The Scarlet Letter

R: Angélica Liddell, Halle E/MQ, 13. Mai 2019

A wie Angélica! (L. Salander)

Angélica Liddell bietet mit ihrer reißerischen Inszenierung „The Scarlet Letter“ einen fulminanten Auftakt der Wiener Festwochen. Inspiriert vom anti-puritanischen Alleinerzieherdrama des amerikanischen Autors Nathaniel Hawthorne, nutzt diese Powerfrau den scharlachroten Buchstaben für ein Plädoyer für die Kunstfreiheit.

Montag, 13. Mai 2019, 19.30 Uhr — Der Abend beginnt mit einer, in rotes Licht getauchten Bühne und Adam und Eva am Grabstein Nathaniel Hawthornes. Liddell erscheint im schwarzen Samtkleid und während sie sich den scharlachroten Buchstaben ansteckt, der sie mit Hawthornes berühmter Ehebrecherin Hester Prynne in Verbindung bringen wird, stellen die Übertitelungen klar: A, das steht auch für Angélica. Ohne Zensur und ohne Moralismus gäbe es keine Kunst. Ohne uns (das Publikum) gäbe es keine Kunst. „Deshalb danke euch, dass ihr mich verachtet.“ Sie redet von Jungfrauen, die sie ausbluten lassen und Kindern, die sie trinken will. „Ich lebe im Feuer. Nur am Scheiterhaufen kann ich fliegen“, sagt sie und es wird klar, dass diese Performancekünstlerin, deren grenzüberschreitende Inszenierungen sich stets mit politischer, gesellschaftlicher, sowie persönlicher Gewalt beschäftigen, uns eine Ode an jedwede Art der Transgression präsentieren wird.

Im Folgenden schreit, rezitiert und singt diese zierliche Frau mit dem Stimmvolumen einer Löwin beinahe zwei Stunden lang inmitten lauter nackter Männer. Die Aufführung hat mitreißende Musik wie Lullys ‚Marche pour la Cérémonie des Turcs‘, sowie Sakrales und Schnulzen und ist flüssig durchchoreografiert. Das nudistische Ensemble bildet manchmal komische Konstrukte mit Tischen oder lässt sich von einem, in einen ziegelroten Umhang gekleideten Mann mit verdecktem Gesicht wie Marionetten von seidenen Fäden einfangen. Dieser Mann entpuppt sich als Arthur, der verheimlichte Vater des unehelichen Kindes von Hester Prynne. Auch hier liebt Hester (Angélica Liddell) nur Arthur, sucht sich aber sexuelle Befriedigung bei ihren acht nackten Substituten, die ihr gerne mal den Penis in den Mund oder den Finger in ihre Vagina stecken dürfen. Liddell zieht eine Parallele vom Puritanismus im Amerika des 17. Jahrhunderts in Hawthornes Roman zur heutigen Prüderie, als sie reißerisch klagt, keine Frau sei mehr bereit, dem Mann den sie liebe, die Füße zu küssen. „Sie sind immer Frauen bevor sie Mensch sind“, schreit Liddell in ihrer darauffolgenden fulminanten Hassrede über die Frau über vierzig, körperlichen Verfall und Altersdiskriminierung, die letztlich in der polemischen Feststellung kulminiert, dass Medea und Anna Karenina keine Frauen gewesen sein können.

