Regie: Leonie Böhm, Volkstheater, 20. Mai 2024
Blutstück
© Diana Pfaffmatter
Ein bisschen hin- und hergerissen
(Kathrin Quatember)
War es bei Barocco das Feuer, so war’s heute das Meer. Vermutlich Zufall – ich weiß es nicht.
Die Großmeer, la grand-mère, die Großmutter als die Person, an die Kim de l’Horizon sich in deren Blutbuch richtet. Es schwingt Wehmut mit, die ich auch während des Stücks immer wieder empfunden habe. Nach der verschwindenden Erinnerung der Großmeer im Buch und der schmerzlichen Erfahrungen der Großmeere im Stück ab dem Zeitpunkt, als sie aus der Ursuppe stiegen und Körper bekamen.
Vordergründig erscheint Blutstück so voller Humor und Ironie. Im witzigen, aber immer wertschätzenden Spiel mit dem Publikum, das zu einer Gemeinschaft – wenn auch nur auf Zeit – zusammenzuwachsen schien, fanden sich trotz allen Lachens Momente des Appells und Wunsches nach Schutz und Solidarität. Für das Publikum fanden sich viele Anknüpfungspunkte der Identifikation und der Frage nach der eigenen Körperlichkeit: Das Gefühl des Montags an der Ampel, die fehlende Überwindung zu tun wonach dir gerade ist, das Gefühl der Scham, das Unterdrücken von Bedürfnissen und das Stückchen Haut am Daumen, an dem mensch herumknibbelt.
Ich gebe zu: Ich schwanke zwischen zwei Polen. Einerseits dem Gedanken, dass der Ansatz des Stücks ein bewusst niederschwelliger ist; der Versuch, zumindest auf Zeit ein Gefühl der Gemeinschaft zu entwickeln, in der Menschen aufeinander achten und die 60% Angst zumindest verstehen können. Andererseits frage ich mich, wie sehr diese Erfahrung nachwirkt. Muss sie das überhaupt? Das habe ich noch nicht zu Ende gedacht.
Blutstück im Volkstheater.
Feminismus: Lektion 1
(Maike Echle)
Mit Blutstück holen die Wiener Festwochen die Romanadaption von Blutbuch in das Wiener Volkstheater. Die fröhliche und mit Witz geladene Inszenierung scheint konstant zwischen Improvisation und vorgegebenem Inhalt hin und her zu pendeln und baut dabei das Publikum als wichtigen Baustein des Stückes und der Handlung mit ein. Es erinnert nahezu an eine Stand-Up-Comedy-Show, bei der sich ebenfalls Inspiration aus dem Publikum geholt wird. Es wird allerdings gleich zu Beginn klargestellt, dass das Stück keine textgetreue Inszenierung von Blutbuch ist. Vielmehr nimmt es sich die Inhalte und Geschichten im Buch als Inspiration, die so lose die Handlung strukturieren. Blutstück nähert sich mit viel Humor unter anderem dem Thema von impliziter und expliziter patriarchaler Gewalt und versucht so breiteres Bewusstsein dafür zu verbreiten.
Kim de L’Horizon spricht vor Beginn des Stückes Mikroaggressionen an, die dey im Zuge der Aufführungen des Stückes im Rahmen der Wiener Festwochen erlebt hat. Zum einen habe der Dramaturg des Volkstheaters am vorigen Abend eine Einladung zum Publikumsgespräch an alle „Damen und Herren“ ausgesprochen, scheinbar ohne diese binäre Vorstellung von Geschlecht in dieser Floskel überhaupt zu hinterfragen. Zum anderen sei de L’Horizon als non-binäre Person von Milo Rau, dem Intendanten der Wiener Festwochen, misgendert worden, was sich als Geste mangelnden Respekts oder Interesses lesen lässt. In diesem Kontext wird die Frage aufgemacht, warum ein Stück wie Blutstück zu den Festwochen eingeladen wurde, wenn sich scheinbar noch nicht einmal marginal für die Themen in Blutbuch oder Blutstück interessiert würde. An dieser Stelle ist die Frage nach Tokenism natürlich gerechtfertigt. Sich mit Diversität zu schmücken, reicht nun einmal in der heutigen Zeit nicht mehr, um sich als „woke“ zu inszenieren, während die Inhalte möglicherweise mehr Inklusion wünschen ließen.
Eingeleitet wird in das Stück, indem Kim de L’Horizon in einem metallisch schimmernden Kleid mit einer Kerze in der Hand die Bühne betritt, und Robbie Williams‘ Song Feel mit einer leichten textlichen Abwandlung singt. So wird aus „‘Cause I got too much life running throuh my veins going to waste“, „‘Cause I got too much shit running through my veins blocking my flow“ und setzt so den Tonus für das restliche Stück: Worum handelt es sich bei der „Scheiße“, die in den Adern fließt und den „Flow“ stört?
„Großmeer“ wird hier als Figur, abstraktes Konzept und insbesondere Projektionsfläche dargestellt, die in uns allen steckt und uns alle in unserem Handeln und Denken beeinflusst. Es handelt sich dabei um einen Verweis auf generationale Traumata, die weitergegeben werden, und wir alle in uns tragen. Vermutlich ist das die „Scheiße“, von der unsere Körper befreit werden müssen: Die ganzen Befürchtungen und irrationalen Ängste, die uns mit in die Wiege gelegt wurden, und uns im Leben und auf der Welt aber nicht weiterbringen. Der „Finger, der aus dem Arsch gezogen werden muss“, ist hier die Angst, angegriffen zu werden. Eine viel zu reale Angst für alle, aber insbesondere weiblich und queer gelesene Personen. Der Abend wird schließlich auch den Personen gewidmet, die Angst haben, abends nach Hause zu gehen und ständig für den Ernstfall nach Notausgängen oder/und Verbündeten suchen, wenn sie sich in Clubs oder generell auf der Welt bewegen.
Was mir ein wenig sauer aufstieß war die übermäßige Reproduktion des Erfragens von Konsens. Der Diskurs um Konsens ist extrem wichtig, um zu lernen, dass die eigenen Grenzen und der eigene Körper respektiert werden sollen und für sie eingestanden werden darf. Wird allerdings für jede Lappalie die gleiche plumpe Formel („Du darfst jederzeit sagen ‚nein, das will ich nicht. Ich will über meinen Körper verfügen, wie ich will.‘“) aufgesagt, verliert die Praktik an Gewicht. So wirkt das Erfragen von Konsens wie eine leere Geste, über die sich eher lustig gemacht wird, als ihren Hintergrund und ihre Absicht ernst zu nehmen.
Ein Thema, dem in Blutstück besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist die Körperlichkeit. Die Beschreibung der Körperlichkeit durch das Stück hindurch liest sich sehr wie eine Beschreibung der Lebensrealität weiblich sozialisierter Personen und anderer unterdrückter und marginalisierter Gruppen. Die Beschreibung der Existenz der Großmeere lässt sich in vielen Aspekten auf stereotype weibliche Geschlechterrollen zurückführen, so wie die Beschreibung der Großmeere als Inbegriff der Care-Work, oder „Care-Magic“, die bekanntermaßen eher auf weiblich gelesene Personen abgewälzt wird. So wird auch die mangelnde Verfügung über den eigenen Körper als Schmerz der Existenz als Großmeer bezeichnet. Dabei haben Statements wie „Wir lieben diese Körper, aber in ihnen existieren ist zu anstrengend“ und „unsere Körper gehören nicht uns“ ein besonderes Gewicht. Dies ist vor allem ein wichtiges Thema in einer Zeit, in der weltweit reproduktive und queere Rechte, die ja im Grunde Rechte auch körperliche Selbstbestimmung sind, weiter eingeschränkt werden. Und solange bei Vergewaltigungen danach gefragt wird, was die Person getragen hätte, und Schwangerschaftsabbrüche lediglich unter bestimmten Bedingungen straffrei und nicht legal sind, sind wir noch lange von einem Punkt entfernt, an dem wahre körperliche Selbstbestimmung herrscht.
