undercurrents

R: Sarah Vanhee, Festwochenzentrum Donaustadt, 12. Mai 2019

Befreiende Schreie (S.B.)

Die Künstlerin, Regisseurin und Choreografin Sarah Vanhee ist bekannt dafür, Aussergewöhnliches zu schaffen. Seit 2013 erforscht sie das Potenzial des Schreis auf unterschiedlichsten Gebieten: Beispielsweise arbeitete sie unter anderem mit Gefängnisinsassen, in privaten Wohnzimmern, in Konferenzräumen und natürlich im Theater. Die Uraufführung des Stückes Undercurrents, was auf Deutsch so viel wie Untertöne oder auch Unterströmungen bedeutet, war auf jeden Fall ein einzigartiges Erlebnis. Das Ensemble bestand aus einer professionellen Darstellerin, nämlich Sarah Vanhee, die ebenfalls mitspielte, und aus über ein Duzend Laien, die aus Wien stammen. Nach einem kurzen Spaziergang «zu einem geheimen Ort» bildete die Donaustadt die Rahmung, ein leeres Feld die Bühne für das Spektakel. Rauschende Regenüberzüge im wilden Wind, der das Gras mitriss, sorgten für eine einmalige Performance. Trotz schlechter Wetterbedingungen hätten die Verhältnisse nicht besser sein können, um eine solche Atmosphäre zu schaffen: Es fühlte sich an, wie eine verkehrte Welt, wo trotzdem alles zusammen passt. Die SchauspielerInnen im Stück Undercurrents konnten das Publikum mit ihren unzähligen Schreien ergreifen und sorgten für eine riesige Spannung, die nur dann unterbrochen wurde, wenn ein Schrei das Publikum auf irgendeine Art so amüsierte, dass es lachen musste. Die Schauspielenden lösten vermutlich bei jeder und jedem Zuschauenden eine kurze Reflexion darüber aus, was diese Schreie bedeuten könnten oder wie sich jede/r Einzelne dabei fühlt. Bei den einen Schauspielenden war während dem Schrei eine grosse Verzweiflung vorhanden, die durch dieses allerdings befreit wurde. Besonders gut kam die Emotionalität zum Tragen, die in den Schreien steckte. Sie klangen wie Energieschübe, die rausgelassen werden mussten, als könnte man so seine negativen Gefühle einfach abwerfen.
Auch der Aufbau des Stückes ist bestimmt nicht bedeutungslos und macht die Wirkung um ein Vielfaches eindringlicher. Als die erste Frau loslief, sich einen wahrscheinlich willkürlichen Punkt aussuchte und einen Schrei ausstiess, waren alle still und gefesselt. Im Verlauf des Stückes machten es ihr die anderen SchauspielerInnen gleich, jedoch wurde neben dem starren Gehen auch gerannt oder einfach im Stehen geschrien. Entscheidend war jeweils die Körperhaltung, denn diese, kombiniert mit dem dazugehörenden Schrei ergaben sozusagen das Resultat der jeweiligen Person. Die Körperhaltungen waren also genau so unterschiedlich wie die Schreie. Zwar konnte bei mehreren beobachtet werden, dass sie sich bücken – manche nach vorne, andere nach hinten – und dass die Hände oft gespreizt waren. Wurde allerdings etwas genauer hingeschaut, war keine Haltung genau gleich. Es gab auch eine Schauspielerin, die sich um sich selbst im Kreis drehte und dabei die Hände ausstreckte, sie schien dabei locker zu sein, was einen grossen Unterschied zu den meisten anderen darstellte, die eine Spannung im ganzen Körper hatten während sie schrien.
Natürlich waren die Schreie ganz unterschiedlich: Von schwach und zerbrechlich über neu und untypisch bis hin zu besonders energiegeladenen und ausdrucksstark war alles dabei. Hier spielte bestimmt auch die grosse Facette an Altersgruppen eine Rolle, da je nach Alter auch die Stimmbänder mehr oder weniger funktionstüchtig sind, oder aber die innere Energie auch noch nicht, oder nicht mehr so einfach zu Stande kommt. Allgemein spielen die Stimmbänder, ihre Dicke, Länge, sowie die Tatsache, ob sie je trainiert wurden, eine Rolle. In diesem Fall wurden die Stimmbänder der Schauspielenden für diese Aufführung an zwei Wochenenden und über mehrere Wochen in den Proben trainiert, damit sie keinen Schaden davon tragen. Jedoch ist ein Training über mehrere Jahre nötig, wenn die Schreie wirklich laut und nicht gebrochen klingen sollen und die Stimmbänder es gut verkraften sollen.
Die Schauspielenden bewegten sich also schreiend über das Feld, immer weiter weg, bis sie kaum mehr zu hören waren, während sie stets von ihrem Echo begleitet wurden. Das Stück folgte demnach einem strengen Ablauf. Die Absicht des Stückes war vermutlich, das Publikum zum Nachdenken zu bringen. Es gehört nämlich nicht in unseren Alltag, zu schreien. Wir kennen das Geschrei von Babys, von Kleinkindern und vielleicht aus Kriegs-, Action- oder Horrorfilmen. Für einen Schrei muss es einen schwerwiegenden Grund geben, der hier teilweise an den Gesichtsausdrücken der Schauspielenden zu erahnen war. Es fühlte sich teilweise so an, als wollten sie etwas herauslassen, das sie in ihrem Inneren plagte. So führte das Geschrei zu einer Art Befreiung. Auch im Publikum war diese stark vorhanden, nach jedem Schrei war eine Lockerheit zu spüren. Als die Schauspielenden zu hinterst auf dem Feld waren, waren die Schreie kaum hörbar, die Körperhaltungen waren jedoch noch zu sehen, was zeigt, wie konsequent sie waren. Alles in allem ein Stück mit einer eindringlichen Wirkung und gleichzeitig ein besonderes Erlebnis, das einen Anstoss zum Nachdenken gibt.

