Corona und Care? Eine Ethik der Sorge als Perspektive auf mediale Covid-Debatten

von Vanessa Wernig | 15. Februar 2022 | Issue The Caring Media


Abb. 1.: Beispiel das Aufgreifen von Care-Ethischen Perspektiven in einem journalistischen Artikel. Abb. 2.: Beispiel aus der Zeitschrift Vogue, in dem ebenfalls positive Potenziale der Krise thematisiert werden.

In dem vorliegenden Essay wird die Berichterstattung im Zuge der aktuellen Covid-19-Pandemie genauer betrachtet. Konkret werden hierbei zwei Artikel aus der Zeitung Der Standard ins Auge gefasst, in welchen eine Beschäftigung mit Care-ethischen Begriffen ersichtlich wird. Meiner These nach wird in diesen, sowie in vielen anderen Artikeln während der Pandemie, bereits das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen behandelt: Durch die mediale Debatte wird damit eine Verschiebung von einem Ich zu einem Wir und damit eine Interdependenz zwischen Menschen ersichtlich, jedoch zumeist nicht als Potenzial erkannt, sondern als negative Komponente bekräftigt.

Die mediale Covid-Debatte könnte uns jedoch die Möglichkeit geben, „die Narrative, in denen wir uns bewegen“ [1], genauer zu betrachten. Dafür muss das Potenzial medialer Vermittlungsformate, insbesondere ihre Möglichkeit, Verantwortung als Ziel haben zu können, auch als solches erkannt werden. Von einer solchen Form des Verständnisses von Textproduktion spricht auch Katrin Köppert im folgenden Zitat:

„So ist […] [ein] Text selbst in seiner relationalen Form und Poetik insofern ein Versuch der Anverwandlung von Infrastruktur, als er sich zu seiner Verwicklung in ein Netz von Verantwortung bekennt – indem er sein Anliegen im Zustand eines Eingebettetseins zum Ausdruck bringt.“ [2]

Somit bietet die Berichterstattung in der aktuellen Pandemie die Gelegenheit, „eine Transformation von Sorge“ [3] und die damit einhergehenden Begrifflichkeiten zu ermöglichen, indem man sich „zu seiner Verwicklung in ein Netz von Verantwortung bekennt“ [4]. Im Zuge dessen können Ausdrücke wie „Freiheit“, „Verantwortung“ oder „Abhängigkeit“ in ihrer Bedeutung in Richtung eines Denkens hin zu einer positiven Konnotation dieser Begriffe verschoben werden.

Im Artikel von Bernhard Jenny wird bereits im Titel „Ist Eigenverantwortung das Gegenteil von Verantwortung?“ [5] eine Dichotomie bezüglich der Verwendung des Begriffs der Verantwortung angesprochen. Bernhard Jenny zeigt damit eine Verschiebung auf, die seines Erachtens in dem gesellschaftlichen Denken über Sorge stattgefunden hat: So zielt der Begriff „Eigenverantwortung“ auf eine individuelle Sphäre ab, welche den Fokus nicht auf die gemeinsame Erfahrung der Pandemie legt, sondern den Schwerpunkt vielmehr auf die individuelle Pflicht einer jeden Person setzt. Damit tritt die Solidarität anderen gegenüber in den Hintergrund, stattdessen wird beispielsweise darüber diskutiert, ob gewisse Personengruppen, wie beispielsweise jene ohne Covid-Impfung, unsere kollektive Sorge verdienen. Hiermit soll kein Urteil darüber getroffen werden, ob eine Entscheidung für oder gegen eine Impfung als gut oder schlecht bewertet werden kann, stattdessen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass eine Veränderung im Verwenden gewisser Begriffe auch eine Veränderung im kollektiven Verständnis dieser nach sich ziehen kann. 