Die Suche nach Gemeinschaft
(Anna-Maria Bernhofer)
Fünf Menschen befinden sich durchgehend gemeinsam auf der Bühne, inmitten bunter Tücher und Pappsteine interagieren die Darsteller*innen und setzen sich mit Körpern, generationsübergreifenden Traumata und Emotionen wie der Scham auseinander. Dabei bilden sie ein Kollektiv, welches versucht, die Schweigekultur zu genau diesen Themen aufzubrechen, indem sie sich, wie es im Stück heißt, den „Finger aus dem Arsch“ ziehen, um die ganze „Scheiße“ herauszulassen. Besagte Absonderung bezieht sich hierbei sinnbildlich auf festgeschriebene Erzählungen in unserem Körpergedächtnis, welche zu nicht hinterfragbaren Normen geworden sind.
Es geht um das Aufbauen von Verbindungen, welche spielerisch durch Miteinbezug des Publikums und das Berühren der Darsteller*innen von Schuhen oder Kinn von Zuschauenden demonstriert werden. Wir alle sollen uns dadurch unseres eigenen (Fremd-)Körpers bewusst werden, um dessen Grenzen zu überwinden. Im Stück wird auch versucht, die Großmeere – alle weiblichen Vorfahren, die über Jahrhunderte ihr Körpergedächtnis, bestickt mit Normen, an Nachfahren weitergegeben haben – in das Kollektiv mitaufzunehmen.
Mit Blutstück versucht Leonie Böhm gemeinsam mit Kim de l’Horizon das Blutbuch in Bühnenform weiterzudenken, dabei distanzieren sich die beiden vom Text und konzentriert sich mehr darauf, ein Stück zu konzipieren, welches alle Menschen anspricht – und das buchstäblich. Der Abend steht ganz im Zeichen der Improvisation, besonders die vordersten Reihen werden hierfür miteinbezogen. Durch die Kommunikation mit dem Publikum werden Verbindungen aufgemacht, welche die Inhalte des Bühnenkollektivs nahbarer machen. Gleichsam liegt in der Improvisation jedoch auch immer Potenzial für Spannungsverlust, welcher vereinzelt leider vorkommt. Generell scheint, ähnlich wie beim riesengroßen aufblasbaren Penisbaum, der an einem Punkt im Stück aufgeblasen wird, um dann gleich wieder in sich zusammenzusacken, bei den Darsteller*innen zeitweise auch die Luft draußen zu sein. Die Performance kann nicht immer überzeugen, was vielleicht auch an der gleich zu Beginn von de l’Horizon angesprochenen Enttäuschung gegenüber den Festwochen und der Intendanz dieser liegt. Eingangs steht de l’Horizon allein mit einem kleinen Licht auf der komplett abgedunkelten Bühne, und spricht über tags zuvor geschehene falsche Behandlung gegenüber der eigenen Person – zu einer Einführungsveranstaltung wurden „Damen und Herren“ eingeladen, sowie die eigene Person von der Intendanz inkorrekt angesprochen beziehungsweise vorgestellt. Sowas nimmt einem schon mal etwas Wind aus den Segeln.
Radikal Versöhnlich
(Valentin Thier)
Es ist eine andere Form der Gesellschaft möglich. Daran wird geglaubt, das ist die zentrale versöhnliche Vision in Kim de l’Horizons Blutstück am Volkstheater. Neben Sensibilität für die Realität, die meist einfühlsam verhandelt wird, kommt der Versuch auf, das gesamte Publikum anhand von Einzelbeispielen miteinzubeziehen, so eine Gesellschaft neu zu gründen. Es stellt sich die Frage, wo Didaktik zu belehrend wird. Und wo diese Belehrung notwendig ist, wo sie vielleicht zu wenig und wo sie doch wieder radikal ist.
Die rollenwechselnden Großmeere stehen auf der Bühne: Fünf Körper, bunt gekleidet, besingend und besprechend. Den Körper als Konstrukt. Den Einzelkörper, das Kollektiv. Und, dass das alles in den Körper eingeschrieben ist, er ein Prozess aus allen möglichen Mechanismen ist. Doch das betrifft nicht nur die Körper auf der Bühne. Die Körper im Publikum, deren Kleidung, deren Eigenart, alles kommt letztlich aus der Ursuppe und Konventionen sind vererbt genauso wie die Scham, die Körper verspüren. Alles ist ein Bündel an Prozessen, an Zuschreibung und Verortung – Vererbung der Großmeere, Gewalt der Großpeere.
Alle sind Körper.
Alle sind betroffen.
Auch Max in Reihe eins.
Die Didaktik des Stückes hat aber Funktion. Veränderung einer Gemeinschaft funktioniert auch mit Verständnisbildung. Dass diese glaubhaft ist, wenn Personen aus dem Publikum direkt und öffentlich einbezogen, angesprochen, sogar auf der Bühne durch Interpretationen von Geh- und Sprechweisen verhandelt werden – looking at you, Walter –, ist nachvollziehbar. Durch Blicke werden Grenzen überschritten, es wird bewertet, beurteilt und verhandelt. Personen werden durch die direkte Ansprache als Einzelkörper in einem Raum erzwungen sichtbar gemacht, indem sie vom Rest des Publikums angeblickt werden. Ausschlaggebend ist aber, dass dies im Theaterraum geschieht. Dass gefragt wird, dass Einspruch erhoben werden könnte. Zwar würde Nicht-Zustimmung wahrscheinlich ebenso im Publikumsraum sozial sanktioniert werden, doch ist dies alles in allem eine Form der kontrollierten Gewalt. Für queere Personen ist das oft nicht die Realität, wie de l’Horizon in direkter Ansprache an eine Person im Publikum erklärt: Die Angst vor Gewalt ist allgegenwärtige Realität. Und das ohne Frage nach Consent. Auf den ersten Blick mag es so wirken, als wäre in Blutstück Radikalität durch Didaktik ersetzt. Doch der zweite Blick wird erwidert, er wirft die Frage zurück: Was ist denn radikal? Ist es auch radikal, Menschen direkt und öffentlich anzusprechen, zu bitten, Stellung zu beziehen, zu fragen, ob sie Allies sind, während diese unzähligen Blicken und Erwartungen ausgesetzt sind? Was auf der Bühne geschieht, ist persönlich. Was im Publikum geschieht auch. Und irgendwie ist jede*r im Saal nun doch Teil der Gemeinschaft. Jeder Körper schwimmt in der Ursuppe. Blutstück macht eine versöhnende Ansage, die gesellschaftliche Konstrukte als in Körper eingeschriebene erkennbar zu machen versucht. Ob wirklich didaktisch oder radikal versöhnlich, ob beides oder weder noch – die Aussage kommt an.
Mitmachtheater zum Kampf gegen verkrustete Gender-Zuschreibungen.
(Gerhard Schindler)
Kim de L’Horizons Debütroman Blutbuch wurde 2022 sowohl mit dem Deutschen Buchpreis als auch dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Text reüssiert, da er „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe setzt und für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden, eintritt“, so de L’Horizon. Mit Blutstück, der Bühnenfassung des Bestsellers von de L’Horizon, greift Milo Rau in seinem ersten Intendanz-Jahr der Wiener Festwochen das hochbrisante Gender-Thema auf und adressiert damit einen Schwerpunkt für die Aufbruchstimmung zur Verhandlung einer humanen postkapitalistischen Zukunft – der Freien Republik Wien!
Unter der Regie von Leonie Böhm entstand eine Inszenierung, die nicht eine Interpretation der Buchvorlage als Ziel hatte, sondern das Werk vielmehr als Ausgangsbasis für die Fortschreibung der Kerngedanken heranzieht. Die Adaptierung zum Bühnenstück erfolgte gemeinsam mit Kim de L’Horizon. Die Regisseurin attestiert demm einen „unprätentiösen und offen Umgang mit dem eigenen Text“. Die Bunte Welt auf der Bühne des Wiener Volkstheaters, ausgelegte Tücher, weiche runde Steine, Pastellfarben und legere Kostüme stehen im Kontrast zum inhaltlichen Kampf gegen eine aufgezwungene Geschlechterzuschreibung und gegen starre und schroff etablierte Verhaltensmuster.