Liddell spielt auch, unverschönt und provokativ wie immer, mit dem klischeebehafteten Angstbild von dem „schwarzen Manne“, indem sie den einzigen dunkelhäutigen Darsteller auf der Bühne als „Hexer“ und „Negro“ bezeichnet und darum bittet, sich ihrem stereotypen Angstbild konformgerecht zu verhalten und ihr eine Gefahr zu bieten. Im Weiteren durchkreuzt sie dies dann aber wieder in Form einer comic-relief-artigen Tanzerei zu Jay Hawkins’ ‚I put a spell on you‘, während hinter ihnen halbnackte Männer mit seidenen Ku-Klux-Klan-Kutten herumstreunern. Dann kommt Arthur tatsächlich doch noch zu Wort, um der Qual seines Schuldbewusstseins Ausdruck zu verschaffen. Er kommt mit der Verehrung der anderen ihm gegenüber nicht klar, aufgrund seines Geheimnisses und der Diskrepanz seines inneren Wesens zu dem Bilde, das die Außenwelt von ihm hat. „Du hast Glück, dass du den scharlachroten Buchstaben trägst“, sagt er, denn seine Reue, mit ihr geschlafen zu haben sei nicht echt. „Schuld macht uns nicht das Verbrechen, sondern das Gesetz“, antwortet Liddell und leitet damit bereits langsam ihre, sich ankündigende Hasstirade auf Lynchjustiz und das Phänomen der – in Hawthornes Roman omnipräsenten – Schuld ein. Die darauffolgende verquere Performance-Pause der nackten Männer, die sich zu ‚Dragostea din tei‘ gegenseitig Rosensträuße zwischen die Pobacken klemmen und Pyramiden aufeinander bilden, paraphrasiert die paradiesische Unschuld sowie katholische Rituale, an denen die spanische Avantgarde sich seit Buñuel nicht selten orientiert.

Dem Ende entgegensteuernd, eskaliert Liddell, mit auf den roten Vorhang hinter ihr projizierten Referenzen in einer Abschlussrede, die die Emanzipation von jedweder Art gesellschaftlicher Schranken ins Zentrum stellt. In Zitaten werben zunächst Foucault, Artaud, Sartre und andere für eine Liebe ohne Schranken, während das Hintergrundbild dasselbe propagiert: Amor als Sieger von Caravaggio, 1602. Liddell plädiert weiter mit den Worten „Wir lieben nur Gesetze, die wir brechen“, für eine Ablösung des, durch gesellschaftliche und politische Kontrolle erzeugten Phänomens Schuld, sie plädiert sie für eine Emanzipation der Frau weg von der Instrumentalisierung ihres Körpers als ‚Gebärmaschine‘, bis sie letztendlich wieder bei der Kunst landet, die sich der Zensur widersetzen muss, denn was wäre auch Boccaccio ohne Boccaccio?! „A“ scheint in Angélica Liddells Inszenierung für alles, was – in Anlehnung an Foucaults Bio-Macht – politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert werden soll zu stehen. Wer also die beste Tischwerbung überhaupt sehen möchte, dem genügt es, sich auch nur die erste Hälfte anzusehen. Wer aber auf der Suche nach der nackten Inquisition der Angélica Liddell und dem Urschrei der freien Kunst ist, der möge sich dieser idiosynkratischen Inszenierung unbedingt aussetzen.

Präzision der Leidenschaft – The Scarlet Letter (C.F.)

