Diamante

R: Mariano Pensotti, Erste Bank Arena Donaustadt, 12. Mai 2019

Ein voyeuristischer Blick (Peter Brotsack)

Am Sonntagabend betritt der Zuschauer in der Halle 3 der Erste Bank Arena nicht einen klassischen Theaterraum, sondern eine fiktive Kleinstadt: Diamante heißt das Stück des argentinischen Autors und Regisseurs Mariano Pensotti und jene Siedlung, deren langsamen Verfall man im Laufe dieses fünfeinhalbstündigen Abends beiwohnen wird.

Vor gut 100 Jahren baute sie ein deutscher Bauunternehmer im Norden Argentiniens. Diamante, eine idyllische Siedlung im skandinavischen Stil, welche die Mitarbeiter der Bergbaufirma Goodwind und deren Familien beherbergt. Ein behütetes Zuhause für weiße Europäer mit sozialen Privilegien. Ein „Staat im Staat“, abgezäunt von seiner sozial schwachen Umgebung. Ein kapitalistisches System, deren Folgen sich bisweilen zeigen sollen. Diamante, das sind an diesem Abend 11 kleine, bungalowartig geordnete Häuschen. Dieses Mini-Dorf hat alles, was es zum Leben braucht: eine Dorfkneipe, Wohnhäuser, eine Wachmannshütte, einen Gemeinschafts- und Proberaum, einen Parkplatz mit Auto, einen Dorfplatz mit Gründer-Statue. In Form eines Stationen-Theaters bewegt sich der Zuschauer in selbstgewählter Reihenfolge von Haus zu Haus – und erfährt dabei die Lebens- und Leidensgeschichten der Bewohner.

Durch eine Glasfront blickt man wie ein Voyeur in die Häuser und in die Leben der Menschen: Da ist der gescheiterte Theaterregisseur, der sich nach einer späten Karriere sehnt, der Ehemann, der seine Frau betrügt, die Jugendlichen, die ihre Flucht planen, die rechtsgesinnte Frau, die ihren Wahlkampf plant, der Wachmann, der von einem Leben als Maler träumt und der Barbesitzer, der die Stimme seiner toten Mutter hört. In achtminütigen Szenen erfährt der Zuschauer Einzelschicksale, aus denen sich schnell ein verwobenes, großes Ganzes entwickelt. Begleitet von Übertiteln eines allwissenden Erzählers werden die Probleme, Verquickungen, Missgunst und Machtgier der Stadtbewohner dargestellt und das traurige Ende der Vorzeigesiedlung immer unausweichlicher. Am Ende liegt das Projekt in Trümmern, der Konzern ist bankrott gegangen und den Bewohnern ihre individuelle Leidensgeschichte ins Gesicht geschrieben.

Diamante ist Kapitalismuskritik, Sozialkritik und der Niedergang einer Utopie – in Form einer Telenovela. Man fühlt sich an jenem Abend häufig eher so, als würde man vor dem Fernseher eine Serie anschauen, denn, dass man einem Theaterstück beiwohnt. Was an nichts Schlechtes bedeutet: der improvisierte Charakter des Spiels vermag an vielen Stellen den Authentizitätscharakter der Siedlung und seiner Bewohner zu verstärken. Schnell jedoch kann dies auch immer wieder ins Lächerliche abdriften. So ließe sich behaupten, dass der heimliche Star des Abends ein Anderer ist: die Technik. Denn etliche Szenen, die etliche Mal perfekt ineinandergreifen müssen bedürfen einer immensen logistischen Organisation und technischen Koordination, die hinter diesem fünfstündigen Mammutprojekt steckt.

Unterlassen des Aufräumens aus Bequemlichkeit (G.J.)

Zu behaupten, Diamante von Mariano Pensotti  würde gemischte Gefühle hinterlassen, wäre subtil ausgedrückt eine Untertreibung. Das Mittel des Subtilen soll hier jedoch außer Acht gelassen werden, ganz im Geiste des Stückes. Hier wird nicht versucht, mittels künstlerischer Mittel und durchdachten Kommentaren einen Diskurs über ein System hervorzubringen, welches mehr als nur kritikwürdig ist. Stattdessen wird hier ohne jede Rücksicht auf Verluste und ohne jeglichen Respekt vor den Zusehenden eine, von fast schon radikaler Ideologie motivierte Propaganda präsentiert, welche probiert, jegliche Form der Synthesis zu unterdrücken.

Die Stadt Diamante in Diamante soll gedacht sein als eine kapitalistische Utopie, in welcher die Reichen die Armen ausbeuten. Beharrt wird auf der Idee, dass Kapitalismus nichts weiter sei, als ein von Grund auf böses System, welches auf der gnadenlosen Ausbeutung eines Großteils der Bevölkerung basiert. „Die beste Erfindung des Kapitalismus sind die Armen, die Rechts wählen.“ Dieses dem Stück entnommene Zitat zeigt die nicht vorhandene Bereitschaft, an dieses System heranzugehen, es genau zu untersuchen und konstruktive Kritik auszuüben. Stattdessen werden Kapitalisten als Schweine bezeichnet, in deren Augen die Arbeitenden nicht mehr als dreckige Hunde sind. Das Stück verlässt sich hier auf die Unwissenheit (egal ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt) seines Publikums. Mit diversen philosophischen Zitaten und kritischen Phrasen wird das Publikum degradiert; gewünscht wird dessen Eindruck, dass es am kürzeren Ast sitze, das das Stück schlauer ist als es selbst. Aber ein See kann noch so tief sein, wenn er zugefroren ist. Und wenn man mit den hier präsentierten Systemen, und etwas Geschichte, vertraut ist, dann merkt man, dass das Eis (ironischerweise) sehr dick ist. Das absolute Bestehen auf die hier präsentierte antikapitalistische Ideologie will nicht infrage gestellt werden. Stattdessen wird Diamante als Propaganda missbraucht für ein System, welches nicht durch es vertreten wird. Denn die Stadt Diamante ist keine kapitalistische Utopie, sondern zeigt mehr Gemeinsamkeiten mit einer Sozialistischen. Dass die Rechnung damit nicht aufgeht, ergibt sich von selbst. Statt auf die Intelligenz des Publikums Rücksicht zu nehmen, werden ausgelutschte Phrasen propagiert, Aussagen zu Dingen getätigt, welche längst widerlegt sind, ohne Differenzierung wird die gesamte rechte Seite des politischen Spektrums mit Kapitalismus gleichgestellt und als ausnahmslos böse präsentiert. Dies mündet am Ende des zweiten Aktes in einer politischen Rede, welche den Eindruck erweckt, sie sei mehr an die Zusehenden gerichtet, als die Figuren in der Diegese.