Das fünfköpfige Künstler:innenensemble tritt mit dem Ziel an, Aggressivität und Verletzungen auszurotten und gegen einen wertschätzenden und liebevollen Umgang miteinander auszutauschen. Das Stück arbeitet dabei sehr geschickt mit einer Transformation von stark emotionalisierten Themenbereichen in ein Spiel mit dem Publikum, das von Humor und einer gewissen Leichtigkeit getragen wird. Sexual aufgeladene Gesten und Texte durchbrechen die vierte Wand und verwandeln sich in einen Prozess der Körperbefragung mit den Zuschauer:innen. Viel wurde mit dem Publikum interagiert, etwa wenn es um die Problematik des Körperhabens, und die damit einhergehende Frage der Sensibilität von Scham und Berührungen, geht. Im Sinne des Mitmachtheaters wurde das Publikum eingeladen sich gegenseitig an das Kinn zu greifen, um die Botschaften des Stückes durch haptische Impulse verstärkt wahrnehmen zu können.Kritik an der Umsetzung dieses inkludierenden Theaterkonzepts ist jedoch dort angebracht, wo der Umgang mit den Publikumsdialogen in eine infantile Bevormundung abgleitet. So zum Beispiel, wenn eine Zuschauer:in mit manipulativen Suggestivfragen zur Unterstützung bei der Überwindung von Ängsten eingeladen wird. Trotz einiger propagandistisch angelegter seichten Szenen bewegt sich das Stück auf einem durchwegs hohen und anspruchsvollen Niveau. Alles in allem ein bewegender Abend, der beim Publikum auf große Akzeptanz traf.
Blutstück und die Verbundenheit durch Emotionen
(Carola Auth)
Woher kommen Gefühle? Woher kommt „all die Scheiße“, Wut, Scham, Angst, die durch unsere Adern fließt? Sind unsere Körper selbst gewählt oder gilt es, dem zu entkommen?
In Leonie Böhms Blutstück versuchen Kim de l’Horizon und deren Kolleg:innen diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Die Bühne ist ein Meer, aus dem Körper geschaffen werden, der sie hervorbringt, um Einzigartigkeit und Individualität zu erschaffen und dadurch auch Abgrenzung hervorbringt. Abgrenzung von anderen und von sich selbst, von eigenen Gefühlen, die vielleicht doch nicht die eigenen sind, sondern vererbt wurden von Generationen davor. Von den eigenen Ahnen – der eigenen Großmeer.
Auf der Suche nach Verbundenheit zwischen einer erlebten Abgrenzung vermischen die Figuren auch die Wand zum Publikum – durch die ersten Reihen ziehen sich betretbare Steine, die als kleine Bühnen fungieren und Platz schaffen für ein Miteinander – so werden Herbert, Max und Walter, aber auch die Frau mit der Gitarre Teil der Performance. Das Stück erhält dadurch einen improvisierten Charakter, es ist nicht ganz klar, wie viel der Vorstellung gescripted ist und wie viel spontan im Miteinander entsteht. Aus Walter, dem älteren Herrn in Sakko und Lederschuhen wird ein breitschultriger Fußballfan und es kann die Frage gestellt werden, ob diese Verbindung absichtlich geschieht oder Walter nur ein zufällig ausgewählter Mensch am richtigen Platz in der ersten Reihe ist.
Aber es scheint zu funktionieren. Das Publikum lacht, die Stimmung ist locker, mensch hat das Gefühl, beitragen zu können, was es will, aber irgendwie auch nicht, denn irgendwie ist da ja auch immer ein ganzes Kollektiv, das zuhört und wertet und Walter für einen kurzen Moment in den Mittelpunkt stellt. Und so werden die anfangs von Kim de l’Horizon reflektierten Gefühle, die Angst, die Scham, aber auch die im Laufe der Aufführung entstandene Erleichterung – alles ist gut gegangen – vielleicht Teil zumindest der paar Personen, die sich unfreiwillig an der Performance beteiligten.
Das Stück endet damit, diese Verbundenheit noch größer zu machen, mit der Vermischung von Bakterien, die wir ein- und ausatmen, größer vielleicht, als es notwendig gewesen wäre, aber eine sichere Methode, für den Fall, dass das Publikum weniger bereit gewesen wäre, sich auf diese Weise zu beteiligen. Es bleibt die Frage zurück, ob die Auseinandersetzung nun abgeschlossen ist, mit der Großmeer, die nicht nur für die eigene Großmutter steht, und die uns unsere Ängste vererbt hat. Und auch wenn diese noch da sind, und die Suche nach dem Verständnis für die eigenen Emotionen vielleicht noch nicht abgeschlossen ist, so kann mensch zumindest doch das Gefühl haben, mit diesen nicht ganz allein zu sein.
Funktioniert so Revolution?
Zahme Bitten statt radikaler Forderungen
(Florine Mahmud)
Kim de l’Horizon wird seit dem Erfolg von Blutbuch genutzt, um Zuschauer*innen mit deren schillernden Persönlichkeit zu locken. Das sagt dey selbst im Eröffnungsmonolog. Ganz in diesem Sinne wurde Blutbuch in Form des Theaterstücks Blutstück fortgesetzt und im Volkstheater im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt. Die Festwochen stehen unter dem Motto der Revolution. Ist eine nichtbinäre Person als Aushängeschild zu haben, schon genug für eine Revolution?
Alle werden mit ins Boot geholt
Neben Kim de l’Horizon sind vier weitere Performer*innen auf der Bühne, die die Großmeere von Kim de l’Horizon darstellen. Diese Alter-Egos halten nacheinander Monologe. Blutstück bringt zum Lachen, macht betroffen und verbindet. Doch das Stück möchte um jeden Preis gefallen: Erstens darf die Unterhaltung trotz des ernsten Themas nicht zu kurz kommen, damit niemand zu sehr gefordert oder gelangweilt wird. Also werden die Monologe durch Gesangseinlagen mit Gitarrenbegleitung und Publikumsinteraktionen aufgelockert. Zweitens wird an ein respektvolles Miteinander und die Gleichheit der Menschen appelliert. Dafür werden unter anderem Benimmregeln aus der queeren Community wie Konsens bei körperlicher Nähe erklärt. Drittens werden die Zuschauer*innen vorsichtig belehrt. Beispielsweise wird die Wichtigkeit von gendergerechter Sprache erklärt – jedoch nicht von Einzelpersonen eingefordert, denn damit könnte man ja jemanden verschrecken.
Normen werden mit Kostümierung abgelegt
Blutstück setzt sich mit dem Zusammenhang von Identität und Körper auseinander. Erzählt wird, dass der Mensch aus einem Ur-Meer heraus zum Individuum gegossen wird, indem er einem Körper und damit einem Geschlecht zugewiesen wird. Der Körper bestehe aus verschiedenen Emotionen, aber überwiegend aus Angst. Er engt somit ein und behindert die persönliche Entfaltung. Ein*e Performer*in imitiert Körpereigenschaften der Zuschauer*innen und entdeckt sich damit selbst neu. Auch die Schuhe, die von Publikum und Performer*innen getragen werden, werden als Identifikationsgegenstand und für eine Transformation des Selbst eingesetzt. Die Schuhe werden mit Privilegien wie beispielsweise Magie oder Wohlstand in Verbindung gebracht. Wer den jeweiligen Schuh trägt, kann sich diese aneignen. Kleidungsstücke hingegen werden im Laufe des Stücks immer mehr abgelegt, bis die Performer*innen nur noch in weißen Unterhosen auf der Bühne stehen. Von den Kleidern wird sich wie von gesellschaftlichen Normen auf dem Weg zur eigenen Identität befreit, bis man sich schlussendlich wohl im eigenen Körper fühlt und zu sich selbst gefunden hat.