Mit Angélica Liddell laden die Wiener Festwochen eine spanische Performancekünstlerin und Regisseurin ein, die für ihre Radikalität beschimpft und kritisiert, ebenso aber gefeiert und mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. 1993 gründete die Künstlerin die Performancegruppe Atra Bilis Teatro, mit der sie eng zusammenarbeitet und Körperlichkeit und Gewalt radikal thematisiert.
In der Halle E des Museumsquartiers wird das Publikum auf eine 100-minütige Reise geschickt, eine Reise, die immer mehr an Fahrt aufnimmt, das Ziel immer wieder verschiebt und so dicht ist, dass einzelne Eindrücke, Gespräche und Andeutungen im Rückblick verschwimmen können. Eine Reise, in der man mitgerissen werden kann oder aber – die man mit Übelkeit, Ärger, Langeweile oder Enttäuschung abbricht, um schnell wieder nach Hause zu kommen.
„The Scarlet Letter“ ist inspiriert vom gleichnamigen Roman von Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1850, der zu den Klassikern der amerikanischen Literatur zählt. Die Protagonistin Hester Prynne wird im patriarchalen, puritanischen Neuengland angeklagt, Ehebruch begangen zu haben und dazu verurteilt, ein aufgesticktes A auf der Brust zu tragen. Die Bedeutung des scharlachroten Buchstabens bleibt im Roman offen und findet Vorschläge in der Inszenierung.
Liddell wirbelt als Hester im schwarzen Reifrock durch den Abend, schreit, springt, würgt, dreht sich im Kreis, meist umgeben von zehn nackten Männern. Es sind ungezähmte, wilde Momente, die sich genügend Zeit nehmen, sich nicht erklären und die im Theater selten auf diese Art zu sehen sind. Gerahmt von einer Komposition aus Ton und Licht werden Bilder kreiert, die von Gemälden der Renaissance inspiriert sind.
Die Inszenierung besticht mit ihrer ästhetischen Umsetzung. Mit wenig Mitteln entstehen intensive Stimmungen und mystische Atmosphären. Dunkelrote Vorhänge bekommen eigene Auftritte, ebenso wie ein italienischer Schlager oder Glockenläuten die leere Bühne bespielen.
Im Laufe des Abends wechseln die Szenen immer schneller, nach rituellen Episoden, Kyrie und Fürbitten schmiegen sich Lieder der Popkultur, eindrucksvolle Monologe und trashige Szenen mit viel Ironie an. Hester wehrt sich gegen die Beschränkung ihrer Selbstbestimmung, gegen moralische Verurteilungen und die Abwertung weiblicher Lust. Liddell verbindet diesen Kampf für einem Kampf für die Freiheit der Sexualität und der Kunst.
„Kunst heißt, sich dem Nichtdarstellbarem auszuliefern“ zeigt eine der zahlreichen Projektionen. Der Wunsch nach Freiheit auf der Bühne, das A für Art ebenso wie für Artaud, Foucault oder Sartre, wird mit viel Mut und Energie verfolgt. 
Liddell mache Theater aus einer Notwendigkeit heraus, sie nähere sich Themen aus einem Zwang an. Die Künstlerin fordere Passion und Präzision, so ein Darsteller später im Publikumsgespräch. Eine Mischung, die aufgeht und für die sich Liddell schon selbst den Blumenstrauß in die Hand gibt.

Gefallen lassen (G.J.)

Der erste Akteur, der in „The Scarlet Letter“ die Bühne betritt, ist ein junger Bursch auf einem E-Board. Diese kleinen defekten Spielzeuge, welche (in diesem Fall ausnahmsweise nicht komplett befreit von Vorurteilen und Klischees) symbolisch für die vermeintliche Faulheit der sogenannten Millennials und deren nachfolgenden Generationen betrachtet werden können und deren einziger Existenzgrund in einer Referenz zu einem Film von 1989 besteht. Muss man sich sowas wirklich gefallen lassen? In Kombination mit den vor der Vorstellung erhaltenen Informationen macht sich Unruhe breit, welche sich zunächst nicht bewahrheitet. Konfrontiert wird das Publikum zunächst mit einer in rot getauchten Bühne auf welcher Akteure in pechschwarzen Kostümen harmonisch über die Bühne tanzen. Thematisiert wird der nackte Körper und damit die Existenz des Menschen. Indem der eigene Scheiterhaufen als Rettung bezeichnet wird, werden existentialistische Theorien à la Sartre oder Hegel präsentiert. Liebe wird mit Hass in Verbindung gebracht. Der männliche Körper als die Spitze der Schönheit, der weibliche als die Verkörperung des Verfalls und Hässlichkeit bezeichnet. Dann bricht der Wahnsinn aus. Die ruhige Stimmung wird durch hysterische Schreie abgelöst. Die geschmeidigen Bewegungen werden zu wildem Herumrennen. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits grob ein Drittel des Stückes vorbei. Einige Gäste verlassen den Saal. Sie lassen sich dies nicht mehr gefallen. Auch das Saalpersonal, zumindest jener Mann, welcher direkt neben mir stand, schien nicht begeistert. Das Gezeigte nimmt groteskere Ausmaße an und geht ins Lachhafte über. Derweil lasse ich es mir noch gefallen. 