Wind schrei regen – undercurrents 12.05. (C.F.)

Eine Ausflugsgruppe sammelte sich vor der Erste Bank Arena im nasskalten Sonntagsgrau. Bei freiem Eintritt locken die Wiener Festwochen nach draußen, raus aus den Wohnsiedlungen auf ein freies Feld. Auf einem Feldweg angekommen stehen die Performer*innen mit dem Rücken zum Publikum auf der Wiese. Nach und nach bewegen sich die ersten Personen weg von der Gruppe und schreien. Anders als beim Rufen ist die Tonhöhe beim Schreien nicht mehr kontrollierbar und übersteuert. Lachen geht durch die Zusehenden, ein hoher Schrei wird durchgerüttelt vom Laufen, ein anderer wird in den Himmel gerichtet und schnell vom Wind verschluckt.
Für Schreien als ein Grundrecht und als demokratisches Mittel plädiert die belgische Künstlerin Sarah Vanhee. Die Künstlerin will sichtbar machen, was sonst unter der Oberfläche liegt und arbeitet dafür viel im öffentlichen Raum, so auch bei undercurrents, das als Uraufführung bei den Wiener Festwochen läuft.
Undercurrents, auf Deutsch Unterströmungen, nähert sich ausgehend vom individuellem Schrei einer Landschaft aus Schreien an. Die „Screamscape“ entsteht, wenn die Performer*innen sich nach und nach auf dem Feld verteilen und schreien. Kraftvoll und körperlich, lang andauernd genauso wie kurz und intensiv – Intonation, Lautstärken und Körperausdruck variierend. Statt „Schrei nicht so laut“, wird hier gegen den Wind und das schlechte Wetter angeschrien und sich selbst Ausdruck gegeben. Bewegung und Ton gehen ineinander über, bedingen sich und fügen sich zu einer Komposition zusammen. Schreien als Befreiung, als Selbstausdruck, als individuell, intim und kraftvoll. Undercurrents zeigt das Potential des im Alltag wenig geschätzten und unterdrückten Verhaltens auf.
Bewohner*innen der Donaustadt und, aufgrund von geringen Rückmeldungen aus ganz Wien, wurden vor Festwochenbeginn eingeladen, an einem Wochenende mit Sarah Vanhee zu arbeiten und in einem Stimmtraining den eigenen Schrei zu finden. Ebendiese geschulten Stimmen schreien sich ein in das offene Feld der Donaustadt, markieren Raum und Ausdruck und verschwinden nach und nach in der Ferne.
Die Intervention ist schnell vorbei, Autos rauschen im Hintergrund und der Wind zieht weiter raschelnd durch die Plastikponchos. Ein Mann schreit den Performer*innen nach, der Rest des Publikums bleibt klatschend stumm zurückgelassen am Feldrand zurück. Das Demokratieversprechen bleibt uneingelöst für die Mehrheit, die zurückgeführt wird zur Erste Bank Arena.