Hilfe erbitten bei Allies
Diese symbolischen Gedankenspiele und Metaphern werden im Laufe des Stücks mehr von eindeutig politischen Inhalten abgelöst. Es geht um stereotypische Männer, die sich durch queere Personen in der eigenen cis-hetero Identität angegriffen fühlen. Inszeniert werden diese als Ritter, der seine Kraft und damit sein Selbstvertrauen verliert. Ungerechte Verteilung von Ressourcen und Privilegien wird thematisch angerissen. Doch so richtig radikal wird es nicht. Der äußerste Punkt ist erreicht, als Kim de l’Horizon die Hilfe des Publikums als Allies einfordert. Ein stereotypisch privilegierter Mann aus dem Publikum wird angesprochen: Werde er eingreifen, wenn der*die Performer*in aufgrund ihrer nichtbinären Genderidentität auf der Straße angegriffen wird? Die Situation wirkt erzwungen und er lässt sich ein ‚Ja‘ abringen. Eine Revolution ist es nicht, dass sich Menschen auf Nachfrage einverstanden erklären, gegen Hatecrime einzustehen. Das sollte das Minimum der Menschlichkeit sein. Radikaler wäre die Forderung, die eigene Sozialisierung zu reflektieren und die angelernten diskriminierenden Strukturen im eigenen Kopf zu beseitigen.
Wohlfühl-Gruppentherapie statt kritischer Selbstreflexion
Das Stück dreht sich zentral um die Weitergabe und Verfestigung von Normen durch die Großmeere. Doch eine daraus entstehende Verantwortung für das Kollektiv schlussfolgert es nicht. Stattdessen ist hier jede*r weiter für sich selbst und die persönliche Entfaltung verantwortlich. Wie in einer Gruppentherapie suchen die Großmeere nach Selbstvertrauen und umsorgen ihr verängstigtes inneres Kind. Sie bitten höflich um Verständnis. Für mehr scheint keine Kraft, kein Raum und kein Publikum vorhanden zu sein.
Wer als Minderheit lautstark seine Rechte einfordert, muss sich auf Anfeindungen gefasst machen. Davor müssen sich Betroffene wie Kim de l’Horizon selbst schützen. Das Einfordern einer reflektierten, fürsorglichen Allyship würde das Publikum womöglich verschrecken. Trotzdem hat Blutstück einen Raum für Repräsentation geschaffen. Das ist keine Revolution, aber zumindest eine Bestärkung und ein Safespace. Eine Revolution benötigt mutige Menschen, die sich trauen für sich und andere einzustehen. Doch vor allem braucht es ein Kollektiv, das Werte der Gleichberechtigung selbst lebt und sich immer wieder kritisch hinterfragt.
Über Großmeere, Glitzrigkeit, Angst und Selbstermächtigung (unter anderem)
(Anna-Lara Stippel)
Blutstück von Leonie Böhm zeichnet ein Bild von den täglichen Kämpfen wie Freuden von Personen der LGBTQIA+ Community. So metaphorisch wie real changiert das Stück zwischen fantastischem, traumhaft erscheinendem Möglichkeitsraum und bitterer Realität.
Der Raum ist dunkel, im Schein einer Kerze, die sie trägt, tritt eine Figur in einem grün-gelben Paillettenkleid auf. Es ist ein Bruch der stärker nicht sein könnte: Während innerhalb der Festwochen üblicherweise eher Danksagungen und verheißungsvolle Ankündigungen gemacht werden, beginnt Performer:in und Autor:in der Romans BlutbuchKim de l’Horizon diese Aufführung mit dem Ausdruck von Enttäuschung: Enttäuschung durch die Festwochen und „dieses Haus“ (das Volkstheater). Grund dafür seien zwei nur scheinbar kleine Aussagen, die sich in ein größeres Bild einfügen würden, so Kim de l’Horizon. Echte Auseinandersetzung hätte hier nicht stattgefunden, stattdessen schmücke man sich oft mal gern mit Kim de l’Horizons „Glitzrigkeit“.
Nach dieser Eingangsszene im Kerzenschein folgt ein Stück mit auffallend viel Saallicht. Die fünf Performer:innen treten in einer bunten Fantasiewelt auf. Anfangs als bunte Tücher auf dem Bühnenboden, ergeben sich durch das Aufblasen der Tücher später verschiedene Landschaften. Einige große Steine, die auch im Publikumsraum platziert sind, bilden eine Brücke zwischen Performer:innen und Publikum. In zahlreichen Publikumsinteraktionen machen sich die Performer:innen genauso nahbar, wie verletzlich. Diese Vulnerabilität auf der Bühne, aber auch im Leben wird deutlich, wenn Kim de l’Horizon über die Sitzreihen hinweg ins Publikum klettert, um nach Verbündeten zu suchen. Es ist möglicherweise eine der größten Qualitäten des Stücks, einen Berührungsraum zu öffnen, in dem LGBTQIA+ Menschen Raum einnehmen und mit den Menschen im Publikum in Kontakt kommen.
Über weite Strecken wirkt die Aufführung wie ein zufälliges Zusammentreffen von verschiedenen Menschen, die sich, jetzt wo sie alle hier sind, miteinander unterhalten. Lässt man sich auf das für die meisten großen Wiener Bühnen doch untypische Format ein, kann trotzdem ein roter Faden erkannt werden, der die Geschichte der Großmeere, Oma-Mutter-Kind Mischwesen, erzählt: Eine Geschichte von Körper und Zuhause und des Austauschs von Verhaltensweisen und Gefühlen.
So sehr es Spaß macht, sich in der Positivität und im Witz der Aufführung treiben zu lassen, ist doch von Anfang an klar, dass sich in der Comedy-Verpackung vielmehr befindet, als märchenhafte Ritterbegegnungen. Körperbilder und -gefühle werden ebenso thematisiert wie Angst, Schweigen und abwertende, transphobe Theaterkritiken zum Stück selbst. Dies geschieht meist sehr direkt und unmissverständlich.
Trotzdem oder vielleicht gerade durch die plakative Direktheit hat das Stück einen didaktischen Beigeschmack und es bleibt fraglich, wie sehr diese Präsentation von LGBTQIA+ Personen für alle stimmig und zutreffend sein kann oder muss, oder ob an dieser Stelle möglicherweise weitere Schubladen geöffnet werden, in die Personen gesteckt werden können. Gleichzeitig sind Personen wie Kim de l’Horizon, die selbst der LGBTQIA+ Community angehören, wohl am fähigsten ein für sie stimmiges Theaterstück zu kreieren. Es sollte jedoch nicht Aufgabe dieser Personen sein, sich anderen Personen wieder und wieder erklären zu müssen. Hier ist auch jede:r selbst gefragt.Ein Abend, der zum Reflektieren einlädt: Einerseits über eigene Haltungen und die Lebenswirklichkeiten von Menschen, über die vielleicht noch nicht jede:r nachgedacht hat oder selbst im Leben damit konfrontiert ist oder war. Andererseits über Theaterkonventionen und den Theaterraum.
Eine Bakterien-Gemeinschaft
Auf der Suche nach Verbündeten gegen Gewalt im öffentlichen Raum
(Nicolas Cymara)
Kim de l’Horizon wandert singend mit einer Kerze auf der dunklen Bühne des Volkstheaters. Gestern hätte der Dramaturg und der Intendant der Wiener Festwochen die Autorenperson mit dem falschen Pronomen angesprochen. „Es müssen mich nicht alle so nennen, wie es mir guttut, wie mir keine Gewalt angetan wird.“ Die Institutionen müssten sich allerdings mit der Arbeit auseinandersetzen und das bedeute auch, keine verletzende Sprache zu verwenden.
Eine Sprache für den Körper zu finden, darum geht es in dem von Leonie Böhm inszenierten Blutstück. Es will Fäden aufnehmen und Netze knüpfen. Gemeinsam mit den vier Grossmeeren, spricht Kim de l`Horizon mit dem Publikum. Unter den Menschen im Saal finden sie Schamkörper, Brandungskörper, auch einen Feierabendkörper. Manche werden aufgefordert mitzumachen, müssen ihre Schuhe zeigen, dürfen auf der Gitarre zupfen. Die Darsteller*innen improvisieren, nähern sich unkonventionell den Menschenkörpern im Saal, sind dabei klamaukig, weisen spielerisch auf die Botschaft des Blutstücks hin: Unsere Körper gehören nicht uns allein.