Die Bühne ist nun schwarz, die Ruhe ist zurückgekehrt. Der menschliche Körper steht erneut im Zentrum als Frage, ob dieser überhaupt geeignet ist, Existenz zu definieren. Thematisiert wird die menschliche Schwäche, die ansprechende Ästhetik vereint sich erneut mit dem Bühnenbild. Der erste Akt wiederholt sich jedoch bald. Das Schöne weicht dem Hässlichen, das Ansprechende dem Geschmacklosen. Dies gipfelt in etwas, was in meiner Sicht nicht anders als als Vergewaltigung gelesen werden kann. In dieser Geschichte über die menschliche Schwäche und Trauer wird die sexuelle Freiheit des Menschen propagiert, die Freiheit der Perversion. Eine gute Parallele des postmodernen Denkens, wo selbst eine Toilette als Kunstwerk zählt, solange diese von einem „Künstler“ präsentiert wird. Als Künstlerin sieht sich auch Angélica Liddell (was an dieser Stelle mal nicht angezweifelt werden soll) wie in dem namensgebenden „Scarlett Letter“ evident wird. Dieses Zeichen der Schuld dient noch anderen Bedeutungen, in den Vordergrund gerückt steht jedoch Folgende: A for Art. Kunst. Ob „The Scarlett Letter“ als Kunst bezeichnet werden kann oder soll, soll jeder für sich selbst entscheiden. Die kritischen Komponenten entsprechen nicht jedermanns Ideologie, sind aber thematisch gut verarbeitet. Die Ästhetik überschreitet die Grenzen der Geschmacklosigkeit (und das nicht unbedingt auf die gute Art und Weise), ist jedoch in ihrer Präsentation konsequent. Zumindest bis kurz vor Schluss, in welchem das Publikum Dragostea Din Tei in Kombination mit fröhlichem Tanzen präsentiert bekommt. An diesem Punkt ist es zu viel, zu aufdringlich postmodern (trotz des thematischen Zusammenhangs). Mir reicht es. Ich kann es mir nicht mehr gefallen lassen.

Einmal um die ganze Welt (Joshua Mallek)