Wie sehr das Stück unter dieser Ideologie leidet,  macht sich auch in der Präsentation bemerkbar. Das Konzept der frei begehbaren Stadt ist überraschend frisch und so strukturiert, das auch nach mehreren Stunden kaum Ermüdungserscheinungen auftreten. Durch das groß angelegte, kollektive System der Darstellungen gerät das Individuum jedoch in Vergessenheit. Das die DarstellerInnen sich davon nicht einschüchtern lassen und bei technischen Störungen und dem anschließenden Brechen mit deren Rollen mit Humor reagiert wird, zeugt von Professionalität. Das alleinige Konzept und der unbestreitbare Aufwand, welcher betrieben wurde, um es in dieser Form zu präsentieren, lässt Diamante am Ende aber doch zu einer Erfahrung werden, auf die sich positiv zurückblicken lässt. Es wäre nur wünschenswert, wenn der Raum für einen rationalen, ideologischen Diskurs gelassen worden wäre. Ansätze dafür sind zwar vorhanden und in wenigen Momenten wird tatsächlich sinnvolle Kritik geübt, jedoch ersticken diese unter einer lauten Menge, welche nichts von Kompromissen wissen möchte. Nur durch Thesis und Antithesis kann Synthesis erreicht werden. Aber, wie Mariano Pensotti in Diamante selbst formuliert: „Ein häufiges politisches Risiko, ist die falsche Interpretation der Wirklichkeit.“ Zumindest in diesem Sinne, hat sich dieses Risiko nicht gelohnt.

Sex, Sekt und Semiotik (Jonin Herzig)

Das Stück Diamante thematisiert den Untergang einer kapitalistischen Utopie. Eine Stadt, eigens gebaut für das Unternehmen «Goodwind» ist sowohl Schutzzone, als auch Gefängnis für die Bewohner_innen, wobei es sich in diesem Falle nicht nur um Einwohner_innen, sondern Angestellte handelt, denn nur wer in der Firma arbeitet, darf auch in der Stadt Diamante leben. Mariano Pensotti lässt zehn Häuschen als diese Stadt in der Erste Bank Arena aufbauen, gleich beim Eingang am Anfang der Halle gesellen sich ein Auto und ein großes Plakat mit dem Plan der Stadt dazu. Am Ende der Halle befindet sich eine provisorische Bühne. Das Prinzip ist schnell verstanden: Das Publikum läuft selbstständig umher und kann selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge es sich die Szenen, welche in den Häusern stattfinden, durch eine an Aquarien erinnernde Glasscheibe anschauen möchte. Acht Minuten dauern diese jeweils und werden von Übertiteln auf die Scheibe projiziert.
Da beginnt auch schon die Schwierigkeit der Inszenierung. Die Übertitel kommentieren, erweitern und erklären die Szenen, was jedoch dazu führt, dass Dopplungen von Gesehenem und Gelesenem und Entscheidungsschwierigkeiten das Seherlebnis prägen, wohin man nun schaut – zu den Schauspielenden oder dem geschriebenen Text. Während anfangs die Sätze des auktorialen Erzählers sich stellenweise in pseudophilosophischen Phrasen verlieren, werden sie stärker, poetischer und beginnen das eigene Bühnengeschehen zu reflektieren. Wobei man sich fragen kann, ob diese „Stärke“ nicht daran liegen könnte, dass es erträglicher wird, weil die Zuschauenden sich an den Telenovela Stil gewöhnt haben. Natürlich ist sich diesem Genre zu bedienen eine Entscheidung, jedoch kann man sich fragen, ob es dem Abend an sich dienlich ist, das Publikum für so dumm zu halten, dass diese ständigen Wiederholungen und Erklärungen notwendig sind. Die Dialoge bleiben flach, die Komplexität der Figuren scheint für das politische Statement verloren gegangen zu sein. Es wurde lieber erzählt als gezeigt. Egal, ob schon sichtbar gemacht worden, oder weder im Ansatz in den Figuren erkennbar, es wird erzählt, ja erklärt. Die Figuren werden wie Tiere im Zoo hinter Glas auf Distanz gehalten. Mit dem Niedergang der Stadt und der einhergehenden Verrohung der Bewohner_innen füllen sich die Szenen mit Zeichen: Wie die Profiteure mit ihren ausgestopften Vögeln in ihren Wohnungen, zur Darstellung ihrer Freiheit und den Metaphern der verschwundenen und nun wild herumstreunenden Hunden, in den Dialogen und Übertiteln der gesellschaftlichen Verlierer, welche in einer semiotischen Schlammschlacht enden.
Ebenfalls wird es nicht möglich, sich eine eigene Haltung zum Geschehen aufzubauen, da alles in der Übertitelung vorgekaut wird. Die einzig andere Position, die den Zuschauenden bleibt, ist die Antipathie gegenüber dem Ganzen. Politisch positionieren sich Mariano Pensotti und die Gruppe „Marea“ ganz klar. Es bleibt jedoch nicht bei einem moralischen Zeigefinger, sondern ballt sich zu einer moralischen Faust. Da erstaunt es, dass am Schluss die ganze Spannung in sich zusammenfällt, als die Stadt zum Erlebnispark gewandelt wird und die Bewohner_innen eigenhändig Pappfiguren ihrer selbst in ihren Häusern aufstellen. An dieser Stelle wird das Stück im wahrsten Sinne des Wortes plakativ. Zwar haben die Jugendlichen, welche, um sich in dieser verrohenden Stadt einen Halt zu geben, einen Mysterienkult gegründet hatten, anscheinend – es wird ja nicht gezeigt, nur erzählt – wilde Orgien gefeiert, die neureichen Anwälte ihre ausufernden Kostümpartys und eine Miliz hat sich gegründet, welche jedoch nur ein bisschen mit den Waffen durch die Stadt rennen und bei der Gouverneurin eine Puppe an die Türe nageln. Aber das Potential zur Eskalation wird nicht genutzt, der Klimax bleibt aus. Vielleicht ist es ein Versuch, die Banalität und das Unspektakuläre eines Untergangs zu zeigen, vielleicht ist es einfach auch nur die Angst vor der direkten Konfrontation.

