Archiviertes Zerwürfnis. Vom ‚Wahrheitsgehalt‘ eines Testaments.

Von Felix Maier

Die Reflexion widmet sich anhand eines im Archiv aufgefundenen Testaments der Frage, wie und ob man verantwortungsvoll mit sich widersprechenden Quellen arbeiten kann.

Meine Recherche zu Margarete Langkammer in der Wienbibliothek ließ mich auf eine recht herausfordernde Hürde stoßen. Dabei sollte diese Hürde mit dem ersten gesichteten Dokument in der Wienbibliothek anfangen und sich bis zum letzten transkribierten Dokument nicht lösen lassen. Ich erfuhr dadurch vor allem, wie schwierig es sein kann, verschiedenen, sich widersprechenden Stimmen der Vergangenheit eine Gewichtung zu verleihen.

In der Wienbibliothek liegt das Testament des Schauspielers und Regisseurs Karl Langkammer (gest. 1936), er war mit Margarete Langkammer (gest. 1922) verheiratet und mit ihr auf einer Amerika-Tournee und einer anschließenden Amerikareise unterwegs. Margarete Langkammer schrieb unter ihrem eigenen Namen vor allem Kurzgeschichten, die mit Erfolg veröffentlicht wurden. Unter dem Pseudonym Richard Nordmann jedoch veröffentlichte sie Theaterstücke, weil diese -von einer Frau verfasst- vorher unbeachtet geblieben waren.

In seinem Testament erläutert Karl Langkammer, er habe nach dem Tod seiner Frau deren unehelichen Sohn adoptiert. Er beschreibt weiter von einem miserablen Verhältnis, das zu großem Erbschaftsstreit geführt habe, in dem der Adoptivsohn Anspruch auf das geistige Eigentum der Mutter erhob. Daraufhin gibt Karl Langkammer an, selbst sehr intensiv an den Theaterstücken unter dem Pseudonym mitgearbeitet zu haben.

Ein Testament und seine Folgen

Hier nimmt die Problematik ihren Anfang.

Wenn man den Verdacht hat, diese Zeilen seien nur verfasst worden, um einen Erbteil vor Ansprüchen zu schützen, kann man oder muss man ihnen trotzdem Glauben schenken? Es sind Zeilen, die sogleich einen erheblichen Anteil des künstlerischen Schaffens Margarete Langkammers in Frage stellen, die ihre Arbeit diskreditieren und nachträglich Zweifel an ihrer Autorinnenschaft verursachen (solche gab es auch bereits zu Lebzeiten Margarete Langkammers, sie waren von der Presse geschürt worden und gründeten in misogynen Ansichten über das fehlende Schreibtalent von Frauen).

Mein Gemüt während der weiteren Recherche war daraufhin etwas betrübt, da ich vorerst keine klaren Worte von der Künstlerin selbst fand, die den Zweifel hinsichtlich ihrer Autorinnenschaft zerstreuen konnten. Ich fand vor allem Briefe, in denen sie zum Beispiel einen Inspizienten weiterempfahl, ein künstlerisches Treffen zweier Frauen engagierte oder eine Geschichte zur Veröffentlichung einsandte. Kurzum, vor allem Korrespondenz, die ihr künstlerisches Schaffen hervorhob und ihre gute Vernetzung in Kunst- und Kulturkreise betonte.

Allerdings könnte ich das Testament ihres Mannes nicht einfach außen vor lassen, fürchtete ich, zu deutlich war das Dokument in diesem Punkt. Ich müsste versuchen, es möglichst sensibel zu erwähnen, zu kommentieren, den Erbschaftsstreit als mögliche Ursache nennen. Das endete gewiss in einer weiteren Unsicherheit bezüglich Autorinnenschaft, sagte ich mir.

Es kam mir nämlich unangemessen vor, diese komplexe Problematik in einem Lexikoneintrag zu behandeln. Außerdem, wenn man die Problematik so sensibel und gewissenhaft wie möglich in den Artikel aufnähme, dann würde sie allein schon so viel Platz einnehmen, dass der Konflikt und die Ungewissheit über die Autorinnenschaft mehr Aufmerksamkeit bekäme, als die Künstlerin selbst.

Ich war nicht zufrieden mit den vorläufigen Ergebnissen meiner Recherche.

Margarete Langkammer

Allerdings ist es nicht wissenschaftlich, eine These in Dokumenten bestätigt sehen zu wollen, deshalb fuhr ich möglichst erwartungslos fort, zu recherchieren und weitere Kurrent-Briefe zu transkribieren.

Was sich mir auftat, war das Bild einer sehr vielfältigen, selbstbewussten und gut vernetzten Künstlerin, die reiste und sich auch zum Schreiben in einen Kurort zurückzog. Aus ihren Korrespondenzen lässt sich außerdem entnehmen, dass sie erpicht darauf war, mitzubestimmen, welche Schauspieler*innen eine Rolle in ihren Stücken erhalten sollten.

Briefe, und eine neue Perspektive

Die letzten in der Wienbibliothek vorhandenen Briefe lösten schließlich mein Dilemma. Es handelt sich um Korrespondenz aus der Zeit, in der Margarete Langkammers Pseudonym Richard Nordmann aufzufliegen drohte.