Der König ist tot. Lang lebe der König! Nathaniel Hawthornes Grabstein thront auf der Bühne, seine Kritik an einer moralisierenden Gesellschaft lebt aber weiter – und das vielfach lauter, geifernder und wütender als in der Romanvorlage.
Das Stück beginnt mit einem Kind, das mit einem Hoverboard auf die Bühne gleitet und um den steinernen Kopf von Platon zirkuliert. Als es mit dem Kopf verschwindet tauchen Adam & Eva auf, die um das Grab von Hawthorne schleichen. Eine Entourage an Männern in schwarz gekleideten Tüchern nehmen Posen ein und verweilen in Haltungen, die an biblische Ölgemälde erinnern.
Sie begleiten die drei Protagonisten Hester (Angélica Liddell), Arthur Dimmesdale und einem afroamerikanischen Mann in hellblauen Gewändern in den nächsten 100 Minuten. Während die erste Hälfte des Stücks noch metaphorisch von chorischen Gesängen und segelnde Bewegungen durchsetzt ist, beginnt die Produktion spätestens ab der Hälfte immer mehr zu toben und mit Gift und Galle um sich zu sprühen. Lidell dreht den Spieß um und nützt den Pranger der Bühne, um die Moral und die Niederträchtigkeit der Frauen in bernhardscher Manier in jeder Faser zu verfluchen.
Die Kombination aus spanischer Stimmgewalt, totalitärer Enthemmung und völliger Rücksichtlosigkeit konstruieren ein Pamphlet, das im Raum auf die Zuschauer niederprasselt und für Zwischenrufe, Pfiffe und Applaus sorgt: Die nichtendendwollende Energie scheint auf das Publikum überzuschwappen.
Eine Vielzahl von Episoden wird in unterschiedlichen Tempi aneinandergereiht und dirigiert Spannung und Entspannung, ohne ein Gefühl von Künstlichkeit zu bewirken. Auf ästhetischer wie dramaturgischer Ebene präsentieren sich unendlich viele Dimensionen von Gut und Böse, die sich in den Körpern, dem Theatertext und in den Kostümen der Schauspieler*innen manifestieren. Immer wieder werden eindeutige Positionen vergeben, um sie im nächsten Moment durch eine Gegenposition in ein vollständiges Bild zu rücken. Lidell zeigt uns den Ausweg aus der Ideologie, indem sie eine Palette an scheinbar unvereinbaren Ideologien, samt ihrer Paradoxe auf die Bühne bringt und diese zu einem dichten Stoff verwebt. Gerade hier bleibt sie thematisch am Kern der Textvorlage: The Scarlet Letter erzählt nicht nur von einer strengen puritanischen Gesellschaft und einer Ausbrecherin bzw. Ausgestoßenen, sondern vor allem über das Spektrum interferierender moralischer Positionen.
Im zweiten Teil wird die Handlung an konkreteren Referenzen zusammengezogen: Eine Szene aus Fahrenheit 451 erinnert an die Dystopie einer bücherlosen Gesellschaft. Gleich darauf wird auf der hinteren Bühnenwand „De Sade ohne De Sade, Schopenhauer ohne Schopenhauer …“ projiziert. In Zeiten wachsender politischer Extrempositionen und die Politisierung der Künstler*innen fürchtet auch die Kunst um ihre Freiheit, kontroverse Themen zu verhandeln. Uneindeutigkeit ist ein Fehlen von Position, in einer Zeit, in der Haltung gewünscht wird. Lidell stellt sich auf die Bühne, während die Gesellschaft ihr gegenübersitzt: Als Performancekünstlerin ist diese Arbeit für sie vor allem ein Akt der Selbstermächtigung und eine Verweigerung, auf Grund des Drängens einer sie umgebenen Masse, Position zu beziehen. Am Ende des Abends ist man sich einig darüber, dass manche Passagen nicht das eigene Weltbild widerspiegeln, doch die Bereitschaft besteht, darüber zu reden.

A wie Sokrates (J.B. Lulli)

Angélica Liddell ist wütend. Die spanische Performancekünstlerin protestiert: Gegen die Gesellschaft, gegen deren Unfreiheit und Rationalisierungswahn, gegen die Fesseln, die man der Kunst anlegen will. Nathaniel Hawthornes Roman „The Scarlet Letter“ dient ihr als Vorlage für die gleichnamige, 100-minütige Performance in der Halle E des Museumsquartiers, welche oft laut und voller Symboltracht beeindruckt, wenn auch sich diese nicht immer ganz erschließt.