Dann klettert Kim de l’Horizon durch die Stuhlreihen und fixiert einen Zuschauer: „Herbert, wollen wir gemeinsam noch einen Finger aus dem Arsch ziehen?“ Der Finger, um den es de l‘Horizon gehe, sei die Angst angegriffen zu werden. „Es ist nicht meine Angst, sondern eine, die der ganzen Gesellschaft gehört. Es gibt Leute die nichts tun, zuschauen oder wegschauen. Wir brauchen verbündete Personen, die sagen: Stopp! Hey, nicht so! Herbert, wärst du ein Verbündeter?“ Noch bevor der Zuschauer sich bereiterklärt, meldet sich noch eine andere Person im Publikum als Verbündete. Mit zwei Verbündeten wandert Kim de l’Horizon zurück auf die Bühne zu den Grossmeeren.
Der Abend ist von Anfang an denen gewidmet, die Angst im öffentlichen Raum verspüren. Denjenigen, die auf einer Party ein Outfit tragen, Komplimente erhalten, doch niemand fragt sie, wie sie hergekommen sind oder den Weg nach Hause bestreiten. Jene, die sich nach Notausgängen umschauen, um fliehen zu können. Kim de l’Horizon und die vier Grossmeere sind auf der Suche nach Verbündeten, denn für sie hängen alle Körper zusammen. Und so seien alle im Volkstheatersaal am Ende sowieso eins geworden: eine Bakterien-Gemeinschaft.
Im Meer der Großmeere
(Alina Fehringer)
20. Mai, 2024. Im Rahmen der diesjährigen Wiener Festwochen, lädt das Volkstheater zu Leonie Böhms Inszenierung des Blutstücks ein.
Kim de l’Horizon Verfasser*in des vorhergegangenen und erfolgreichen Blutbuchs eröffnet den Abend. Mit rotem Licht steht de l’Horizon auf abgedunkelter Bühne und erklärt erstmal, dass das Stück zum Buch, eigentlich nur noch in einem inspiratorischen Verhältnis steht. Was davon erhalten bleibt, soll sich im Verlauf der zweistündigen Vorstellung zeigen.
Entspringend der Ursuppe
Nach einem gesanglichen Auftakt von de l’Horizon mit Robbie Williams „Feel“, wird die Bühne in Licht gehüllt. Es gibt den Blick frei, auf ein buntes Meer aus Tüchern. Sie sind malerisch und wellenartig am Boden platziert und sollen wohl genau das darstellen: Einen Ozean.
Die fünf Darsteller*innen sprechen von sich als „Großmeere“. Eine Neuschöpfung abgeleitet aus dem französischen Wort für Großmutter (grand-mère), fügt es dieser deutschen Übersetzung die neue Ebene der Weite des Meeres hinzu. Die vier Großmeere stiegen aus dem Wasser, der „Ursuppe“ an den Strand und wurden in Körper gegossen. Am Ende des Tages werden sie in dieser Geschichte jedoch der Hexerei bezichtigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Genauso einfach, wie die Bühnengestaltung ist die Requisitenwahl gehalten– meistgenutzt ist eine einzelne Gitarre, gespielt von einer der Großmeeren. Die Dynamik zwischen den Darsteller*innen wechselt zwischen Kollektiv und Chor, zwischen Sprechtheater und Einzelperson.
Körperarbeit mit dem Publikum
Auf sympathische und humorvolle Weise werden Körper thematisiert. Und, dass diese erst einmal genau das wären – Körper, unabhängig eines binären Erscheinungsbildes. Ein besonderer Aspekt des Stückes liegt hier in der Arbeit mit dem Publikum. Gang- und Körperhaltungsarten ausgewählter Personen aus dem Publikum werden nachgeahmt und satirisch auf der Bühne „nachgefühlt“.
Der Zuschauer*innenraum wird damit nicht nur direkt angesprochen, es findet eine aktive Interaktion statt. Diese endet jedoch nicht bei der verbalen Kommunikation mit dem Publikum, sondern setzt sich in Berührungen von Kinn beziehungsweise Schuhen von Zuschauer*innen (oder im Klettern über Plätze, um die richtige Position im Saal zu erreichen) fort.
Ängste, Scham und Schmerz
So leicht die Stimmung über den Großteil des Verlaufs der Aufführung gehalten wird, bekommt sie gegen Ende einen ernsthafteren Charakter.
Schließlich bittet de l’Horizon aktiv eine Person, um die Erlaubnis, den „Finger aus dem Arsch ziehen“ zu dürfen. Gemeint ist damit, reale Ängste loszulassen, denen queere Menschen in Anbetracht des tagtäglichen Risikos von Gewalterlebnissen ausgesetzt werden. Dies soll im Auffinden einer „Hintertür“ geschehen und diese Tür stellt das Vertrauen dar, dass Menschen bei Diskriminierungserfahrungen einschreiten würden. Spätestens hier verschwimmen die Grenzen zwischen realer Person Kim de l’Horizon und darstellender Person.
Das Blutstück endet mit dankenden Worten und es scheint, Ziel der Aufführung war es am Rande der Ursuppe eine Art gemeinsamen Wohlfühlraum zu kreieren, in dem Emotionen und Ängste offen angesprochen werden können. Auf wenig konfrontative Weise wurde versucht, Verständnis oder wenigstens Empathie gegenüber Non-Binarität zu schaffen – eine Art leise Überzeugungsarbeit mit der abschließenden Hoffnung, das Publikum soweit politisiert zu haben, dass es bei der nächsten Beobachtung von Diskriminierung zumindest solidarisch zur Hilfe stehen würde.
wissen, wie es ist, du zu sein
(Hannah Ruppert)
Eine Nachtkritik zu BLUTSTÜCK. Nach dem Roman Blutbuch von Kim de l‘Horizon (I: Leonie Böhm, UA Zürich 2024)
Es gibt im Leben vieler diesen Moment, ab dem mensch beginnt zu ahnen, wie viel er*sie von der Familie mitbekommen hat. Dazu mögen bestimmte Werte, Haltungen und Verhaltensweisen gehören, Dinge, die das eigene Leben positiv beeinflussen, eine stärkende Wirkung haben, aber auch Ballast, der das Leben erschwert, immer wieder einen Konflikt mit sich selbst auslöst. Diese Erfahrung kann diverse Gefühle wie Wut, Liebe, Dankbarkeit oder Frustration auf einmal hervorrufen. Und doch bleibt vieles vage und schwer greifbar, anderes unbewusst. Manches können wir verarbeiten, vieles aber nie loswerden, nie gänzlich überwinden, weil es so tief sitzt.
Eben dieses Erbe ist es, das in Blutstück auf berührende und zugleich humorvolle Weise, insbesondere in Hinblick auf den Bezug zum eigenen Körper und in Wechselwirkung damit auch zur eigenen Identität, beleuchtet wird. Während es in der Romanvorlage Blutbuch von Kim de l’Horizon eine*n Ich-Erzähler*in gibt, der*die sich an der eigenen Familie, vornehmlich der Mutter und Großmutter, die in Anlehnung an den Berner Dialekt als Meer und Großmeer bezeichnet werden, abarbeitet, erhält im Blutstück die Großmeer selbst das Wort. Dabei gibt es jedoch nicht nur eine, sondern fünf Großmeere, die für eine ganze Reihe von – in Abgrenzung zu den Großpeeren – weiblich konnotierten Vorfahrinnen stehen.
Die Großmeere, anfangs Teil der „Ursuppe“, wünschen sich eigene Körper, um sich von anderen unterscheiden zu können. In der Konfrontation mit den Rittern, die nicht damit leben können, wenn andere Körper die gleichen Tätigkeiten ausüben wie sie und die Großmeere darum als Hexen stigmatisieren, die verbrannt werden sollen, stellen die Großmeere jedoch bald fest, es sei besser, keinen Körper zu haben, als einen, der ihnen gar nicht wirklich gehöre. Diese Erfahrung tragen die Großmeere an ihre Nachkommenschaft weiter. Sie transportiert sich über unbewusst angeeignete Verhaltensweisen wie das Schweigen, das nicht darüber sprechen und das Weglächeln sowie über Gefühle, die sich in den Körpern ganzer Generationen festgesetzt haben: die Scham und die Angst. Dabei sind diese Gefühle, wie die Figur von Kim de l’Horizon es explizit ausdrückt, nicht individuell, sondern die einer ganzen Gesellschaft. Auch unsere Großpeere tragen wir Menschen in uns, jedoch haben sich diese mit Gewalt in uns eingeschrieben. Dies verweist auf die Performativität von Genderidentitäten und normativen Geschlechterbildern sowie die damit einhergehenden Zuschreibungsprozesse, bei denen gewissen Körpern ein höherer Wert beigemessen wird als anderen.