Diamante (JW)

Diamante – eine idyllische konstruierte Stadt in Südamerika, in welcher die Mitarbeiter der Firma Goodwind leben und zahlreiche Privilegien genießen dürfen. Zu schön, um wahr zu sein.
Das Stück ist in drei Kapitel aufgeteilt, jedes Kapitel besteht aus achtminütigen Szenen, welche an unterschiedlichen Schauplätzen gezeigt werden; das heißt, das Publikum, in kleine Gruppen aufgeteilt, wechselt immer wieder den Ort.
Schon während der ersten Szene wird klar, dass diese scheinbar schöne Stadt mehrere dunkle Geheimnisse verbirgt. Im Laufe der drei Kapitel zerfällt nicht nur der Schein der Stadt immer mehr, auch die verschiedenen Familiengeschichten werden düsterer und diverse Gräben unüberwindbarer. Am Schluss gibt es viele Verlierer und nur wenige Gewinner.
Zuallererst muss hervorgehoben werden, dass Pensotti ein überaus liebevoll gestaltetes Setting mit vielen Details erschaffen hat. Das Publikum, in der Rolle eines Voyeurs, kann schon an den individuell eingerichteten Häusern mehr über dessen Bewohner erfahren.
Gerade das ungewöhnliche Format, dass das Publikum umherwandert und dabei quasi Teil der Stadt wird, erlaubt eine tiefere Immersion in das Geschehen. Auch angesprochen als „Bürger von Diamante“ begeben sich die Zuschauenden hin zur Bühne, um einem Konzert beizuwohnen oder Teil einer Kundgebung zu sein.
Die Stärke des Stücks war für mich zu Beginn auch seine Schwäche – dadurch, dass an vielen Orten gleichzeitig etwas passiert, wird man dazu verleitet alles gleichzeitig wahrnehmen zu wollen, es gibt gewissermaßen eine Reizüberflutung. Nicht nur, dass man der aktuellen Szene folgen möchte, es gibt auch deutsche Übertitel, die Zusatzinformationen liefern, gleichzeitig schlägt nebenan eine Tür zu, man hört die Musik von gegenüber und sieht jemanden auf der Straße vorbeigehen. Vielleicht ist das auch eine Aussage des Stückes, dass man nicht alles mitnehmen und kontrollieren kann. Je länger das Stück dauerte, desto weniger störten mich persönlich die vielen Eindrücke, man kannte die Bewohner der Stadt schon etwas und begann Verknüpfungen zu erstellen, wer gerade auf dem Weg zu wem sein könnte und warum.
Außerdem werden sehr aktuelle Themen der Gesellschaft verhandelt: Man möchte „die von Draußen“ lieber nicht in der Stadt haben, das Unternehmen redet begeistert von weiteren 12% Arbeitsplätzen, die man weg kürzen könnte, während nebenan Menschen Existenzkrisen durchstehen. Sobald man auf dem Chefposten ist, vergisst man seine guten Vorsätze und achtet nur auf den eigenen Wohlstand, während man seine Angestellten genauso mies behandelt, wie man früher selbst behandelt wurde.
Ein ernüchterndes Ergebnis, das viel Stoff zum Nachdenken gibt. Gerade aufgrund seiner Komplexität kann man Diamante nicht in einigen Sätzen komplett entschlüsseln.
Das Ende kam dann nach fünfeinhalb Stunden doch sehr abrupt, zwar mit einer klaren Botschaft (das Ende der Stadt ist unweigerlich), aber dennoch hatte ich mir einen runderen Abschluss erwartet.
Das Stück spielt sehr viel mit Selbstreflexivität und der Art und Weise, wie das Publikum Teil der Gesellschaft wird. Schade war, dass das extra erwähnte und im zweiten Teil aufgebaute Massengrab nicht bespielt wurde, und man selbst auch kaum Zeit hatte, es sich genauer anzusehen.
Dennoch ein äußert feingliedrig abgestimmtes Stück, das aktuelle Themen aufgreift und dabei aufzeigt, wie schnell ein gelebter Traum zerplatzen kann. Die hohen Erwartungen, die im Vorfeld an die Inszenierung gestellt wurden, wurden mehr als erfüllt und trotz der langen Dauer langweilt man sich kein einziges Mal oder fragt sich, wann denn endlich Pause sei.
Eine unbedingt empfehlenswerte Produktion!

Alles geht vorbei (L.L.)

In Mariano Pensottis Diamante ist dieser vergängliche Gedanke des Vorbeigehens auf verschiedene Weisen vertreten. So wird etwa die Endlichkeit einer Stadtgemeinschaft gezeigt. Diejenigen, die diese Stadt als Utopie missverstanden haben trauern der Vergangenheit nach. Der andere Teil sieht in dem Ende auch einen Anfang.

„Alles geht vorbei“ kann auch auf die Bewegung des Publikums bezogen werden, das von Station zu Station durch die Stadt schlendert und sich das städtische Treiben genauer vors Auge führen lässt. Doch der Schein trügt. Das Gehen verwandelt sich schnell in einen Lauf. Die Stadt wird immer kleiner, die Geschichten verdichten sich und so auch die Traube der ZuschauerInnen vor den Fensterscheiben. Von einem Kapitel zum nächsten wird der „Sesseltanz“ immer knapper und es entsteht ein Stressgefühl, das auch die Endsituation der Geschichte widerspiegelt. Das Publikum wird ab und zu selbst Teil der Stadt, doch es bleibt eine Distanz zwischen Fiktion und Realität. Ein Teil dieser Distanz entsteht mit den Fenstern, durch die wir beobachten dürfen. Aber Distanz wird auch durch die Übertitelung geschaffen. Das Publikum weiß mehr, als die Figuren über sich wissen. Man erfährt sogar Gedanken der Figuren, doch durch den Prozess des Lesens geht der Blick zum Menschen verloren. Es kann in das Innere einer Person hineingesehen werden, indem man von dieser wegsieht.

Alles geht vorbei, so wie die voranschreitende Zeit. In Diamante bekommt man den Gang der Zeit beinahe zu sehen. Die Häuser des Stückes sind wie die Zahlen einer Uhr und durch das Licht kann das Publikum, gleich einem Zeiger über das Feld wandern. Das Ende ist gut erkennbar, man weiß wie viel vor und hinter einem liegt.

Alles geht vorbei, nur die Telenovela bleibt. Viele Geschichten weben sich über Diamante zu einem Netz zusammen. Alle Figuren sind miteinander verknüpft und wir dürfen uns von ihren Leidens- und Freudensgeschichten berieseln lassen. Die Fensterscheiben werden zum Symbol des Fernsehers, auch wenn die Hauskästen hin und wieder verlassen werden. Das Ende wird angekündigt, doch im selben Atemzug wird auch von einer Wiederaufnahme gesprochen, denn die Geschichten der Stadt sollen in einem neuen Glanz wiedererlebt werden dürfen. Oder ist es doch der alte Glanz, der mit Kopien nachgeahmt wird?

Alles geht vorbei und so hat auch ein langer Abend ein Ende.