Es ist, wie meist bei Angélica Liddell, ein sehr körperbetonter Abend. Im dunklen, von rot und schwarz dominierten Bühnenraum stehen neben der Performerin acht nackte Männer im Zentrum des Geschehens. Ihren Aktionen haftet bisweilen etwas Rituelles an: Diese reichen von Prozessionen in Kutten über nackte, sich immer wiederholende Kraftübungen mit Tischen, Hüpfen beim Alphabet-Aufsagen bis hin zu einer Art Selbstkasteiung, bei der sich ein Seil in ihr Fleisch schneidet, welches sie sich selbst wie Spulen auf den Körper rollen.
Überhaupt entsteht der stärkste Kontrast dieses Abends in der Gegenüberstellung zweier Maximen: Religion und Sexualität. Liddell bedient sich hier sehr frei an der Buchvorlage „The Scarlet Letter“ von 1850, wo es, kurz gesagt, um Puritaner und Ehebruch geht. Im schwarzen Reifrock und mit vom Scharlach übersätem Rücken trägt sie ein rotes A auf der Brust, was an diesem Abend aber für mehr als nur für Adultery steht: Es steht für Art, für Kunst also und vor allem für die Freiheit, für deren Bewahrung Liddell in den Kampf geht. Dafür schockt sie den Zuschauer gerne mit den ihr typischen Mechanismen, die häufig den konkreten Körper betreffen. So beispielsweise, wenn sie in barocker Manier zu Jean-Baptiste Lullys Türkenmarsch durch ein Spalier von nackten Männern schreitet, während sie ihnen die Penisse langzieht. Oder, wenn sie auf dem Boden kniend nacheinander die Glieder der Männer mit dem Mund wie Hostien empfängt.
Wer Angélica Liddells Performances kennt, wird aber vielleicht auch bestätigen, dass sich solch ein Abend trotz aller Provokation, Ab- und Anstößigkeit immer ein bisschen wie nach Hause kommen anfühlt. Denn in gewisser Weise weiß man, was einen erwartet: Wenn man das durchgängige Wimmern, Stöhnen, Schreien, Singen und Raunen ihrer Stimme hört, weiß man schnell, wo man sich befindet. Und auch die monströsen Monologe, für welche Liddell bekannt ist, haben bei „The Scarlet Letter“ nicht gefehlt. In Hasstiraden über das Altern der Frau, über schwarze Sklaven und über prüde Puritaner redet sie sich mit einer Wortgewalt in eine faszinierende Ekstase, bei welcher sie mit postmodernen Größen wie Sartre oder Foucault um sich wirft. Die Ironie, welche dem Ganzen innewohnt, fasst sich dann in Sätzen wie „Verrückt nach Männern“ oder „Kein Tod ist schlimmer als die Geburt“ zusammen, welche begleitet von laut schallenden Popsongs der frühen 2000er über den rückwärtigen Samtvorhang laufen.
Angélica Liddell liefert in ihrer Performance „The Scarlet Letter“ viele Explosionen und Ekstasen. Mit ihrer provokativen Spielart fordert sie den Zuschauer heraus – und lässt ihn trotzdem oft zwischen undeutlichen Symbolen und ungeklärten Anspielungen im Dunkeln tappen. Und doch dankt man ihr dafür. Denn häufig mangelt es genau daran: am Vagen, Unverständlichen und Ungeklärten, was solch einen ohnehin schon reizüberflutenden Abend so spannend macht.

A wie abstossend… (L.M.)

Wer das Stück „The Scarlet Letter“ sieht, sollte sich eine dicke Haut zulegen und keine schwachen Nerven haben. „The Scarlet Letter“, ein Stück, welches unter der Regie der spanischen Regisseurin Angélica Liddell aufgeführt wurde, behandelt alles rund um das Thema Sex und Körperlichkeit auf der Bühne und rebelliert gegen puritanisches Verhalten. Darstellungen von schreienden nackten Männern, die ihre Körper verdrehen, sich physisch anstrengen, und ihre Genitalien dem Publikum förmlich ins Gesicht halten: So ist der Einstieg in das Geschehen von „The Scarlet Letter“. Es wird einem schnell bewusst, dass die Darstellung von sexuellen Akten, extreme Körperlichkeit durch Nacktheit, überzogene und verzerrte Sprache und Gesten und das Austreten von Körperflüssigkeiten zum Duktus des Stückes werden und eine Übersicht der Handlung übertrumpfen. Man könnte sich sogar die Frage stellen, ob es überhaupt eine Handlung gibt, bei „The Scarlet Letter“. Oder was das Theaterstück noch genau mit dem Roman mit dem gleichnamigen Titel noch zu tun hat? Außer, dass die Regisseurin und gleichzeitig Protagonistin (Angélica Liddell) auf ihrer Brust den roten Buchstaben „A“ trägt, welcher ein Motiv im Roman ist. Der Buchstabe „A“, der im Roman ursprünglich für „Adultery“ steht, bekommt bei Liddell mehrere Bedeutungen. Die größte Frage, die man sich aber stellen muss, ist: Was haben sich die Wiener Festwochen bei der Auswahl der Theaterstücken gedacht, „The Scarlet Letter“ zeigen zu wollen? Mehrere Fragen stellen sich während des Schauens von „The Scarlet Letter“, da man das Gefühl hat, mit der Handlung und der Darstellungsweise nichts anfangen zu können und eher geschockt und sprachlos im Saal sitzt.
Die Sexualität wird hier in dieser Darstellung auf groteske Weise rein körperlich gezeigt und wird auf die Instinkte der Wollust und Leidenschaft des Menschen reduziert. Liddell geht sogar so weit, dass sie ihren eigenen Körper zur Darstellung von sexuellen Akten präsentiert. Die vulgär formulierten Monologe, wo sie über die unnötige Existenz der Frau spricht und rassistische Szenen zeigt, wo Liddell einen schwarzen Schauspieler wegen seiner Hautfarbe diskriminiert und ihn körperlich ausnutzt und Bezüge zu der rechtsradikalen amerikanischen Gruppe des Ku-Klux-Klan (KKK) macht, bilden das Sahnehäubchen auf die schon groteske Darstellungsweise von „The Scarlet Letter“. Es wird einem bewusst, dass Liddells Ziel ist, das Publikum zu ekeln und zu schocken, aber noch eher zu enttäuschen. Wie schon vorhin erwähnt, ist der Buchstabe „A“ ein Element des Stückes, der mehrere Bedeutungen hat: „A“ wie „Arthur“, „A“ wie „Angélica“, „A“ wie „Artist“. Nun man könnte noch debattieren, ob das Letztere die Vorstellung jetzt spezifisch als Kunst beschreibt bzw. von einem Künstler_in stammt, doch wird das „A“ im Stück für etwas Eindeutigeres stehen, meiner Meinung nach, das Angélica Liddells Arbeit auf der Bühne erklärt. Abstossend.