Auf der anderen Seite der Stadt (Peter Brotsack)

Es ist ein verregneter Sonntagnachmittag, an dem Sarah Vanhee dem Publikum eine Studie über das menschliche Stimmorgan vorführt: undercurrents heißt das aktuellste Projekt der belgischen Künstlerin, Autorin und Performerin, welches das Eröffnungswochenende der Wiener Festwochen bespielt. Oder, besser gesagt bebrüllt, denn bei dieser Performance dreht sich alles um den menschlichen Schrei.

Ein leichter Nieselregen fällt vom Himmel und wird einem mit der typischen Gnadenlosigkeit des Wiener Windes ins Gesicht gepeitscht. Die Zuschauer von undercurrents haben sich vor der Erste-Bank-Arena in der Donaustadt versammelt und machen sich nun auf den Weg. An einem Feld jenseits der Dückegasse, quasi am Grenzübergang vom 22. zum 21. Wiener Gemeindebezirk beginnen schließlich die Performer nach und nach die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Stimme auszutesten.
Mal hoch und schrill, dann wieder tief und laut oder extrem in die Länge gezogen – so interagieren die Darsteller auf dem weiten Feld mit ihren Schreien und weben dabei eine ganz besondere Art von Klangteppich. Hie und da prallen zwei Stimmen aufeinander, um dann in der Weite des Feldes wieder zu verhallen. Und auch das anfänglich sehr unpassend scheinende, schlechte Regenwetter entpuppt sich hier als gewinnbringend: Denn wenn Wind und Regen die Schreie in die verschiedensten Richtungen tragen, entwickelt sich das weite Feld zu einer Spielfläche, eine Live-Komposition entsteht, mit viel Persönlichkeit, Individualität – und Nahbarkeit.

So sind diese Performer nämlich keine professionellen Schauspieler. Mit 18 Bewohnern verschiedenen Alters der Donaustadt hat Sarah Vanhee einen intensiven, viertägigen Workshop durchgeführt – gemeinsam mit einem professionellen Stimmtrainer, denn schreien will ebenso wie singen gekonnt sein und bedarf Technik, wenn man sich dabei keine Verletzungen der Stimmbänder zufügen möchte. Das passt sehr gut zu der diesjährigen Erweiterung der Wiener Festwochen auf die Peripherie: Ein Festivalstandort in der Donaustadt soll helfen, den Stadtteil fernab vom Zentrum neu zu entdecken und miteinzubeziehen.
Das setzt Vanhee mit undercurrents in die Praxis um und gibt den Bewohnern der „anderen Seite“ der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Sie selbst bezeichnet das Projekt als Intervention: Der Schrei ist für sie nämlich nicht nur etwas sehr Intimes und Persönliches, der Einem Einblick in das Seelenleben eines Menschen gewährt: Schreien ist zuallererst Grundrecht und demokratisches Instrument. Und so wird der Zuschauer bei undercurrents Zeuge einer spielerisch gelungenen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Macht und Möglichkeit von Stimme, nach der Gewalt eines Schreis, der zugleich die größte Kraft und größte Verletzlichkeit eines Jeden preisgeben kann.

Gehört werden (G.J.)

Bei welchem Wetter würde man am Liebsten nur laut schreien wollen? Regen, Wind und Kälte erscheinen als Antwort recht angebracht. Genau zu jenen Bedingungen, in welchen man bei (angeblich) 11°C mit vier Schichten an Kleidung im Freien umherwandert und trotzdem noch die Kälte spürt, wurde uns undercurrents präsentiert; eigentlich recht passend. Was hier beobachtet wird, ist das Ergebnis der Forschungen über die ästhetischen und politischen Kräfte des Schreis durch Sarah Vanhee. Sie bezeichnet ihr Projekt als Intervention. Eine Kunstaktion im öffentlichen Raum. Aber auch ein politischer Eingriff. Vielleicht sogar ein Eingriff in den Erziehungsprozess?