Ein ungeschliffener Edelstein (Joshua Mallek)

Diamante – Das ist der fiktive Ort, in der Mariano Pensotti seine Schauspieler*innen und ihr Publikum für mehrere Abende aufeinandertreffen lässt. Die Stadt wirkt auf den ersten Blick beeindruckend: Die riesige Halle der Erste Bank Arena verwandelt sich in eine Stadt im Dschungel von Argentinien, die skandinavischen Ein-Zimmer-Häuser sind in ein mystisches Filmlicht getaucht. Die benötigte Zeit, um die Atmosphäre des aufwendig gestalteten Bühnenbildes zu verinnerlichen, wird durch das ankündigende Signal zum Beginn der Vorstellung und mehrere Bühnenarbeiter*innen, die durch die Außenvorhänge huschen, unterbrochen: Das Stück geht los und die naturalistische Illusion gerät bereits ins Wanken. In den nächsten fünfeinhalb Stunden werden die Spanplattenhäuser in drei Teilen bespielt: Alle sieben Minuten enden die Mini-Episoden gleichzeitig und wir sind dazu angehalten, zum nächsten Haus zu pilgern. Im Inneren der vielen Guckkastenbühnen werden resultierende Spannungen, Beziehungen, Wünsche und Vorhaben der Bewohner*innen aus dem hundertjährigen Bestehen einer Gated-Community geschildert . Viele der Schauspieler*innen wirken sichtlich erschöpft : Die zehnfache Wiederholung des Theatertexts und die kurze Zeit, um wieder auf Position zu gehen , wird zur Sisyphusarbeit – auch das Publikum nützt die knappen Pausen zwangsweise weniger zur Reflexion , als zur Suche nach einem Platz am nächsten Schauplatz und dem Ausweichen entgegenkommender Zuschauer *innen. Doch was bleibt übrig von dem Stück?
Die schiere Anzahl an Erzählsträngen und die fehlende Zusammenführung dieser Beziehungswelten entlässt das Publikum nach fast fünf Stunden ernüchtert . Während manche Episoden im Mikrokosmos der vier Wände durch einen Konflikt eine Richtung erhalten und in kurzer Zeit Spannung aufgebaut wird – So z.B. der gebrochene Vater, der aufgrund seiner Drogensucht nach langer Zeit bei seinem Bruder wieder auf den dort aufgezogenen Sohn trifft – bewegen sich viele Szenen im luftleeren Raum und das Abgehen von der Bühne wird schnell zur Fleißaufgabe. Der prominenteste Schauspieler, der den Abend ohne Rücksicht auf seine Kolleginnen völlig vereinnahmt, ist der Projektor, der die einzelnen Bühnen mit Übertiteln verzierte. Dem Projektor wurde nicht nur die Aufgabe zuteil, die spanischen Dialoge zu übersetzen, sondern zusätzlich die Gedanken und Gefühle der Schauspieler zu artikulieren und in regelmäßigen Abständen Metakommentare und philosophische Worthülsen auf das zusammengepferchte Publikum einzuprügeln. Was ein Dialog zwischen Innen und Außen hätte sein können, wurde zum Kampf um die Deutungshoheit .
Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Wieso nimmt sich das Stück so verdammt ernst ? Das Konzept wirkt spannend und birgt Potential doch die Umsetzung wirkt dann doch unausgereift und hapert an allen Ecken und Enden. Narrative Verfremdungen und spielerische Szenen würden die scharfen Grenzen der einzelnen Geschichten verschwimmen lassen und die Geschichte eventuell erfahrbarer machen. Stattdessen setzt man auf einen Hyperrealismus und eine naturalistischen Abbildung des Stadtkomplexes in Anlehnung an The Wire, der in seiner eigenen Größe schlussendlich zusammenbricht.

Auf den Hund gekommen (Caroline Mauser)

Diamante, ein Ort inmitten des argentinischen Dschungels. Ein kleines Städtchen, das mit vielen Privilegien für die Arbeiter*innen von Goodwind um sich rühmt. Von denen möchten natürlich einige Gewerkschaftsleute etwas auskosten und ziehen in diese scheinbar kapitalistischen Utopie. Doch auch diese gerät mit zunehmender Zeit ins Wanken.
So wird die fiktive Wohnsiedlung von Mariano Pensotti bezeichnet. Sobald das Ticket eingelöst wurde, treten die Publikumsleute tatsächlich in eine erbaute Wohnsiedlung. Der Raum wirkt wie eine realistische Ortschaft inmitten der Halle 3 in der Erste Bank Arena. Ein fiktiver, eingeschlossener Ort inmitten eines real eingeschlossenen Raums.
Vor den Augen aller sind zunächst zehn Häuser und ein Auto zu sehen, die gesamte Stadt in einem Schleier aus Dunkelheit eingehüllt, nur die Scheinwerfer an der Decke erhellen die Wege. Jedes Haus ist mit einem riesigen Fenster versehen, das wie eine Bildleinwand das Innenleben präsent gibt. Hat sich jede*r Zuseher*in für eine Szene entschieden, gehen die Lichter plötzlich aus.
Nun ist das Leben in den Häusern von Diamante lichtdurchflutet, Auftritt der Schauspieler*innen inner- und außerhalb der Häuser. Zeigen die riesigen Fenster das Innenleben der Häuser, geben die Übertitel das Innenleben der dort lebenden Figuren wieder. Zu sehen sind elf individuelle Geschichten, die alle miteinander verwoben sind, sowohl im Raum als auch mit der Zeit. Alles ist mit dabei: von Dreiecksbeziehungen zu einem schwierigen Familienchaos, Jugendliche ohne Halt und den Wunsch der Flucht, politischer Betrug für den Gunst Diamantes bis hin zum Fall der scheinbar liberalen Gesellschaft.
Das gesamte Set wirkt wie eine langanhaltende Live-Action-Serie aus drei Akten, wo ein Haus wie eine Episode fungiert. Charaktere aus dem Haus 4 kommen hinein gestürmt in Haus 5, so als ob sie Gastauftritte oder wiederkehrende Charaktere eines verwobenen Dramas sind. Dabei haben alle Figuren nicht nur Diamante als Wohnort gemeinsam, sondern den drohenden Zerfall dieser Utopie und der ständige Gedanke an die „gefährlichen Draußen“. Mittendrin das Publikum, das sowohl als Zuseher*in, als auch Teil der Stadt Diamante dient. Wiederkehrend ist auch die Suche nach den Hunden, die sich längst nicht mehr blicken lassen. Diese sind wie eine drohende Vorahnung auf das, was die Leute in der Siedlung erwartet: Loyalität und Beisammensein scheinen bald Reißaus zu nehmen.
Der Kapitalismus in dieser Siedlung ist die treibende Kraft, doch liegt darin auch der Hund begraben: Diamante scheint bereits vor dem 100-jährigen Jubiläum dem Untergang geweiht. Ermöglicht wurde die Siedlung durch eine blutige Aktion, der mit den Tod und einem Massengrab endet. Doch scheint dieses Faktum keinen zu interessieren.
Eine actionreiche und lebendige Kritik am Kapitalismus, deren Kernaussage mit zunehmender Dauer ins Schwinden kommt.

Nachtkritik zu Diamante (L.M.)