Wenn wir beim Beispiel des Begriffs „Verantwortung“ bleiben, könnte man hierbei den Fokus anstelle auf die Zweischneidigkeit des Begriffes, womit man diese Dichotomie selbst wieder reproduziert und bestätigt, auf das Netz von Verantwortung legen, in welchem sich ein jedes Individuum befindet. Wichtig hierbei ist die Verschiebung von der Aussprache, dass man „sich impfen lassen muss“, hin zu einem Denken, dass Entscheidungen nicht nur aus der eigenen Perspektive heraus betrachtet werden dürfen. So ist die Entscheidung, ob man sich impfen lässt, Teil eines Gesamtkomplexes, in welchem unterschiedliche Komponenten zu tragen kommen, welche wiederum nicht nur eine jede Person selbst, sondern auch Menschen in ihrem Umfeld beeinflussen. Damit würde eine Verschiebung von einem auferlegten Zwang („Du musst dich impfen“) hin zu einem Fokus auf jenes Verantwortungsdispositiv („Eine Impfung schützt jene Menschen, welche vulnerabel sind“) stattfinden.

Jennys Aufgreifen des kapitalistischen Standpunktes ist hierbei ebenso von Bedeutung; so schreibt dieser, dass durch die kapitalistische Wirtschaftsform ein Widerspruch in der Behandlung der Begriffe der Care-Ethik im Zusammenhang mit der Pandemie entsteht. So solle man einerseits vulnerable Gruppen bestmöglich schützen, andererseits darf die eigene Produktivität aufgrund dieser Sorgearbeit nicht darunter leiden. Unter Sorgearbeit fasse ich in diesem Falle konkret Arbeiten im privaten Bereich, welche beispielsweise die Pflege von vulnerablen Menschen des eigenen Umfelds betreffen. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie in einer kapitalistischen, von Leistung gezeichneten Welt, eine Tätigkeit, die per se als unproduktiv gewertet wird, relevant werden kann. Hierzu wäre es von Bedeutung, Sorge und Abhängigkeit als Felder zu konstituieren, welche alle Menschen zu gleichen Teilen betreffen. Hierbei könnte der Begriff der Interdependenz ein Ausgangspunkt sein:

„Da wir alle Sorgende sind und der Sorge bedürfen, gilt es, den Mythos der Unabhängigkeit zu dekonstruieren und einen positiven Begriff der Abhängigkeit als Interdependenz einzuführen.“ [6]

Dadurch würde die Möglichkeit, sich dafür entscheiden zu müssen, ob man nun zur Arbeit geht oder sich um einen kranken Menschen zu Hause sorgt, nicht notwendig sein, da gesellschaftliche Strukturen darauf ausgelegt wären, solche Problematiken zu berücksichtigen.

Insbesondere durch die aktuelle Covid-19-Pandemie wird ersichtlich, in welchem Maße man als Individuum von anderen Individuen abhängig ist. So sind Menschen unterschiedlichster Kontinente, aus unterschiedlichen Kulturen und Ländern, von den Auswirkungen einer globalen Pandemie betroffen. Diese wirkt sich damit nicht nur auf einzelne Individuen, sondern auf ganze Bevölkerungsgruppen aus (wenngleich hier deutliche Unterschiede vorhanden sind, auf die in diesem Essay an dieser Stelle nur verwiesen werden kann). Die Pandemie hat damit allen voran gegenseitige Abhängigkeiten sichtbar gemacht: Beispielsweise eine kollektive Abhängigkeit gegenüber Pharmakonzernen, welche den Impfstoff liefern; ferner werden auch globale Lieferketten relevant, die die Voraussetzung dafür sind, dass der Transport von Lebensmitteln oder auch des Impfstoffs überhaupt möglich ist. Auch die Abhängigkeit von anderen Menschen wurde eindringlich sichtbar, etwa in Form der Erkenntnis, dass sich alle an etwaige Maßnahmen halten müssten, welche sowohl eine*n selbst als auch vulnerable Gruppen schützen sollen. All diesen Beispielen ist damit inhärent, dass sie eine Form der Verbundenheit zur restlichen Welt aufzeigen. Diese Abhängigkeiten sind zwar immer schon vorhanden gewesen, wurden aber erst durch die Pandemie deutlich sichtbar. Somit kann das gesellschaftlich produzierte Narrativ, dass jede*r selbst für sich verantwortlich sei, dekonstruiert werden. Denn bereits die oben genannten Beispiele zeigen ein Netz aus Beziehungen zueinander auf, welches mehrere Aspekte umfassend ist, und welches wiederum die zahlreichen Verbindungen zu anderen Menschen aufdeckt. Die Argumentation, dass jede*r damit für sich selbst verantwortlich sei, „übersieht das Recht auf Teilhabe aller und die Tatsache, dass eine Gesellschaft immer für alle Verantwortung trägt.“ [7]