Bitter angesichts der ungerechten Umstände ihrer Zeit schreibt Langkammer:

„Ist es nicht zum Lachen, Herr Direktor, dass man, weil man ein oder zwei gute (?) Stücke geschrieben hat sich verkriechen muss u. mit hundert Schleiern verhüllen, als ob man heute entdeckt hätte, dass ich das Volkstheater in die Luft sprengen will?!“ (1)

Außerdem fand ich über ANNO in der Wiener Allgemeinen Zeitung ein Interview, in dem sie schließlich offen über den Zwang spricht, sich hinter einem männlichen Namen verstecken zu müssen: „Was hätte ich unter den damaligen Umständen thun sollen? Ich sagte mir, daß meine Stücke nichts taugen, daß sie Frauenarbeit seien, und ich begann an mir selbst irre zu werden.“ (2)

Diese sehr aussagekräftigen Zitate fügte ich in meinem Lexikonbeitrag ein. Mir war es wichtig, die Zitate unverändert in meinem Artikel aufzunehmen, um Margarete Langkammer selbst sprechen zu lassen. Sie zeugen vom tiefen Zerwürfnis einer Frau, die mit den Umständen ihrer Zeit haderte. Ich entschied mich schließlich dafür, den Erbschaftsstreit und das Testament Karl Langkammers in meinem Lexikoneintrag nicht zu erwähnen. Ich hatte nun aussagekräftiges Material, das für Margarete Langkammers Autorinnenschaft sprach, der Erbschaftsstreit schien mir nun in einem Artikel über eine Theaterkünstlerin nicht mehr relevant.

Was mich außerdem beeindruckte war Langkammers Umgang mit den Medien. Da sie bereits als Journalistin gearbeitet hatte, wusste sie bestens Bescheid, wie die Presse auf Sensationen und Spekulationen reagierte. Als ihr Pseudonym erstmals zu wackeln drohte, schrieb sie dem Direktor des Raimundtheaters, was er wie der Presse gegenüber sagen sollte, er solle bislang noch nichts Genaues verlautbaren. Sieben Wochen vor der Premiere wäre nämlich zu viel Pressepräsenz/Sensation über das Stück schädlich, weil bei der Premiere das Interesse nicht mehr vorhanden ist. 14 Tage vor Premiere wäre viel Presse hingegen sehr hilfreich. Sie war so vorsichtig, dass ihr Pseudonym nicht aufflog, weil der finanzielle Erfolg ihrer Stücke mit ihrer Anonymität zusammenhing.

Archiv, Geschlecht und Struktur

Was allein anhand der Organisation des Archivs der Wienbibliothek am Beispiel Margarete Langkammer auffällt, ist, dass ihr kein eigenständiger Nachlass gewidmet ist. So kann erwähnt werden, dass der Begriff von Theater um die Jahrhundertwende archivarisch überwiegend männlich und kulturell im Sinn eines bürgerlichen Theaterbegriffs definiert wurde. Lazardzig schreibt dazu:

„Bevor es ein Archiv als Ort gibt, d.h. ein Haus oder einen Raum, der sich Archiv oder sagen wir: Theaterachiv nennt, muss bereits eine Festlegung getroffen worden sein, was eigentlich als Theater gilt.“ (3)

Während Langkammer durchaus für ein dramenzentriertes, bürgerliches Theater schrieb und ihre Texte als solche so überdauert haben, bedingt ihr Geschlecht, dass Langkammers Aktivitäten nicht prominent und unter einem Dach archivarisch aufzufinden sind. Meine Archivarbeit zu Margarete Langkammer geschah so anhand von Spuren. So zum Beispiel über den Teilnachlass Louis Treumanns oder über eine Visitenkarte aus dem Nachlass von Karl Kraus.

Die Frage nach einer eigenen Erwartungshaltung während der Archivarbeit will ich ebenfalls betonen. Es war mir schließlich bewusst, dass es eine Rolle spielt, wie ein Lexikoneintrag aussehen wird, auch, dass ein Theaterarchiv um die Jahrhundertwende sehr ungleich aussieht und es keine einfache Aufgabe ist, einen zweiten Blick auf übersehene, zu Unrecht wenig behandelte Künstler*innen zu werfen. Vielleicht waren es jedoch gerade diese Umstände, die eventuell unbewusst dazu führten, dass trotzdem eine Erwartungshaltung entstand: nämlich jene, idealerweise eine feministische Figur der Theaterszene um 1900 besser beleuchten und einen Artikel darüber veröffentlichen zu können. Das führte zu meinem Zerwürfnis mit Karl Langkammers Testament. Kann ich nämlich ‚wissenschaftlich genug‘ darüber schreiben?

Mit Donna Haraway gesagt: es machte mir bewusst, dass mein eigenes Wissen um Theaterkünstler*innen situiert ist. (4) Die Offenlegung dessen ist es, was für ein verantwortungsvolles Schreiben wichtig ist.

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1 Brief von Margarete Langkammer an Adam Müller-Guttenbrunn, Handschriftensammlung, Wienbibliothek im Rathaus.

2 Wiener Allgemeine Zeitung, 3.1.1895, S. 3-4, hier S. 4.

3 Jan Lazardzig, Theater archivieren. Drei Thesen zu einer zeitgemäßen Überlieferungsstrategie des theaterkulturellen Erbes, Vortrag im Rahmen der Veranstaltung: „Was bleibt“, Deutsches Theater Berlin, 29. 1. 2018.

4 Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York 2001, S. 80.

Abbildungsnachweis: Der Humorist. Illustrirtes Unterhaltungsblatt 15. Jahrgang/Nr.5, 10. 2. 1895, S. 4.