Mystisch, komplex, perfektes timing! Das sind die Worte, die das fünfeinhalb Stunden Stück Diamante, von Regisseur und Autor Mariano Pensotti in kurzer Form zusammen fassen. Das Theaterstück, verortet sich in der fiktiven, argentinischen Stadt mit dem gleichen Namen des Stücks „Diamante“ und erzählt von deren Bewohnerinnen und Bewohnern und ihrer Lebensweise in der Stadt. Mysteriöse Überfälle, politische Wahlen, rebellische Jugendgangs, Sektenbildung, komplizierte Ehen und Affären und die mysteriöse Firma „Goodwind“ sind Teile des simultanen Spiels innerhalb der Stadt „Diamante“.
„Diamante“, welches in der Erste Bank Arena in einer großen Sporthalle im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt wurde , ist in keiner Form ein konventionelles Theater . Die Zuschauenden werden in die große Halle geführt und betreten eine Szenerie, die den Anschein eines Themenparks hat. Im recht düsteren Ort, wo Holzhütten mit großen Schaufenstern aufgestellt sind, verliert man zunächst die Orientierung und weiß nicht, wie man sich verhalten soll , da es keine klar vorgegebene Struktur in der Darstellungsweise gibt. Doch schnell kapiert man, dass die Szenen innerhalb der Hütten dargestellt werden. Das Stück besitzt keine vorgegebene Chronologie, welche mit der Simultanität in Zusammenhang steht. Das Publikum entscheidet selber, wie es vorgeht und suchte sich einen eigenen Weg . Dies trägt erheblich zur weiteren Orientierungslosigkeit des Zuschauenden bei, inhaltlich, sowie strukturell. Doch im Laufe von Diamante gewöhnt man sich an die Struktur des Stückes und verfolgt das Geschehen sogar mit Spannung und Neugier mit.
Die Simultanität des Stückes durch die verschiedenen Spielorte hat Gewöhnungsbedarf , da man nicht nur die Szene bzw. die Hütte, wo die Szene spielt, vor sich hat, sondern man bekommt die Szenen der anderen Hütten erheblich mit. Somit ist es schwierig , sich vollkommen in eine Szene zu versetzen. Ein weiterer Punkt, wo man seine Aufmerksamkeit teilen musste, war, dass jede Hüttenszene von Übertiteln begleitet wurde . Die Übertitel berichteten in Form eines auktorialen Erzählers über vergängliche, nicht gezeigte Ereignisse , die den gespielten Szenen einen Kontext geben sollte. Auch Gedankengänge und Gefühlssituationen mancher spielenden Figuren wurden in den Übertiteln erläutert. Hiermit erhöhte sich der Schwierigkeitsgrad, die Aufmerksamkeit auf eine Sache oder Situation zu halten, um das Stück Diamante verfolgen zu können . Ein paralleles Erzählen von gespielten Szenen wirkt als Zumutung für das Publikum. Die Mehrsprachigkeit des Stückes (Spanisch und Englisch ) erleichterte leider keineswegs die Situation, von dem /der deutschsprachigen Betrachter_in . In dieser Hinsicht kann man behaupten, dass das Stück Diamante in mancher Hinsicht schon fast zu simultan für den Betrachtenden sei . Paradoxerweise erholt sich das Publikum von diesen Ansichten und, wie gesagt, gewöhnt man sich an die Simultanität.
Die Handlung und die einzelnen Eindrücke der verschiedenen Szenen fügen sich von Mal zu Mal wie ein Puzzle zusammen, je weiter man im Stück geht, und dies ist wortwörtlich gemeint. Das Publikum ist gespannt und ist neugierig , wie die Handlung von den Bewohner_innen von Diamante weiter verläuft, da jede Hütten-Szene mit einem sogenannten „Cliffhanger“ endet, sei es die Auflösung des mysteriösen Überfalls im Haus des Rechtsanwaltspaars, oder jene Szene, wo die Hunde der einzelnen Bewohner_innen von Diamante verschwunden sind und die Lösung, was sie mit der gesamten Handlung zu tun haben.
Das perfekte Timing von Figuren, die zwischen mehreren Szenen und Hütten auftreten, sorgte für ein beindruckendes Gefühl des Zuschauenden und zeigt eine positive Seite der Simultanität .
Obwohl die Handlung selber eher ein Ende als Anti-Klimax zeigt und somit inhaltlich eher enttäuschend ist, ist die Form und die Darstellungsweise des simultanen Spiels – wenn man sich daran gewöhnt hat – gelungen und sehr empfehlenswert, da es keine konventionelle Theatererfahrung war. Das, was in Erinnerung bleibt vom Stück, sind die bemerkenswerten Schauspieler_innen und das Bühnenbild.

„Die Schweine von heute werden der Schinken von morgen sein.“ (M. Z.)

Diamante, eine fiktive Stadt im Norden Argentiniens, definiert sich selbst als einstmaliges kapitalistisches Utopia, gegründet vor 100 Jahren, und als Werksiedlung für ihre BewohnerInnen, die fast ausschließlich Beschäftigung bei der ehemaligen Öl- und Bergbaugesellschaft Goodwind finden. Im Laufe der Jahre erlitt die Stadt jedoch gravierende finanzielle Schwierigkeiten: Alternative Arbeitsplätze eröffnen sich, man spricht von „flexiblen Arbeitsbedingungen“, und der Konzern mit Hauptsitz in Deutschland orientiert sich immer mehr an Technologieprojekten und Software-Design.
Zusätzlich dazu steht noch der Druck von außerhalb des eingezäunten Stadtgebiets: Die BewohnerInnen werden um ihren Lebensstandard beneidet, man hat Angst vor „den Anderen“, die „Draußen“ wohnen.
In dieser Verortung zeichnen sich Bilder zerrissener Individuen, die mit ihrem Alltag, der Unterdrückung durch das System und die Firma sowie ihrer eigenen Hilflosigkeit zu kämpfen haben. Sie leiden unter der Gefangenschaft innerhalb der Stadtgrenze, dem sozialen und gesellschaftlichen Druck, entstehend aus der Interaktion mit den NachbarInnen, die gleichzeitig auch ihre KollegInnen sind, und der daraus resultierenden Melancholie. Obwohl dieses Stimmungsbild transportiert werden kann, erfährt es manchmal Störung: Die Geschichten erscheinen zu oberflächlich, die Charaktere verdeutlichen wenig Tiefgang und wirken nicht sonderlich individuell.
Die Narration driftet gelegentlich ins Obskure ab, eine Wendung, die den ausweglos erscheinenden Situationen mitunter Leichtigkeit verleiht, in der Episode mit den Jugendlichen jedoch deutlich konstruiert wirkt.
Die Installation der Bühnenkonstruktion bietet dem Publikum Bewegungsfreiheit: Elf Schaukästen oder Spielorte laden zur selbstgewählten Zusammensetzung des Stücks ein, wodurch sich für jeden und jede ein differenter Ablauf der Geschehnisse eröffnet. Dabei zeigt sich die Erfahrung der Bühnen- und Kostümbildnerin Mariana Tirantte mit Installationskunst, die detailreiche Kulissen für die Bespielung durch die PerformerInnen geschaffen hat.
Dieses Schema spiegelt das Format der Narration wieder, in welchem man den einzelnen Episoden mit seriellem Charakter durch die Geschehnisse innerhalb eines Jahres durch Sommer, Herbst und Winter folgt. Das Modell wirkt ansprechend und ist originell, dennoch würden manche Kürzungen die Unterhaltsamkeit des Stücks fördern.
In der Thematik des Gefangenseins im Alltag und den Regeln der Firma weist Diamante einen selbstreferentiellen Charakter in Bezug auf die Ausstattung auf und thematisiert seine eigene Form mit Verweisen auf Fernsehserien und deren Konzeption.
In einigen Entscheidungen überschreitet die Narration die Grenzen der Überzeichnung: Man spricht von politischen Extremen, ohne ihnen genauere Situierung oder eine Bestätigung ihrer Radikalität zu verleihen, religiöse Kulte werden zitiert, während sie auf visueller Ebene nicht nachhaltig glaubhaft gezeichnet werden können, und sexuelle Ekstasen finden in Situationen Erwähnung, in denen sie konstruiert wirken und obgleich die eigentlichen sexuellen Erfahrungen in anderen Episoden in den Schaukästen verbildlicht werden.