Dem stellt das Stück den Versuch eines liebevollen Umgangs mit dem eigenen Körper und dem Körper anderer gegenüber, der, wie eine Fremdsprache, erst erlernt werden muss. Auch die Neugier über andere Körper kommt zur Sprache. So probiert eine Figur die Körper von Zuschauer*innen aus, indem sie deren Körperhaltungen einnimmt und davon ausgehend die Frage stellt, wie es wohl ist, die jeweils andere Person zu sein.
Die Inszenierung fragt danach, wie mit diesem folgenschweren Erbe umzugehen ist. Einerseits ist da der Wunsch, sich dem Erbe zu entziehen, es nicht ebenfalls weiterzutragen. Doch immer wieder geht das Erbe mit dem Menschen durch, er kann sich nur schwer davon lösen. Wiederholt wirft die Inszenierung die Frage nach Möglichkeiten auf, den sprichwörtlichen Finger aus dem Arsch zu ziehen und alle negativen, gesellschaftlich und strukturell vermittelten Prädispositionen ein für alle Mal loszuwerden. Ihr erklärtes Ziel ist es, eine neue Form von Gemeinschaft, des Umgangs miteinander zu etablieren. Auf der Mikroebene spiegelt sich dieser Versuch wohl bereits in der kollektiven Autor*innenschaft des Theatertextes wider. In der Aufführung äußert er sich durch ein respektvolles, liebevolles Miteinander sowohl der Darsteller*innen untereinander als auch zwischen Agierenden und Zuschauenden, was eine angenehme, freundliche Atmosphäre im Saal evoziert. Die fünf Darsteller*innen sind mit Ausnahme der ersten Szene stets gleichzeitig auf der Bühne, wobei im Wechsel eine Person in den Vordergrund tritt und mit dem Publikum interagiert, während die anderen Figuren sich als Gruppe eher statisch im Hintergrund halten. Die Darsteller*innen greifen sich immer wieder einzelne Personen aus dem Publikum heraus, die sie ansprechen, befragen, in ihr Spiel miteinbeziehen. Dabei wird jedoch stets die Zustimmung der betroffenen Personen eingeholt. Dies geschieht auch auf der Bühne, beispielsweise wenn die eine Figur die andere fragt: „Darf ich Dich kurz benutzen? Ich brauche eine Projektionsfläche“. Das Motto lautet hierbei, über den eigenen Körper so reden, so verfügen, ihn so genießen zu dürfen, wie mensch es selbst möchte. Dass dies durch die mehrfache Wiederholung innerhalb des Stückes und dem ab einem gewissen Punkt leicht sarkastisch klingenden Tonfall schon fast gebetsmühlenartig wirkt, verweist darauf, dass diese Forderung, die eigentlich eine banale sein sollte, im Kontext unserer Gesellschaft geradezu vermessen klingt. Immer wieder verringern die Darsteller*innen dabei auch die räumliche Distanz zu den Zuschauer*innen und bauen symbolisch eine Brücke, ganz im Sinne des selbsterklärten Vorhabens, „ein Netz zu flechten, das uns zusammenhält“. Auch die Improvisationsanteile erzeugen den Eindruck von Authentizität und Nähe und spannen einen Bogen zwischen dem metaphorisch verpackten Bühnengeschehen und den realen Gegebenheiten. Ganz geht dieser Versuch nicht auf, da dennoch Momente überwiegen, in denen eine auf der Bühne stehende Person dem unterhalb sitzenden Publikum etwas berichtet. Möglicherweise wäre hier ein architektonisch weniger hierarchisch und unflexibel konzipierter Raum passender gewesen als das Volkstheater. Nichtsdestotrotz scheinen die Ansätze eines Miteinanders auf das Publikum aktivierend zu wirken, das im Verlauf des Abends Zustimmung durch lautes Lachen und Zwischenapplause zum Ausdruck bringt, was die Zuschauenden auch untereinander verbindet.
Der Wunsch, den die Großmeere ans Publikum richten, der jedoch zugleich die Frage zu sein scheint, die sie gerne einmal von anderen – von Rittern oder Großpeeren oder von wem auch immer – gestellt bekommen würden, ist der Wunsch zu verstehen, „wie es ist, ihr zu sein“. Dieses Plädoyer für Empathie, gegenseitige Rücksichtnahme und Unterstützung ist gewissermaßen die Quintessenz des Abends.
Von zentraler Bedeutung für die Vermittlung dieser Botschaft ist die Figur von Kim de l’Horizon, deren Stellenwert sich von dem der anderen Figuren unterscheidet. Dies liegt einerseits darin begründet, dass de l’Horizon einem Großteil des Publikums vermutlich bereits im Voraus als Autor*in der Romanvorlage bekannt ist, wobei dieser Fakt im Verlauf des Stücks auch mehrfach erwähnt wird. Andererseits ist dey die einzige Figur, die auch alleine auftritt. Zu Beginn singt de l’Horizon das Lied „Feel“ von Robbie Williams, dessen teils veränderter Text bereits die Kernthemen des Abends etabliert, und spricht anschließend einleitende Worte zum Stück. Im Fall dieser Aufführung äußert sich de l’Horizon im Zuge dessen zu persönlich verletzenden Situationen des Vorabends und bringt im weiteren Verlauf wiederholt die eigene Angst, angegriffen zu werden, zum Ausdruck. Hier wird, anders als bei den anderen Figuren, ein Bezug zur Realität hergestellt, eine Grenze, die auch im Verlaufe des Abends nie klar gezogen wird. Anschließend schlüpft Kim de l’Horizon dann in die Rolle der Großmeer, ein Prozess, den die anderen Figuren so nicht durchlaufen. Insofern werden die geschilderten Erfahrungen der Großmeere immer wieder auf die Person Kim de l’Horizons rückbeziehbar, werden die Schilderungen über Körper im Allgemeinen auf das Beispiel dieses individuellen Körpers mit realen Erfahrungen zurückbezogen. Hier spielt die Inszenierung mit der eindrücklichen Wirkung, die es hat, wenn eine Person sich vor vielen verletzlich und damit nahbar macht. Die Empathie, die auf diese Weise beim Publikum evoziert wird, wird jedoch abschließend auch eingefordert, mit der Bitte, gegen Gewalt und Diskriminierung aufzustehen, und sich für andere einzusetzen.
Die hoffnungs- und vertrauensvolle Haltung der Figuren, insbesondere Kim de l’Horizons, ermöglicht es den Zuschauenden, den Theatersaal trotz des ernsten Themas positiv gestimmt zu verlassen. Eine willkommene Abwechslung im Kontext der düsteren Zukunftsprognosen, die sich durch viele Spielpläne ziehen. Zwar thematisiert die Inszenierung weder unbekannte Fragestellungen noch liefert sie neue Konzepte oder Lösungsansätze für die zur Debatte stehenden Probleme und auch formal gibt es nichts Bahnbrechendes, nichts Beeindruckendes. Aber das muss ja auch nicht sein: Gefühle stehen im thematischen Zentrum der Inszenierung und Gefühle sind es auch, mit denen in erster Linie gearbeitet, auf die vornehmlich eingewirkt wird. Dies geschieht jedoch nicht durch Tragik oder den sprichwörtlichen Druck auf die Tränendrüse, sondern subtil, leise, ehrlich und hoffentlich nachhaltig.