Beabsichtigt ist hier die Schaffung eines eigenen Raumes, dem sogenannten „Screamscape“, in dem das Schreien als eines unserer demokratischen Grundrechte durch die partizipierenden Individuen hervorgebracht werden soll. Als ZuschauerIn ergibt sich hier ein recht interessantes Bild. Wie gewohnt bei einer Intervention zeigt sich das Publikum anfangs schüchtern, abwartend, beobachtend. Nach einiger Zeit jedoch ignoriert eine Person die Stimme in seinem/ihrem Kopf, welche meint: „Du hast nicht die Schuhe dafür an, um jetzt durch dieses matschige Feld zu stapfen und schreien ohne richtige Technik ist sowieso ungesund.“ Damit ist das Eis gebrochen. Immer mehr Personen betreten das Feld, sorgen dafür, dass sie gehört werden, jede/r auf seine/ihre eigene Art und Weise. Dies ist als Schaffensprozess für die Partizipierenden gedacht, welche unter die Oberfläche der Gesellschaft tauchen, vergessene, überschriebene Dinge zum Vorschein bringen und in Verbindung mit diesen ein neues Daseinsgefühl entdecken. Das Ganze klingt jedoch wesentlich „transzendenter“ als es in der Erinnerung, zumindest als außenstehende Person, tatsächlich verankert geblieben ist. Die individuellen Formen des Schreiens sind interessant zu beobachten, nach einer Zeit beginnt man sich aber zu fragen, wie das denn alles auf den Jogger wirkte, welcher vor zwei Minuten vorbeilief. Und ich frage das ohne jegliche Ironie. Wie wirkt diese Intervention auf jemanden ohne Kontext? Eine Frage, welche ich leider nicht beantworten kann. Was ich jedoch sagen kann, ist, das Sarah Vanhee es hier schafft, einen sehr schmalen Grad zu wandern. Bei dem Beobachten einer Person, welche schreiend und mit gehobener Faust, fast als wolle eine Revolution ausgerufen werden, das Feld betritt, kommen nämlich die Gedanken über das Schreien in Verbindung mit Politik wieder zurück. Es sind stets jene, die am lautesten schreien, welche am ehesten gehört werden, aber am wenigsten zu sagen haben. Da undercurrents jedoch in einem Raum stattfindet, in welchem ein Großteil des Lärms von der Umgebung verschluckt wird und auf die individuelle Partizipation seiner ZuseherInnen vertraut, somit von ihnen erwartet, nicht gedankenlos zuzusehen, bleibt in der Erinnerung letztendlich nicht nur bloßes Schreien zurück.

undercurrents (JW)

Der Schrei ist etwas zutiefst Menschliches. Dieser Aussage muss man nach der Schreiperformance von Sarah Vanhee einfach zustimmen.
Nach einem kurzen gemeinsamen Spaziergang zum Spielort, einem Feld, bleibt das Publikum auf dem asphaltierten Weg stehen, die Darstellenden finden sich im Feld zusammen. Eine Darstellerin beginnt, sie geht ein paar Schritte ins Feld hinein, beugt sich vornüber und stößt einen markerschütternden Schrei aus. Eine zweite Darstellerin findet ihren Platz im Feld, sie scheint die Andere anzuschreien. Immer mehr Performer verteilen sich im Feld und präsentieren in einer sorgsam komponierten Choreografie ihren eigenen, persönlichen Schrei. Dabei haben die Performenden unterschiedliche Bewegungen, mit denen sie den Schrei begleiten. Eine Darstellerin schreit schließlich hinter dem Publikum und bahnt sich dann einen Weg durch die Zuschauermenge, als wolle sie eine Gruppe ins Kriegsgetümmel führen.
Immer wieder schreien die Teilnehmenden, teilweise sich gegenseitig an, teilweise privat für sich. Manche schreien in hohen Tonlagen, manche in tiefen, manche halten den Schrei lange, manche kürzer, manchmal variiert die Tonlage. Die Darstellenden bewegen sich dabei kontinuierlich weg vom Publikum, die Schreie werden immer leiser, bis sie im Rauschen des Windes nicht mehr auszumachen sind.
Diese Performance hat mehrere interessante Aspekte. Einerseits führt sie vor Augen, wie individuell ein Schrei sein kann – das heißt, dass alle Menschen unterschiedlich schreien, aber auch, dass es zahlreiche Gründe dafür gibt, zu schreien. Es kann ein Schmerzensschrei sei, ein Freudenschrei, ein Auftakt für den Kampf, Wehklagen, Entsetzen … oder einfach nur sich selbst eine Stimme geben.
Andererseits war auch das Setting sehr interessant gewählt: ein freies Feld, auf dem viel Platz ist und niemand gestört wird. Durch die vielen Bauten im weiteren Umkreis allerdings, entstanden nach Schreien einer gewissen Lautstärke und Stimmlage Halle, man konnte den ausgestoßenen Schrei also sehr viel leiser noch einmal hören.
Die Wirkung, die so ein Schrei auf einen selbst hat, sollte auch nicht unterschätzt werden. Manche Schreie gehen einem sprichwörtlich in Mark und Bein, andere erzeugen eine Gänsehaut. Je näher die Performenden dabei sind, desto intensiver ist die Reaktion darauf.
Auch das Rauschen des Windes und das Rascheln der zahlreichen verteilten Regenmäntel passten sehr gut zu dieser Intervention, so natürlich und unkontrollierbar, wie diese Geräusche sind.