Diesbezüglich erweist sich Jennys Beispiel, dass man den Mund-Nasen-Schutz von allen Menschen kontrollieren sollte, als durchaus spannend, da man hierbei nicht eine negative Perspektive beleuchtet („Du musst einen MNS-Schutz tragen“), sondern dies vom Standpunkt einer vulnerablen Person aus betrachtet, die dadurch nicht gezwungen wäre, sich über ihre Vulnerabilität äußern bzw. immer darauf hinweisen zu müssen, dass sie selbst auf den Schutz einer MNS-Maske angewiesen sei. Mit vulnerablen Personen sind hierbei insbesondere jene Menschen gemeint, die aufgrund einer Immunschwäche oder anderer Erkrankungen während der Pandemie dazu gezwungen sind, einen MNS-Schutz zu tragen. Aber auch jene Menschen, die mit vulnerablen Personen zusammenwohnen oder für diese sorgen, sind dieser Gruppe zugehörig. Damit zeigt sich sowohl unsere Verantwortung füreinander als auch die Möglichkeit für uns als Gesellschaft auf, möglichst alle Menschen zu berücksichtigen, indem der Schwerpunkt auf Perspektiven gelenkt wird, welche sich an jenen orientieren, die am schutzbedürftigsten sind.

Im zweiten Artikel verweist Nico Hoppe sogleich im ersten Satz darauf, dass er gewisse Bewältigungsstrategien bezüglich der Pandemie mit Sorge sieht. So werden im ersten Absatz Beispiele genannt, welche den vermeintlichen Egoismus der Gesellschaft ausweisen sollen. 

Hoppe beleuchtet hierbei insbesondere Extrembeispiele, welche in der Pandemie sichtbar wurden. Was Hoppe jedoch übersieht, ist der Aspekt, dass eine Berichterstattung, welche bestimmte Handlungen – wie die sogenannten „Hamsterkäufe“ – ausweist, ein solches Verhalten wiederum reproduziert. Werden Bilder medial verbreitet, welche Sorge über Lebensmittelengpässe simulieren, ist es zunächst nicht verwunderlich, dass weitere Menschen diese Sorge übernehmen. Damit lässt sich dieses Verhalten nicht relativieren, dennoch zeigt sie eine weitere Perspektive auf dieses Thema auf.

Hoppe bekrittelt auch die Tendenz, dass die Pandemie vermehrt „als Chance“ gesehen wird, die Verbundenheit untereinander zu stärken; dies zeigt jedoch auf, dass er die Perspektive, dass wir uns immer schon in einem Netz der Verbundenheit zueinander befinden, außen vorlässt. Diese Beziehungen zueinander werden bereits an banalen Beispielen ersichtlich: Wir verlassen uns darauf, dass die Postbeamt*innen unser Hab und Gut sicher überbringen, dass Arbeitskolleg*innen bei ansteckenden Krankheiten zunächst zu Hause bleiben oder aber, dass Nachbar*innen bei der Kinderbetreuung aushelfen, falls kurzfristig mal wer abgesagt hat. Wenngleich diese Verbundenheit zueinander nicht immer offensichtlich ist, wird diese insbesondere dann sichtbar, wenn ein bisher funktionierender Kreislauf zusammenbricht, wie es in der derzeitigen Pandemie vielerorts der Fall war. [8]

Mit dieser Bearbeitung zweier Artikel, die Begriffe der Care-Ethik aufgreifen und unterschiedlich verhandeln, ist es mir ein Anliegen, das Denken hinsichtlich der Dichotomie gewisser Begrifflichkeiten aufzubrechen und zu dekonstruieren. [9] Der Fokus muss demnach darin liegen, dieses „Netz an Verantwortung“ [10] als solches zu erkennen und nicht negieren zu wollen, anstatt auf die wiederholte Betonung des Individualismus und der Eigenverantwortung zu pochen. Einen ähnlichen Gedanken formuliert auch Isabell Lorey, welche vorschlägt:

„sich von der Idee eines abgeschlossenen, von anderen getrennten Individuums zu lösen und sich auf die Praxis der Verbundenheit mit anderen zu beziehen.“ [11]

Ziel wäre demnach, in medialen Berichterstattungen Infrastrukturen zu sehen, welche Verantwortung zum Ziel haben können und eine Verbundenheit zueinander nicht leugnen oder gar dekonstruieren, sondern als Potenzial erkennen. [12] Dadurch können Praxen der Sorge geschaffen werden, welche wiederum bestätigen, dass das „Netz an Verantwortung“ [13], in welchem wir uns befinden, als positives Potenzial gesehen werden kann. Dies bietet die Möglichkeit, Begriffe wie „Abhängigkeit“ oder „Verantwortung“ in ihrer negativ konnotierten Bedeutung hin zu einem breiteren Verständnisrahmen eben dieser zu verschieben.

Wie eine Verschiebung des Schwerpunkts hin zur Aushandlung Care-ethischer Begriffer aussehen kann,lässt sich anhand der folgenden Beispiele feststellen (Abbildung 1 und 2). In diesen wird ersichtlich, dass es medialen Berichterstattungen durchaus ein Anliegen sein kann, ein „[…] zentraler Ort der Aushandlung möglicher anderer Weisen der Existenz [zu sein]“ [14].

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Referenzen

[1]Brigitte Weingartet al., „Corona und Care. ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE“, Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/24, 2021, S. 116-138, hier S. 127.

[2]Katrin Köppert, „Agropoetics of the Black Atlantic“, Zeitschrift für Medienwissenschaft13/24, 2021, S. 77-86, hier S. 79.

[3]Weingart et al., „Corona und Care. ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE, S. 117.

[4]Ebd., hier S. 117.

[5] Bernhard Jenny, „Ist Eigenverantwortung das Gegenteil von Verantwortung?. Kaum für möglich hätten wir die zweifelhaften Konsequenzen eines so harmlos klingenden Wortes gehalten“, Der Standard, 15. 10. 2020, https://www.derstandard.at/story/2000120816251/ist-eigenverantwortung-das-gegenteil-von-verantwortung, 22. 11. 2021.

[6] Adrian Hanselmann/Anna-Pia Rauch/Alexander Kamber/Daniel Drognitz/Marilyn Umurun/ Michael Grieder/Nadine Schrick/Pascale Schreibmüller/Sarah Eschenmoser, „Ökologien der Sorge. Vorwort“, ÖKOLOGIEN DER SORGE, hg. v. Tobias Bärtsch [u. a.], Wien [u.a.]: transversal texts 2017, S. 9-24, hier S. 18f.

[7]Jenny, „Ist Eigenverantwortung das Gegenteil von Verantwortung?. Kaum für möglich hätten wir die zweifelhaften Konsequenzen eines so harmlos klingenden Wortes gehalten“, 22. 11. 2021.

[8]Vgl. Weingart et al., „Corona und Care. ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE“, S. 127.

[9]Hanselmann [u. a.], „Ökologien der Sorge. Vorwort“, S. 16.

[10]Ebd., S. 117.

[11]Isabell Lorey, „Sorge im Präsens. Verbundenheit, Sorge, _Mit_, ÖKOLOGIEN DER SORGE, hg. v. Tobias Bärtsch [u. a.], Wien [u.a.]: transversal texts 2017, S. 113-122, hier S. 116f.

[12]Vgl. Köppert, „Agropoetics of the Black Atlantic“, S. 79.

[13]Weingart et al., „Corona und Care. ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE“, S. 117.

[14]Katja Rothe, „Medienökologie – Zu einer Ethik des Mediengebrauchs“, Zeitschrift für Medienwissenschaft 8/14, 2016, S. 46-57, hier S. 51.