Von der kollektiven Angst und deren Überwindung – Leonie Böhms Blutstück
(Carlotta Schneider)
Alles ist dunkel im Wiener Volkstheater, ein elektrisches Kerzenlicht haltend betritt Kim de l’Horizon die Bühne, deren Gesicht erleuchtet während in leisem Gesang Robbie Williams “Feel” auf der Bühne beschworen wird. Im Anschluss darauf richtet de l’Horizon das Wort direkt ans Publikum und beginnt mit einer alltäglichen Erzählung queerer Identität, die in diesem Kontext als direkte Institutionskritik formuliert ist. De l’Horizon führt auf wie weder das Volkstheater noch die Intendanz der Festwochen es geschafft hätten, dem richtig zu adressieren, was im Lichte dessen, dass sowohl das Volkstheater als auch die Wiener Festwochen sich hier mit den Lorbeeren der Diversität zu schmücken wissen und die Trans-Identitätt de l’Horizons immer mitvermarktet wird, stark enttäuscht und prägnant darauf hinweist, inwiefern die auf der Bühne verhandelten Diskurse noch weit entfernt davon sind, auch auf struktureller und institutionaler Ebene Realität zu werden.
In Leonie Böhms Stück wird Identität kollektiviert, die Schauspielenden werden zu Großmeeren, unabtrennbar verbunden mit den Ahnen der Vergangenheit wie der Zukunft. Es gehe stets darum sich des gesellschaftlichen Erbes der Scham und der Angst bewusst zu werden und sich aus diesem Kreislauf zu befreien. Die Handlungsanweisungen dafür werden auch schon mitgeliefert, man solle sich sprichwörtlich den “Finger aus dem Arsch ziehen”, um die angesammelten Geister der Vergangenheit in die Freiheit zu entlassen, um es zu ermöglichen, sich selbst neu zu schreiben, in einer Sprache, die mitsamt den Schauspielenden aus der Ursuppe neu geboren wird. Dass dieses Projekt jedoch kein individuelles sei, sondern nur als Gruppenanstrengung gelingen kann, wird nur zu deutlich, insbesondere dann, wenn die Gewalt angesprochen wird, mit der marginalisierte Personen und Gruppen alltäglich konfrontiert sind.
An dieser Stelle begibt sich de l’Horizon selbst ins Publikum und spricht einzelne Personen direkt an. Ob sie etwas sagen würden, wenn eine Person im öffentlichen Raum angegriffen werde, ob sie sich verbünden würden, eine Hintertür aufhalten würden. Das was hier etwas lehrmeisterhaft als Appell an eine diffuse Zivilcourage daherkommt ist jedoch vielmehr eine Einladung, ein Angebot der Spielenden, sich bekannt zu machen, sich in Beziehung zu setzen und eine Gemeinschaft zu bilden, sich verwandt zu machen, um es mit den Worten Donna Haraways zu sagen.
Das Geschehen auf der Bühne mag chaotisch erscheinen. Die bunten, extravaganten Kostüme der Darsteller*innen in dem mit buntem Tuch ausgelegten Bühnenraum, in dem graue Felsen bis in den Zuschauer*innenraum ragen, bilden hier ein queeres Märchenland, in dem sich Ritter, Hexen und Großmeere bewegen und die Körper sich stets in einen Ur-Zustand der Fluidität zurückträumen.
Insbesondere in den improvisierten Passagen des Stücks wird aber auch der Gedanke des freudigen und spielhaften Experimentierens, mit einer neuen Sprache, mit Identitäten und der Formbarkeit der Körper deutlich. Das Publikum ist stets eingeladen, sich mitnehmen zu lassen in die bunte Welt der Grenzverschwimmungen, der Theaterraum wird hier zum Resonanzraum, in dem Impulse ausgetauscht und ein Gespräch eröffnet wird darüber, wie wir mit unseren Ängsten, vor dem Anderen, den trennenden Markierungen unserer individuellen Identitäten umgehen und wie es möglich werden kann, diese gegebenenfalls zu überwinden.
Blutstück: Der Körper ist das Aussageschwächste an uns
(Ivana Himmelreich)
‚Süß‘ ist das Wort, das nach Anschauung von Blutstück im Raum kursierte. Und es trifft das Stück wirklich wie die Faust aufs Auge. Blutstück ist ein heilsamer Appell daran, den Körper nicht zu ernst zu nehmen. Denn im Endeffekt ist unser Körper primär dazu da das Leben zu erleben und zu fühlen – nicht durch ihn fremdbestimmt zu werden.
Der Körper ist verwirrend – er scheint mehr über uns aussagen zu wollen, als er eigentlich kann. So beginnt auch das Stück mit einer der Personen auf der Bühne, die versucht, sich selbst durch die Körper anderer im Publikum zu entdecken. Aber wir können uns nicht selber kennenlernen, indem wir andere kopieren. Wir können es nur, indem wir in uns selbst schauen.
Blutstück spricht in dem Zusammenhang von Grandmeeren: Vorfahr*innen, die uns durch ihre Erfahrungen, ihre Traumata und ihre Erziehung beeinflussen. Es ist ein zweischneidiges Schwert: die Schauspieler*innen sagen einerseits, sie wollen diese traurigen, engstirnigen und gewalttätigen Gene nicht weitertragen. Sie wollen nicht, dass sie ein Teil von ihnen sind, nicht dass die Vergangenheit die Zukunft beeinflusst.
Zum Ende des Stücks merkt man jedoch auch: Dadurch, dass wir alle die selben Vorfahr*innen haben, ähneln wir uns mehr, als wir denken. Wir alle haben ähnliche Gefühle, ähnliche Eigenarten, ähnliche Angewohnheiten. Und diese verbinden uns auch wieder.
Und all diese Eigenarten und Gemeinsamkeiten sind so viel größer als Gender. So viel relevanter als Gender. Gender wird in Blutstück nicht erwähnt. Es ist irrelevant geworden. Die Personen auf der Bühne strahlen nicht-binarität aus. Und es fehlt an nichts. Man braucht Gender nicht, um nachvollziehen, mitfühlen, mitlachen zu können. Man braucht Gender nicht um zu lieben. Das zeigt uns Blutstück.
Sensibilität im Volkstheater – Blutstück
(Gabriel Radwan)
Vertrauen zueinander
Im Volkstheater wird das Blutstück aufgeführt, welches (lose) auf Kim de l’Horizons preisgekrönten Roman basiert. Zu viel Text sollte man hier nicht erwarten, warnt die*der Schauspieler*in, welche durchwegs Charm, Ehrlichkeit und Chemie mit deren auftretenden Cast beweist. Dieser ist wohl einer der sehenswürdigsten Aspekte des Blutstücks – Die Performer*Innen geben den Eindruck, sich nicht nur auf der Bühne zu lieben, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zueinander „Großmeere“ zu sein. Die Bedeutung von Großmeer wird kurz anfangs erklärt, doch so richtig klar wird der Begriff nicht. Vielleicht muss man dazu das Buch gelesen haben, wäre nur ein Hinweis für kommende Besucher*innen. „Großmeere sind die, die immer für dich da sind, auch wenn sie abwesend sind“ wird zu anfangs gesagt und dieses Gefühl von Sicherheit vermitteln die Schauspieler*innen auch. Eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig bedingungslos akzeptiert, ohne irgendwelche Vorurteile.
Suche nach Körpern
Ein spannender sowie berührender Aspekt war die Suche einer Schauspieler*in nach Körpern. Ein wenig abstrakt und zum Teil auf herzliche Weise lächerlich wird diese Suche gestaltet. Es wird nicht eindeutig gesagt, worum es hier geht, doch mein persönlicher Schluss und vielleicht mag es offensichtlich sein, fällt auf die Unsicherheit im eigenen Körper. Die Großmeere meinten vielleicht damit, dass sie ja gewissermaßen unsere Vorfahr*innen sind, und uns die Körper gegeben haben, in denen wir uns heute wiederfinden. Doch ich fragte mich, ob es um das Unwohlsein im Körper einer (hier besonders) nicht-binären Person, ging. Dieser Körper, der sich nicht wie einer anfühlt, den man besitzen sollte, da man sich nicht direkt als Mann oder Frau sieht. Diese Frage wird ins Publikum geworfen und regt zu Überlegungen an, dass das äußere Gefäß nicht unbedingt das innere widerspiegelt. Während der weiteren Monologe, die sich etwas lange ziehen, treten die anderen Akteur*innen stetig in den Vordergrund. Dabei werden stets Witze locker projiziert, welche solide sind.