Alles Schöne endet in Gewalt (S.P.)

Mariano Pensotti lässt an den Wiener Festwochen mit Diamante eine utopische Stadt zum Leben erwecken. Alles beginnt friedlich, doch endet in Frustration und Trostlosigkeit – nicht nur auf Seiten der Schauspieler.

Diamante – eine skandinavisch geprägte Stadt irgendwo im argentinischen Dschungel, ein Ort zwischen Wunsch und Wahrheit und mittendrin der Zuschauer selbst. Eine genial gestaltete Installation von elf kleinen Spielorten, alle vereint in einer Stadt namens Diamante.

Die Halle wird von mystischer Musik geflutet, das Publikum sucht sich einen Platz vor einer der elf Stationen. Durch Plexiglas sieht man in die verschiedenen Häuser, in die Leben der Bewohner, aber damit noch nicht genug. Die Szenen werden mit Kommentaren übertitelt, womit man auch einen Einblick die Gedankengänge und Gefühle der Figuren bekommt. Man verfolgt die jeweiligen Geschichten eines Sicherheitsmannes, eines verzweifelten Regisseurs oder einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, gleichzeitig. Durch die Vernetzung der einzelnen Bewohner der Stadt fügen sich die Puzzleteile mit jeder Spielabfolge mehr zu einem grossen Ganzen. Die Figuren als auch die Stadt wandeln sich über drei Akte von Utopie zum unausweichlichen Untergang. Die Reihenfolge der kurzen Sequenzen (Geschichte einer Station) kann sich das Publikum selber aussuchen.

Die einzelnen Sequenzen werden simultan gespielt und wiederholen sich elf Mal, sodass man jede Szene einmal gesehen hat. Durch dieses Prinzip der Simultanität entsteht eine völlige Überforderung der Sinne: Man muss sich auf das Stück im Haus vor Einem konzentrieren, gleichzeitig sieht und hört man die Stücke der anderen Häuser. Gleichzeitig werden die einzelnen Stücke auch noch übertitelt. Manchmal nur zur Übersetzung der spanischen Dialoge, was in der Zeit zwischen den Akten geschah und manchmal geballt mit Zitaten und Moralpredigten. Die Übertitelungen verstärken den Wandel von einem Wunschdenken, dem Schönen zur gewaltvollen Katastrophe. Alles beginnt mit einer schönen zufriedenen Lebensweise der Figuren in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, doch die Dinge ändern sich bald. Man ist gespannt, wie sich die Figuren und ihr Denken wandeln, wer erfüllt sich den Wunsch der Flucht und wer scheitert am System. Schon zu Beginn des zweiten Kapitels sind die ganzen Wünsche und Ideen zerstört. Keine der Figur konnte ihren Traum verwirklichen. Die Stadt wird verkehrt, von Idylle zum Krisengebiet, und setzt im dritten Kapitel noch einen drauf – dies leider etwas zu leer.

Die Gruppe Jugendlicher wandelt sich von einer fröhlichen Band, über Junkies ohne Aussicht, zu einer Gruppe streng Religiöser. Auch das Leben von Claudia (Gaby Ferrero) könnte nicht klischeehafter verlaufen, sie hat eine hohe Stellung bei „Goodwind“, wird im zweiten Teil zur Stripperin in der örtlichen Bar und endet als Putzfrau bei einem Nachbarn. Die Frustration bleibt nicht nur auf Seiten der Schauspieler, sondern weitet sich auch auf das Publikum aus. Ständig wartet man auf einen Höhepunkt der Eskalation vor dem Ende, doch dieser bleibt leider aus. Die Miliz stürmt zwar die Stadt, aber setzt weder ihre Waffen ein, noch kommt jemand zu Schaden.

„Utopien funktionieren in Miniaturen besser, als in der Realität“, dies zeigt sich leider auch in diesem Stück, welches konzeptuell sehr durchdacht ist und gewiss funktioniert, aber in der Realität bleibt der Erfolg aus. Als Zuschauer ist man frustriert, dass der angesagte Knall nicht statthat. Doch die allerletzte Szene regt zum Nachdenken an: Man kann sich noch ein letztes Mal in der ganzen Halle frei bewegen und die einzelnen Häuser betrachten. In diesen werden die Bewohner (als lebensgroße Pappfiguren) wie Schaufensterpuppen ausgestellt. Man hat Zeit, das Geschehen für sich zu reflektieren und gleichzeitig zu visualisieren, die Gleichzeitigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung. Die Zuschauer als auch die Figuren werden in dieser Schwebe voll Ungewissheit gelassen, aber dennoch ist Diamante eine Erfahrung wert.

Der Kapitalismus frisst seine eigene Utopie (Magnus Rust)

Vor 100 Jahren lässt der deutsche Industrielle Emil Hügel mit seiner Firma Goodwind im Norden Argentiniens eine Stadt bauen, die so glorreich sein soll wie ihr Name: Diamante.