Schreie am Feld (L.L.)

Es ist Sonntag am frühen Abend, es ist kalt für Anfang Mai und es regnet. Dennoch begibt sich eine große Gruppe des Wiener Festwochen Publikums in die Donaustadt, um von der Erste Bank Arena noch weiter zu einer Intervention von Sarah Vanhee zu gehen. Man wird durch einen kleinen Teil des 22. Bezirks auf ein großes, offenes Feld gelotst. Hier soll undercurrents stattfinden. Und tatsächlich kommt eine kleine Menschenansammlung in Sicht, die bereits auf uns gewartet hat. Über ein Megafon werden zwei Bitten mitgeteilt: keine Fotos und leise folgen.
Und so zieht, trotz schlechtem Wetter, das Publikum weiter ins Feld. Die PerformerInnen stellen sich in einen Kreis im Grünen auf. Die Zuschauenden warten am Wegrand darauf was passiert. Eine neue Formation wird eingenommen, die Rücken zu uns gekehrt. Dann beginnt die erste Frau zu laufen. Sie bleibt weiter drinnen im Feld stehen und schreit einen langen Schrei. Die nächste läuft zu einer anderen Stelle und gibt kurze, aufeinanderfolgende Schreie von sich. Immer weiter löst sich die Gruppe auf und schreitet weiter in die grüne Landschaft der Donaustadt. Es sind Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und genauso unterschiedlich sind ihre Schreie und Wege ins Feld. Sie gehen mal langsam, mal schnell, gerade oder in Kreisen. Die Schreie sind hoch und tief, lang und kurz, unter die Haut gehend, rebellisch und erheiternd. Es dauert nicht lange und die Schreienden verschwinden aus dem Sicht- und Hörfeld. Zögerlich verlässt auch das Publikum den Schauplatz.
In dieser Intervention wurden verschiedene Gefühle wachgerufen und nicht, wie man meinen möchte, wach geschrien. Denn trotz des drastischen Schreiaktes wurde ein sanftes Nachdenken ausgelöst. Man wurde nicht angeschrien und auch die Beteiligten schrien sich nicht gegenseitig an. Es waren einzelne Schreie, die von jedem und jeder persönlich behandelt wurden. Die möglichen Auslöser ihrer Schreie blieben im Verborgenen. Das Geschehen konnte mit Abstand beobachtet werden. Es wurden Gedanken angeregt, die zu einem selber zurückführten. Wann habe ich das letzte Mal geschrien? Wieso? Als Kind hat es auch Spaß gemacht zu schreien. Welche Gefühle hatte ich bisher beim Schreien? Und wo kann ich auch mal einen Befreiungsschrei abgeben?
Das Feld der Donaustadt scheint gut dafür geeignet.