Puritanismus versus Sexualität
Weiter muss sich das Publikum fragen, was dieses Stück für einen aktuellen Bezug zur heutigen Zeit haben könnte, da puritanisches Verhalten bzw. die puritanische Kultur ein eher kleineres Phänomen darstellt und sich auf keine aktuellen Ereignisse des 21. Jahrhunderts bezieht oder referiert. Ist Puritanismus noch in Europa präsent? Warum wird das Thema hier aufgegriffen? Eher noch, warum gibt es ein Bedürfnis, dieses Thema auf der Bühne zu zeigen und das noch nicht mal in guter Qualität? Warum setzt sich Liddell nicht intellektuell dem Thema Körperlichkeit, Sex und Puritanismus aus und muss uns als Zuschauende eine Zumutung darlegen? Von jemanden, der mehrere Kunstpreise gewonnen hat, erwartet man Hohes und wird leider mit „The Scarlet Letter“ bei den Wiener Festwochen sehr enttäuscht. Man kommt mit mehr Fragen aus der Vorstellung, als man davor hatte.

Wie Nacktheit Foucault zu erklären versucht (N.S.)

Performancekünstlerin Angélica Liddell versucht sich in ihrem Stück „The Scarlet Letter“, anhand des gleichnamigen Romans, an einer radikalen Kritik der Prüdheit. Doch auch die Darlegung ihres Konzepts in den letzten Minuten löst die zahlreichen Fragen nicht auf.

Hinten links ein Grabstein von Nathaniel Hawthorne, Autor des 1850 erschienenen Romans „The Scarlet Letter“, einem Klassiker der Literaturgeschichte, umgeben von saftig grünen Pflanzen und Blumen – das Paradies? Vorne rechts der abgetrennte Kopf einer männlichen griechischen Statue. Männer, ihr Wesen und ihre Macht werden Thema sein, des sich dagegen aufbäumenden und daran abarbeitenden Stücks. Angélica Liddell (Regie, Text und Spiel) steht in der Mitte von acht nackten, weissen Männern auf der Bühne und schimpft, stöhnt und jault gegen unsere Prüdheit, gegen die Kontrolle und Tabuisierung von Sexualität und Lust. Sie stellt Hester dar, Hawthornes Figur, welche vor langer Zeit Ehebruch begangen hat und zur Strafe über das Verschweigen der Identität ihres Geliebten ein scharlachrotes „A“ auf der Brust tragen muss. A wie Angélica, A wie Arthur – der Reverend, der sich als ihr Lover herausstellt – A wie Artist. Für verschiedene Menschen oder Menschengruppen kann dieser Buchstabe stehen, eine ständige Erinnerung an die Sünde ihres Ehebruchs.