Abgeschirmt vom Dschungel und dem Rest des Landes leben hier vorrangig deutsche Angestellte eine kapitalistische Utopie nach den Vorstellungen des Gründers. Jeder Familie wird ein Haus zugeteilt, Kinder erhalten kostenlose Schulbildung, im Gegenzug verpflichtet sich jeder Bewohner, ein Musikinstrument zu erlernen; Rudolf Steiner lässt grüßen. Doch 100 Jahre später scheint die Utopie in Gefahr. Ein Anwaltsehepaar wird von Unbekannten brutal überfallen, Hunde verschwinden und die „von Draußen“ wollen ein Stück vom Wohlfahrtskuchen. Goodwind, der Mutterkonzern und Ordnungsfaktor, strauchelt wirtschaftlich.

In dieses Setting tritt nun das Publikum – im wahrsten Sinne. Der argentinische Regisseur und Autor Mariano Pensotti hat mit der Setdesignerin Mariana Tirantte aus der imaginären Stadt Diamante ein begehbares Stück gemacht. Auf 1.300 Quadratmetern der Wiener Erste Bank Arena stehen zehn Bungalows im „südschwedischen“ Stil, umhüllt von schwarzem Molton. Scheinwerfer erzeugen nächtliche Stimmung bei Vollmond. Aus der klassischen Guckkastenbühne werden bei Pensotti zehn Guckkästen. In jedem Bungalow ist für das Publikum eine große Glasscheibe eingelassen, die es erlaubt, den Schauspielern im Inneren zu folgen. Über jeder Scheibe werden Übertitel eingeblendet, die der gezeigten Handlung eine zweite Ebene verleihen. Einerseits wird die Psyche der Charaktere konstruiert, andererseits entpuppen sich die Übertitel schnell als Produkt eines allwissenden Erzählers, der eine ironische bis sarkastische Weltbeschreibung liefert, angereichert mit bedeutungsschwangeren Sentenzen und den Zitaten Altbekannter: Marx, Engels, Deleuze, Foucault. „Die beste Erfindung des Kapitalismus sind die Armen, die rechts wählen“, oder „Was als Revolution begann, endet in natürlicher Traurigkeit“, heißt es. Er wurde „zerquetscht von einem Lastwagen ohne Kunstanspruch.“ Autounfälle werden nie gezeigt, bleiben aber ein wichtiger Handlungsmotor. Ebenso sind Tiermotive durch die gesamte Inszenierung verteilt. Ein Wand-Hirsch im Theaterstudio, eine Eule auf Umzugskartons, Affenmasken, weiße Katzen- oder goldene Hasenfiguren. Die verschwundenen Hunde.

Durch die Welt der Guckkästen darf sich das Publikum innerhalb einer Dauer von 5:30 Stunden (solange dauert das Stück inklusive zweier Pausen) frei bewegen. Doch die Entscheidungsfreiheit ist genauso frei wie das Leben in Diamante selbst. Die drei Hauptkapitel des Stücks sind in 8 bis 12 Szenen unterteilt. Jede Szene findet in einem Haus bzw. einem definierten Ort statt, dauert 8 Minuten und wird im Anschluss sofort wiederholt. So laufen zwar alle Szenen immer parallel ab, verpassen muss man jedoch nichts. Die Entscheidungsfreiheit liegt allein in der Wahl der Szenenreihenfolge. Zwischen den Szenen huscht das Publikum gehetzt von Bungalow zu Bungalow.

Diamante wartet mit dem großen Kaleidoskop der Gesellschaft auf: Wachmann Rolf träumt von einem Werdegang à la Schwarzenegger und plädiert bis dahin für Law and Order. Mike führt die Kneipe seiner Mutter und denkt an soziale Revolution, ebenso Julio, der sich in der „Revolutionären Arbeiter Partei“ engagiert. Ruben und Sophia haben den Sohn von Rubens Bruder aufgezogen, doch dann kehrt der Bruder zurück. Peter kämpft mit den Erwartungsdruck des toten Vaters, eines bekannten Gewerkschaftlers. Der scheiternde Theatermacher Milo träumt vom Durchbruch, während seine Ehefrau Irma im Auftrag der Firma Goodwind Gouverneurin des Bundesstaates werden soll, um für „Changements“ zu sorgen. Eine Gruppe Jugendlicher marodiert durch Straßen und niemand hält sie auf.

Besonders die Darstellung der Alltäglichkeit zwischen den Jugendlichen oder den Ehepaaren gelingt eindrücklich. Und genau das ist Diamante an erster Stelle: Alltag. Ein Alltag, der dann mit einer Melange aus Tod, Affäre und Verschwörung angereichert wird, wie man ihn aus GZSZ kennt. Die großangelegte Kapitalismuskritk, wie man sie erwarten könnte, wird in Diamante nicht eingelöst, auch wenn das K-Wort in den Übertiteln omnipräsent ist. Der Überfall auf das Anwaltsehepaar wird zu dem, was der Tod von Laura Palmer für die Kleinstadt-Mystery „Twin Peaks“ war: Zu einem Anlass, der die Geheimnisse der Bewohner hervorkehrt (über den Telenovela-Gehalt dieser Serie darf gerne woanders gezankt werden). Ebenso erinnert Diamante an „House of Cards“, die Colonia Dignidad oder die Siemensstadt in Berlin. In kleinen Dosen wird der Kolonialgeschichte Lateinamerikas gedacht.

Der gesamte Aufbau wirkt wie ein Wild-West-Themenpark, der nun mit dem Label „Theater“ geadelt wurde. Ein Umstand, der im Stück selbstironisch auch zur Sprache kommt. Der Saloon ist hier eine Kneipe, die Banditen wurden durch Milizen oder durch „die von da Draußen“ ersetzt. Spanisch wird auch gesprochen, doch vergleichbar wenig für Argentinien. Diamante ist als feuchter Traum europäischer Industrieller konzipiert, ein Staat im Staat, wo nur Deutsch und Englisch als Verkehrssprache gilt. Nicht zuletzt hat die Büste des Stadtgründers Emil Hügel frappierende Ähnlichkeit mit Konrad Adenauer.

Pensottis Begehungstheater ist großes Kunsthandwerk. Aus den einzelnen Szenen ergibt sich eine spannend geschriebene Gesamtnarration. Pensotti muss gar nicht auf die modernistische Idee eines autonomen Publikums zurückgreifen, Fragmente arrangieren oder vierte Wände durchbrechen. Das sorgfältig präparierte Stück genügt sich selbst. Die Grupo Marea und das deutschsprachige Ensemble bringen die Texte dazu angemessen auf die Bühnen.

Auch wartet Diamante nicht mit der Brechstangenmoral auf. Ein Vergleich zwischen der Gated Community Diamante und der Festung Europa scheint naheliegend, hinkt aber. Diamante ist zwar auf den Gräbern streikender Bauarbeiter begründet, den Fall der Stadt verursacht jedoch nicht ihre Dekadenz, sondern allein der Niedergang der Firma Goodwin. Auch das Gespenst des Neoliberalismus braucht es nicht für die Apokalypse. Am Ende geht es um einen (scheiternden) Strukturwandel, dem man managen, aber nicht aufhalten kann. Hier sind auch die Wurzeln des Stückes Diamante erkennbar, das im Auftrag der Ruhrtriennale 2018 entstand und damit Bezug zum Strukturwandel des Ruhrgebiets hat.