Unerwartete Eröffnung
Kim de l’Horizon fängt anfangs in einem dunklen Raum an, „Feel“ von Robbie Williams zu singen. Schnell wird danach klar, dass Improvisation heute von Relevanz ist. Dey zeigt sich enttäuscht über das Misgendern des Dramaturgen des Volkstheaters am Vortag. Von den Festwochen hätte dey mehr erwartet und in der Tat sollte man erwarten, dass die Organisator*innen hier besser erkundigt sind. Mir stellt sich nur die Frage, da das Publikum in tosenden Applaus verfallen ist, ob es hier um eine besonders mutige Tat ging. Um Mut geht es natürlich nicht, sondern um ein Statement, dass wohl nicht verheimlicht werden sollte, da wir unser Schweigen brechen müssen. Meine zynische Einstellung denkt nur daran, dass sämtliche Besucher*innen, welche in das Blutstück kommen, vermutlich Unterstützer*innen queerer Personen sind und es somit klar ist, dass eine solche Ankündigung als für Aufregen sorgender Auftritt erfolgreich ist.
Blutstück: Ein moderner Aufstand gegen Traditionen
(Anonym)
Kim de l’Horizons Roman Blutbuch wurde von einer Kritikerin als „gelungene Zumutung“ beschrieben, da dey sich von Begrenzungen wie Geschlecht, Trauma und Klasse befreit. Die non-binäre Erzählfigur hinterfragt die eigene Vergangenheit und das Schweigen der Blutlinie der Familie. Die Bühneninszenierung von Leonie Böhm, unter dem Titel Blutstück, bringt Kim de l’Horizon selbst auf die Bühne.
Böhm und de l’Horizon haben nicht einfach den Roman adaptiert, sondern versuchen, das, woran das Buch scheiterte, auf der Bühne Wirklichkeit werden zu lassen: eine Begegnung in Mitmenschlichkeit, die Geschlechterdefinitionen und gesellschaftliche Grenzen hinter sich lässt.
Trotz der bunten, regenbogenfarbenen Bühne und den Kostümen, geht es hier nicht nur um den Clash von Queerness und Konvention, sondern um einen fröhlich-frivolen Aufstand gegen alle traditionellen Rollenmuster. Das Stück thematisiert „das Erbe der Scham“ oder die „Scheiße in unseren Adern“. Der Grundgestus dieses Abends ist eine große Umarmung. Die Schauspieler*innen nehmen sich und das Publikum liebevoll in den Arm, singen Lieder über die Sehnsucht nach Gemeinschaft und suchen gemeinsam nach einem vorurteilsfreien Blick.
Doch Darsteller*innen wie Gro Swantje Kohlhof und Lukas Vögler brechen drohenden Wohlfühlkitsch mit Humor und einem phantasievollen Spiel auf. In einer berührenden Szene berichtet Kim de l’Horizon von der Angst, beim Verlassen des Hauses angegriffen zu werden. Auszubrechen aus überkommenen Normen hat immer noch seinen Preis.
Kim de l’Horizon verkündet anfangs das Scheitern des Blutbuchs auf höchstem Niveau. Obwohl der Roman mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und einen Hype auslöste, brachte das Schreiben Einsamkeit. Nun jedoch ist dey umgeben von den „Grossmeeren“ – mythische Wasserwesen, die die Geschichte in sich bergen. Diese ozeanischen Großmeere bestimmen auch die theatrale Adaption des Blutbuchs. Man könnte meinen, dass Kims Präsenz auf der Bühne die Unabhängigkeit des Textes einschränkt, doch es zeigt, dass das Schreiben ein Versuch war, einen Resonanzraum für sprachliche Gemeinschaft anzubieten. Das Blutstück ist ein lockerer Pastiche des Blutbuchs mit neuen Passagen und Raum für Improvisation.
Nachtkritik Blutstück
(Pierrick Le Jeune)
Blutstück ist die physische und theatralische Verwirklichung des 2022 erschienenen Buchs Blutbuch. Die verfassende Person Kim de l’Horizon wurde mit vier anderen Schauspieler*innen auf der Bühne eingeladen, um das Schweigen zu brechen. Das Stück wurde von Leonie Böhm inszeniert.
Eine Einführung in einen theatralischen Safe Space
Das Stück bietet einen safe space an. Gerade am Anfang ist Kim de l’Horizon im Dunkel zu sehen, dey war nur mit einer schwachen Lampe zu sehen, die dey trug. Als dey die Geschichte des Stückes erklärte, hat das Publikum den Eindruck, dass dey wie eine Art von Fährperson funktioniert, die uns aus der dunklen gefährlichen Welt zu diesem theatralischen safe space leitet, wo alle respektiert werden. Als dey uns leitet, hat Kim de l’Horizon über deren Probleme gesprochen, deren Probleme in der realen Welt. Kim de l‘Horizon wurde zum Beispiel von den Wiener Festwochen mit dem falschen Pronomen geschrieben. Als die Überquerung fertig gemacht wurde, hat dey sich deren grünes Kleid ausgezogen, um schwarze Kleidung zu zeigen. Es bedeutet, dass dies hier endlich für dey ein Raum ist, wo dey frei ist sich auszudrücken, genauso wie dey will. Die weitere Beleuchtung des Raums zeigt ein buntes Bühnendekor mit Decken am Boden, einigen glatten Felsen und Relief. Drei Felsen werden aus der Bühne gelegt und werden von den Schauspieler*innen als Podeste im Zuschauer*innenraum verwendet. Die Bühne verschmilzt mit dem Publikumsraum und erlaubt eine Verbindung zwischen dem Publikum und den Schauspieler*innen.
Gender, Geschlecht, Körper, Stimme, Abnormalität,…: eine große Tabousuppe
Das Bühnenbild sieht wie ohne auf Anhieb erkennbare Form und ohne Hauptfarbe aus. Das wurde alles gemischt, alles zusammen geschmissen, so dass die Bühne eine andere Welt anbietet. Es ist ein bisschen verwirrend, weil es total unerkennbar ist, das Publikum verliert seinen Halt und wird also öffener zu dem Sagen der Protagonist*innen. In dieser surrealistischen geträumten Welt gibt es also andere Konventionen. Die männlich-lesbaren Protagonisten werden also braun gekleidet, die weiblich-lesbare Protagonistin grün und der nicht-binäre Charakter trägt schwarz. Diese einfache Kategorisierung stammt allerdings nicht aus der weiblichen/männlichen Binaritätsnormierung. Das ist eine Pause, ein safe space außerhalb der realen Welt und die Normativität wirkt ganz anders. Die Leute können sich frei ausdrücken, mit der Art, welche sie wollen. Nicht zufällig hat Kim de l’Horizon deren grünes Kleid ausgezogen. Dey unterstreicht damit, dass dieser theatralische Augenblickt erlaubt nicht mehr misgendert zu werden, und frei auf der Bühne zu existieren. Gender, Geschlecht, Körper, Stimme, Abnormalität,… Das alles sorgt für Diskussionen, Reden und Aussagen, die normalerweise nie wegen der Norm in der realen Welt vorkommen. Norm ist ein sozialer gesellschaftlicher Bau. Die Norm ist genauso wie Gender: Performativ, und hier wollen die Schauspieler*innen aktiv auf der Bühne alle diese Vorurteile abschaffen, dekonstruieren. Egal ob es obszön klingt, sollen die Klischees abgebaut werden und die Protagonist*innen ermahnen, dass wir alle in die sogenannte „Ursuppe“ zurück gehen, wo wir alle nur Körper und Menschen sind ohne Normen.
Blutstück ist aus der Realität und will daher eine Pause erlauben, wo man zurück zu einer Welt ohne soziale Konstrukte gebracht wird. Manchmal unlogisch, unbehaglich oder obszön präsentiert werden alle die sozialen Konstrukte abgebaut trotz alles Vorbehalts des Publikums, um zu einer Geschlecht- und Genderbefreiung zu kommen.