Spielraum oder klare Vorgabe?
Dies klingt jetzt eingängig, jedoch wird erst in den letzten Minuten die Message klar – und das auch noch, als sie mehr oder weniger explizit dem Publikum an die hintere Bühnenwand projiziert wird. He hallo, Wink mit dem Zaunpfahl, darum geht es! Bevor das geschieht, sitzt man ratlos vor dem Geschehen – dass es hier nicht um eine Nacherzählung des Romans gehen soll, wird in den ersten Minuten klar – und versucht, irgendeine Botschaft, Aussage oder Handlung zu finden, an der man sich festhalten kann. Da erklingen mächtige, kirchliche Choräle durch die Lautsprecher, Angélica, die in leidenden Lauten mitsingt und auf der Bühne umherwirbelt (ist sie eine Hexe?), Männer in schwarzen Umhängen und langen Spitzhüten (will sie da auf den Ku-Klux-Klan referieren?), da tragen, heben oder stoßen die nackten Männer massive Holztische herum, schweißüberströmt und Urschreie ausstoßend (boah, wie anstrengend) – unendlich lange, Angélica, sie von der Ecke aus dirigierend. Und schließlich fleht sie den einzigen schwarzen Schauspieler an, er taumelnd und sabbernd wie ein Tier, ihre Lust zu befriedigen. Obwohl die Szenen sich langsam entwickeln, die Bewegungen bedächtig sind, prallen die Eindrücke schonungslos auf einen ein. Irgendwo zwischen Bilder-, Tanz- und Sprechtheater fällt es schwer, das Gesehene einzuordnen. Obwohl Liddell vermutlich genau das erreichen will, arbeitet sie dennoch mit klar codierten semiotischen Zeichen – der scharlachrot angezogene Arthur mit Schleier, dessen Identität als Geliebter geheim bleiben muss, ihr vernarbter Rücken als Zeichen ihrer Folterung, als Strafe. Lässt Liddell Spielraum, oder gibt sie vor? Denn am Schluss wird mit einigen Sätzen die Performance geklärt, erklärt und zeigt: Das hatte schon alles Konzept, was wir hier getan haben. Auch wenn das Konzept leider nicht ganz angekommen ist.

Wie Foucault fast das Stück gerettet hätte
Denn unter anderem Foucaults Überlegungen und Studien zu Macht und Sexualität bilden die Ausgangslage des Stücks: Die Gesellschaft wird prüde werden, Sexualität ein Tabu und die Kontrolle darüber eine Strategie der Sicherung von Macht, lautet seine Prognose. Obwohl Liddell sich abarbeitet an der männlichen Sicht auf Geschichte, an von Männern geprägten Gedanken über das Geschlecht der Frau als neurotische und manipulative Hexe und eben unserer europäischen Prüdheit, scheint doch Foucaults Aussage als solche angenommen und als Basis verwendet zu werden – sie versucht später, diesen auch zu hinterfragen, jedoch ist das Stück zu sehr auf seiner Aussage aufgebaut, als dass die Kritik konsequent wirkt. In ihrem hasserfüllten Schlussmonolog, der sich in eine passionierte Rede für die Frau und für die Lust wandelt, wird man als Zuschauer*in mitgerissen, fiebert mit, will auch schreien gegen diese männlichen Paradigmen – Barthes, Lyotard, Artaud, Foucault – und denkt sich, dass das Stück eigentlich doch nicht so schlecht war. Dann wäre gut, wenn sie zum Schluss kommt. Kommt sie leider nicht, und die folgenden Bilder und Szenen bilden eine weitere unnötige Schlaufe, bei der sich diese rebellische Euphorie langsam aber sicher verflüchtigt.