Eine akustische Stadt(teil)eroberung (Anna Reicht)

Langsam setzt sich der Zug vom Treffpunkt beim Festwochenzentrum in der Donaustadt in Bewegung. Die gemeinsame Prozession des Publikums durch Häuserschluchten und Innenhöfe der riesigen Wohnkomplexe des 22. Wiener Gemeindebezirks verleiht dem Unterfangen von Beginn an einen sakralen Charakter. Bald lichten sich die Großwohnsiedlungen und der Umzug kommt schließlich an einem Feld – einer Gstetten, die sehr abrupt das Ende der Stadt markiert – zum Stillstand. Stille wird nun auch noch einmal explizit eingefordert für die letzten Meter Fußmarsch zum Ort des Geschehens.
Dort angekommen, formieren sich die PerformerInnen vor dem Auditorium zu einem Kreis. Nach und nach lösen sie sich einzeln aus der Gruppe, verteilen sich auf dem Feld und beginnen, sich ihr Innerstes von der Seele schreien – ein wenig gedämpft durch den leichten Regen und Wind. Und untermalt vom Rascheln der beim Festwochenzentrum an das Publikum ausgegebenen roten Regenponchos.
Die Schreie bleiben weitgehend für sich, sie reagieren gelegentlich aufeinander, aber es kommt zu keinem choralen Zusammenschluss der Stimmen, zu keinem Anschwellen, zu keinem kollektiven (Ge)Schrei. Dies entspricht auch der Intention der Künstlerin Sarah Vanhee, der es bei dieser Intervention um die persönliche „unverwechselbare Art und Weise des Schreiens“ geht, sowie um die „individuelle Motivation“ dafür. Letztere scheint sich während der Performance vor allem an der Kombination aus dem Schrei mit der jeweiligen Körpersprache der Teilnehmenden ablesen zu lassen: Der Interpretationsspielraum reicht hier von befreienden über lustvolle bis zu widerständigen Schreien.
Indem sich die AkteurInnen auf ihre individuelle Art und Weise schreiend über die Gstetten bewegen, erobern sie auch akustisch den Ort – und die Umgebung: Denn hin und wieder hört man das Echo einzelner Schreie von den umliegenden Bebauungen zurück hallen. Das Areal mit seiner Weite und seinen Begrenzungen wird so als Klangraum erfahren und erfasst, der mit zunehmender Entfernung der Schreienden vom Publikum langsam wieder verklingt– fade out!

Eine Ästhetik des Schreiens (L. Salander)