In Diamante wird vielmehr die Frage nach der Zukunft der „industrial citizenship“ (T. H. Marshall) gestellt, der Verschränkung von Industriearbeit, Gesellschaftsfrieden und Demokratie, die in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Zenit fand. Francis Fukuyamas prognostizierter (und mittlerweile wieder kassierte) Siegeszug der liberalen Demokratie entstand im Geiste dieser „industrial citizenship“. In Zeiten der Postindustrie und Digitalisierung sind alte Illusionen und Gesellschaftspfeiler gestürzt. In Diamante und der realen Welt wird die Veränderung von Schuld- und Sinnsuche, von politischem Wankelmut und der Flucht ins Autoritäre und Spirituelle begleitet. Was als Heilmittel für die Welt dienen könnte, das muss ein anderes Stück zeigen.

Von Träumen und Krisen (N.S.)

In seinem Stück Diamante bei den Wiener Festwochen gibt Regisseur Mariano Pensotti Einblick in die persönlichsten Momente von Menschenleben. In drei Akten bauscht er die Handlung bis kurz vor die Eskalation auf – doch der Knall bleibt aus.
Ein gespenstisches Rauschen erfüllt die Halle, elf Wohnhäuser sind in warmes Licht getaucht. Mystischer Nebel schleicht sich an den Hauswänden entlang, eine Seite jeweils aus Plexiglas, durch die die Zuschauenden unmittelbar am Leben der Bewohner der Stadt Diamante teilhaben können. Da übt ein enttäuschter Ex-Rockstar mit seiner Tochter Geige, ein Anwaltspaar steht ratlos in ihrer zerstörten Wohnung, eine Autorückbank wird zum Ort für ein nächtliches Stelldichein. „Wir sind doch wie Schauspieler, die ständig die gleichen Szenen wiederholen!“, wirft Justine ihrem Vater an den Kopf. Immer von Neuem beginnen die Alltagsszenen simultan. Während die Spielenden an Ort und Stelle bleiben, wechseln die Zuschauenden ihren Platz. Sie können sich ihren Weg selber suchen, Vitrine um Vitrine fügt sich ein Puzzleteil mehr an seinen Platz und langsam beginnt man zu erahnen, wie die einzelnen Geschichten miteinander verknüpft sind. Ein auktorialer Erzähler kommentiert in Übertiteln das Geschehen. Die Figuren bekommen eine Vergangenheit und eine Zukunft: Ein Vaterkomplex oder ein Autounfall, der sie nachhaltig prägt und ihr Verhalten beeinflusst. Es stehen Menschen auf der Bühne, deren Wünsche und Ängste völlig transparent gemacht werden.

Wie man zum Allwissenden wird
Man wird zum Mitwissenden und Mehrwissenden – und man will auch, je länger, je mehr, alles wissen – denn die Kommentare und Konflikte zwischen den Figuren lassen erahnen, dass diese schöne, friedliche Blase der private city bald zerplatzen wird. Cliffhanger reiht sich an Cliffhanger und baut so die Erwartung an ein unglaublich episches Ende auf. Der Erzähler hilft zu Beginn, sich ins Stück einzufinden, jedoch wird bald mehr beschrieben als gespielt. Subtext, der eigentlich über das Spiel klar werden sollte, wird plötzlich verbalisiert. Dies nimmt dem Gespielten Gewicht, die Szenen wirken nunmehr wie illustrierende Bilder – die wirkliche Story, die spielt sich oben im Text ab. Und wäre es eigentlich nicht gerade das, was Theater ausmacht: Etwas zu zeigen, ohne es zu sagen?

Private Cities als Realität
Dass Unternehmen beginnen, für ihre Arbeitenden eigene Städte zu bauen, die mit zahlreichen Privilegien, allen voran Sicherheit locken, ist mittlerweile Realität. Friede, Freude, Eierkuchen gilt nur an der Oberfläche: Das eigentliche Ziel ist, mehr Profit herauszuschlagen. Dies wird einem auch in Diamante bewusst: Eine scheinbar sichere Oase, das „Paradies“ wird in seinen Grundmauern erschüttert. Das dahinterstehende Unternehmen Goodwind steckt in finanziellen Problemen und versucht alles, um primär sich selbst zu retten. Man nimmt teil an der bis in die Mimik ausgearbeiteten Wahlkampagne, sieht im Gewerkschafter langsam den Wunsch wachsen, das kapitalistische Regime zu stürzen und verfolgt den Fall der erfolgreichen Business-Woman Claudia (Gaby Ferrero), die schlussendlich die Wohnung ihrer ehemaligen Untergebenen putzen muss. Die ausgezeichnete schauspielerische Leistung macht es einem leicht, sich in die Menschen hineinzuversetzen. Traum für Traum wird enttäuscht und persönliche Krisen folgen. Lebensentwürfe zersplittern. Und nach jeder Sequenz ertönt ein schauriger Glockenklang, ähnlich dem der todbringenden Arena von Hunger Games: Ein Traum weniger, eine Krise mehr.
Pensotti bringt ein wichtiges und viel zu wenig diskutiertes Thema auf die Bühne: Was machen wir, wenn private cities wirklich Realität werden? Was, wenn unsere Leben auch so transparent werden wie diese in Diamante? Man sieht als Zuschauende die Menschen wie in einer Virtual Reality, einer Nebenwelt, und stellt sich unweigerlich die Frage: Was wäre wenn?

Alltäglich statt episch
Nach vier Stunden, in denen die Stadt immer mehr zerfällt, ist man gespannt. Was ist jetzt die große Lösung, lehnen sich die ausgebeuteten Bewohner*innen gegen das Unternehmen auf, realisieren sie die Korruption? Gespannt betritt man zum letzten Mal die Halle, welche von gleißenden Suchscheinwerfern erleuchtet wird. Und es passiert… einfach nichts. Die Jugendlichen führen kultische Rituale durch, andere ziehen um und frustrierte Männer haben eine Miliz gegründet. Doch abgesehen von ein bisschen Grölen, einer festgenagelten Stoffpuppe, und Tiermasken haben keinen spürbaren Einfluss. Das epische Ende bleibt aus, es folgt kein Schrei nach Freiheit, sondern eher die deprimierende Apathie einer ehemaligen Utopie. Als Zuschauende zuerst enttäuscht – wieso dieses Schüren von Aggression und Frustration, wenn der Höhepunkt ausbleibt? – dann aber dennoch nachdenklich: Ist es nicht meistens so, dass das Epische, Befreiende ausbleibt und man sich seinem laschen Alltag fügt?