkerungsgruppen nach wie vor unter der Ressourcenkolonisierung der USA ächzen, und somit systematischer politischer Vulnerabilisierung unterliegen, wird dabei außer Acht gelassen. [6] Die globale Interdependenz der Weltgemeinschaft unter dem Vorzeichen der Kolonialisierung sollte bei der Frage nach der Verantwortlichkeit im Zentrum der Diskussion stehen. Neben den direkten Auswirkungen der Pandemie spricht der Philosoph Kwame Anthony Appiah von einer zweiten, verdeckten Entwicklung, der sogenannten „Schattenpandemie“ [7]. Damit sind die indirekten Folgen der Corona-Pandemie gemeint, wie beispielsweise gravierende ökonomische Auswirkungen, die wirtschaftlich bereits geschwächte Länder noch weiter belasten. Soziale, politische und gesellschaftliche Umstände wie Armut, Hungersnot und der Mangel an Bildung bilden die größte Disparität des globalen Südens zu den westlichen Industriestaaten und sind die Grundlage für eine Übersterblichkeit in der Bevölkerung trotz niederer Corona-Infektionsraten. Aufgrund überlasteter Gesundheitssysteme wird neben einer Verdoppelung der Anzahl an Menschen, die an Malaria sterben könnten, auch eine erhöhte Todesrate an Tuberkulose und HIV/AIDS-Kranken erwartet. [8]

Das zeigt, Epidemien sind keine „organic events“, sondern in mediale Infrastrukturen eingebettete multi-kausale Ereignisse, die zwischen individuellen und kollektiven Körpern stattfinden. Der einzelne Körper als Medium der Übertragung ist demnach Teil eines kollektiven Körpers der Gesellschaft und hat für die Erhaltung der gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsstruktur enorme Relevanz: Jede*r kann potentiell zur*m „Superspreader*in“ werden. Der Körper ist dadurch nicht nur zentrale Angriffsfläche der Viren, sondern auch der gesellschaftlichen Virenbekämpfung. Mit der technologischen Produktion von Daten über den Körper wird biosoziale Klassifikation ermöglicht. Dieses institutionelle Wissen ist Ausdruck einer Machtstruktur der Biopolitik. Der individuelle Körper als potentieller Überträger ist somit zentraler Ausgangs- und Eingriffspunkt für eine Politik der Sorge. Jedoch sind nicht alle Körper mit derselben Sichtbarkeit ausgestattet. Sie sind gebunden an den herrschenden Normativitätsdiskurs und die Frage danach, welche Menschenleben zu den „griefable lives“ [9] gehören. Der Weg von der kolonialen Entmenschlichung zur „Grievability“ ist in den Sichtbarkeitsdiskurs eingeschrieben. Subjektstatus zu erhalten bedeutet eine Form der Repräsentation zu erfahren, zum Beispiel als erfasster Infektionsfall in der nationalen Statistik. Auch in der Datenerhebung zu mikroorganischen Zusammenhängen liegt die Betonung auf der Medialität des Körpers als Datenträger. Krankheit ist definiert als jenseits des Schwellenwerts, als Abweichung von der Norm „Gesundheit“. Diese Erfahrung macht den Körper zum „Leibarchiv“, das, wie es Paul B. Preciado beschreibt, über den anatomischen Körper hinausgeht. „The body is a living, constructed text, an organic archive of human history […], in which certain codes are naturalized, others remain elliptical, and still others are systematically deleted or scratched out.“[10]Als lebendiges kulturelles und politisches Archiv speichert der Körper Erfahrungen, äußere Zuschreibungen, sichtbare und unsichtbare Codes. „We are all living with HIV“, was das Human Microbiome Project als wissenschaftlichen Fakt bewiesen hat [11], zeigt nicht nur menschliches Blut als Multispezies an, sondern schafft eine neue Perspektive auf das Leibarchiv. 

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Referenzen

[1] Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, Die Neuerfindung der Natur. Primaten Cyborgs und Frauen, hg. v. Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1995, S. 73–97.

[2] Claus Pias, „On the Epistemology of Computer Simulation“, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Schwerpunkt Offene Objekte, 02.01.2011, hg. v. Lorenz Engell/Bernhard Siegert, https://meiner-elibrary.de/zmk-zeitschrift-fur-medien-und-kulturforschung-2-1-2011-offene-objekte.html,  30.01.2022, S. 44.

[3] Vgl. Bishnupriya Ghosh, „Becoming Undetectable in the Chthulucene“, Saturation. An Elemental Politics, hg. v. Melody Jue/Rafico Ruiz, Durham/London: Duke University Press 2021, S. 161–184, hier S. 170.

[4] Ebd., S. 177.

[5] Vgl. Edna Bonhomme, „What Coronavirus has taught us about inequality“, Aljazeera, 17.03.2020, https://www.aljazeera.com/opinions/2020/3/17/what-coronavirus-has-taught-us-about-inequality, 30.01.2022.

[6] Vgl. Nick Estes, „The Empire of all Maladies. Colonial Contagions and Indigenous Resistance“, The Baffler,Nr 52, July 2020,https://thebaffler.com/salvos/the-empire-of-all-maladies-estes, 30.01.2022.

[7] Kwame Anthony Appiah, „A tale of two pandemics: the true cost of Covid in the global south“, The Guardian, 23.11.2021, https://www.theguardian.com/world/2021/nov/23/a-tale-of-two-pandemics-the-true-cost-of-covid-in-the-global-south, 30.01.2022.

[8] Johannes Dieterich, „Afrikas Covid-Zahlen sind niedrig – aber zu hinterfragen“, Der Standard, 25.11.2021, https://www.derstandard.at/story/2000131398515/afrikas-covid-zahlen-sind-niedrig-aber-zu-hinterfragen, 30.01.2022.

[9] Judith Butler, „Violence, Mourning, Politics“, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence,  London/New York: Verso 2004, S.19–49.

[10] Paul B. Preciado, Countersexual Manifesto, New York: Columbia University Press 2018, S. 25.

[11] Vgl. Ghosh, 2021, S. 174.