Die belgische Performancekünstlerin Sarah Vanhee beeindruckt durch eine Orchestrierung von Schreien auf einem verregneten Feld am äußeren Rande Wiens.
Sonntag, 11. Mai, 17 Uhr. An jenem verregneten Tag treffen sich Kunstschaffende und -interessierte im Foyer der Erste Bank Arena in Wien, um Sarah Vanhees Performance undercurrents erleben zu dürfen. Die Luft ist bereits jetzt schon von Neugier geprägt, denn das Erlebnis, welches Vanhee postuliert, lässt einige Fragen offen. Was wir bereits wissen, ist, dass die belgische Künstlerin, deren Arbeiten sich stets interdisziplinär zwischen öffentlichem Raum und institutionellen, abgeschirmten Kunsträumen bewegen, sich seit einer Weile im Rahmen ihrer Lecture Performance „collected screams“ mit einer Recherche verschiedener (nicht) ausgestoßener Schreie in unterschiedlichen Kontexten befasst. Aufgrund ihrer Einladung zu den Wiener Festwochen 2019 beschloss sie, mit 18 Personen innerhalb eines viertägigen Workshops und in Begleitung eines Stimmtrainers eine Art Choreografie des Schreiens zu erarbeiten.
An besagtem Tag versammeln sich die Rezipierenden folglich zum geplanten Treffpunkt im Foyer der Erste Bank Arena, denn nähere Ausführungen zur Spielstätte wollte man nicht geben. Vanhee war es offensichtlich wichtig, dass alle gemeinsam zum Ort des Geschehens spazieren würden. Das Publikum wird nach Draußen geführt, als es soweit ist. Offenbar ist es ganz egal, wie kalt und regnerisch das Setting sein wird, in welches sie ihre Schreienden platziert. Ungefähr zehn Minuten wird nebeneinander her marschiert, sich über die Kälte und den Regen aufgeregt und wild diskutiert, wie diese performative Darbietung ablaufen und wie problematisch sich möglicherweise deren Umsetzung auf einem verregneten Feld gestalten wird. Endlich angekommen geht es direkt los: Eine kleine blonde Frau macht den Anfang. Sie läuft zielstrebig, dem Publikum den Rücken zugewandt und ohne sich zunächst umzusehen auf das grüne Feld zu, bleibt irgendwann stehen, positioniert sich und lässt schließlich einen markerschütternden Schrei von sich. Anschließend betreten in einer Zeitspanne von geschätzten 20 Minuten 17 weitere Personen nach und nach das Feld, breiten sich aus und schreien sich nacheinander die Seele aus dem Leib.
Soweit so gut, das Konzept ist klar und eigentlich relativ einfach. Und doch ist die Rezeptionswirkung eine Intensivere als erwartet. Zunächst einmal ist die Variation bzw. die Individualität dieser verbalen Ausbrüche beeindruckend, während die Körperhaltung des jeweils Schreienden immer dieselbe zu sein scheint. Der Körper spannt sich an und es wirkt beinahe, als würde jeder Schreiende während seines Schreis zwangsläufig ein wenig in die Knie gezwungen.
Tatsächlich hat nicht nur jede Stimme ihre eigene akustische Handschrift, sondern auch jeder Schrei stellt ein absolutes Unikat dar. Dies sticht neben dem einfachen Konzept der Performance als omnipräsente Erkenntnis hervor. Die Schreienden verteilen sich großflächig auf dem Feld und geben immer wieder abwechselnd Schreie von sich. Mal ein kurzer Schrei, mal ein langer Schrei, mal schreien sie sich gegenseitig an und mal schreien sie in die weite Leere des Feldes.
Vanhee macht es uns einfach, ihre Intention zu verstehen, denn die verschiedenen Schreie kennzeichnen nicht nur autobiografische Züge, sondern sie suggerieren eine immense Erleichterung, obgleich der Schrei in unserer heutigen Welt generell eher mit angespannten Emotionen wie Wut und Angst assoziiert wird. Überraschenderweise spüre ich mit jedem weiteren Schrei, den eine Person von sich gibt, ein kleines Stück Ballast abfallen, obwohl es eigentlich doch gar nicht mein Eigener sein kann, solange ich nicht selbst schreie. Eine ‚schreiophone‘ Sprache scheint auf diesem Feld heraufbeschworen, welche meine primäre Erwartungshaltung durchkreuzt, dass diese Performance einen eher anstrengenden bzw. stressigen Effekt haben könnte. Ja, ich ertappe mich sogar bei dem Wunsch, selbst auf das Feld zu rennen und mit all meinem Stimmvolumen dieser expressiven Kommunikation beizuwohnen. Tatsächlich tritt eine Frau aus dem Publikum während der Performance heraus und gibt auch ihren Schrei zum Besten, während ein Studierender zwar nicht schreit, aber den Künstlern am Ende aufs Feld folgt. Dass diese wahrscheinlich höchste Form der verbalen Eskalation eine so ansteckende Wirkung haben kann, war mir zuvor nicht bewusst.
„With the understanding that every person screams from a different place, I developed different techniques and methodologies to include every one with a desire to scream, also those who have never screamed before. In a patriarchal society in which dominant virtues are to be rational, self- contained or controlled, I see screaming as an act of resilence, a basic right and democratic tool“, sagt Vanhee und betont damit eine Korrelation des Schreis mit dem Gefühl der Befreiung, statt ihn negativ zu konnotieren, wie es unsere heutige, von Rationalität und Kontrolle beherrschte Gesellschaft zu tun pflegt, denn in unserem durchorganisierten Alltag hat diese Ausdrucksform eigentlich keinen Platz mehr. Vielleicht ist es gerade deshalb so viel erfrischender als erwartetet, mit einer Performance überrascht zu werden, die den Schrei zu ihrem Protagonisten macht und dessen ambivalentes Wesen ins Zentrum stellt, denn trotz der immensen Wucht, die ihm inne wohnt, kann ein Schrei offensichtlich ein ultimatives Gefühl der Entspannung suggerieren. Das Wetter tut der Sache ebenfalls keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Schreie verhallen in der Weite des Feldes, während die Wucht des Wetters mit der Kraft der Schreie Hand in Hand geht. Was ich aus dieser Performance mitnehme? Öfter in den Wald gehen und tatsächlich schreien, anstatt es mir immer nur vorzunehmen.