Bacantes

R: M. Monteiro Freitas, Volkstheater, 18. Mai 2019


Kafkas Kübelreiter auf Kokain (Bacchus Magnus)

Ein seltener Anblick des Alltags, und wenn, dann auf Spielplätzen und in Grundschulen zu finden: Ein Mann gibt Minuten lang vor, aufgeregt auf einem Notenständer Fahrrad zu fahren. Er tritt in unsichtbare Pedale, biegt per Gewichtsverlagerung nach links ab, und bewegt sich doch nicht vom Platz. Das Publikum schaut gebannt zu. Was hier zu sehen ist, wird sonst der kindlichen Imagination zugerechnet, die aus einem Alltagsgegenstand voll Leidenschaft mimetisch einen anderen formt. Die Szenerie ist von einem unendlichen Strom aus Rhythmus und Geräuschen umspült, der die 13 Performer auf der Bühne herumwirbelt. Der Mann mit dem Notenständer wirkt wie Kafkas Kübelreiter auf Kokain.
„Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ (Bakchen – Vorspiel zu einer Reinigung) von Marlene Monteiro Freitas ist, was der Titel verspricht: ein bacchantischer Rausch. Ein Rausch, der von Josephine Baker und Louis de Funès choreografiert zu sein scheint, musikalisch kuratiert von Diplo und Otto Waalkes. Zwei Stunden lang wird sich durch die Musikgeschichte gespielt und performt. Von Big Beat, Dancehall Reggae und Moombahton, über Jazz, Kammermusik, Klassik und Minimal Music, bis zu Samba, Futebol-Carambo und Blechblasspaß wird alles angestimmt. Auf den Theatersesseln darf leider nicht getanzt werden, doch zu Ravels „Boléro“ schwingen so einige Oberkörper in den teuren Reihen mit.
Das Leben ist Theater, die Welt ist eine Symfonie. Der Notenständer wird nicht nur wahlweise zum Radl, Gewehr, Regenschirm, Alpenhorn oder Dreschflegel, auch aus den ungewöhnlichsten Tönen werden kurzweilige Kompositionen. Selbst aus Katzenjammer lässt sich eine melodische Hymne zaubern, wenn die Special-FX-Sounds-Kiste geplündert wird. Ein Ansatz, der manchmal im Duett der Dilettanten endet. Die fünf professionellen Trompeter pressen noch den letzten experimentellen Ton aus ihrem Musikobjekt, während die restlichen Performer mit Caps und Badekappen pantomimisch den Verstand verlieren.
Zu einem echten Rausch gehört natürlich auch Sex. Nicht nur inhaltlich, auch symbolisch wird darauf hingewiesen. Im Wimmelbild der Aufführung werden immer wieder Notenständer zu erigierten Penissen, die gestreichelt werden. „I need temptation, sexual temptation“, heißt es in einem raren Audioschnippsel. Sex, Sound und Tanz fließen ohne Kommatarschranke ineinander. Kein Wunder: Die namensgebenden Bakchen waren historisch nichts anderes als die (unfreiwilligen) Groupies von Bacchus.
„Bacantes“ ist ein organisiertes Chaos für fröhlich Vergreiste und junge Jecken, das beweist: Musik ist Tanz ist Körper ist grandios.

Vorspiel einer Reinigung (L. S.)

Circa 2420 Jahre nach der Uraufführung von Euripides Tragödie Die Bakchen präsentiert die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas bei den Wiener Festwochen eine karnevaleske und orgiastische Zerstückelung eines der wohl größten Theaterhits der Antike während Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz parallel dazu mit seiner Verkündung von Neuwahlen auf dem Wiener Maria-Theresien-Platz eine Orgie der Euphorie auslöst.

Samstag, 18. Mai, 19.30 Uhr — 13 Performer*innen und Musiker*innen formieren sich auf der Bühne des Wiener Volkstheaters zu einem Live-Orchester und lassen Instrumente, Körper und Mimik tanzen. „Eine Reise tief hinab in die menschliche Psyche, in grotesker, verstörender Ästhetik“, prognostiziert man im Programmheft der Wiener Festwochen und dennoch übertrifft das surreal durchchoreografierte Schauspiel alle Erwartungen. Lautstärke und Musikwahl schwanken zwischen unerträglich laut und schrill zu beinahe zart-melancholisch. Nachdem ein, in ein Mikrofon, singendes Hinterteil wohl in beleidigter Dionysos-Manier eine Art singende Schimpftirade von sich gegeben hat, beginnen drei Bakchen mit goldenen Turbanen, ein teilweise blinder Theiresias und vier Figuren in wechselnden Rollen, die Freitas nach eigener Aussage hinzugefügt hat, mit ihrer genial durchstrukturierten, circa zweistündigen Choreografie der Abstraktion, sodass der Eindruck eines heillosen Chaos entsteht. Unterstützt werden sie von einem, permanent auf der Bühne platzierten Trompetenquintett, welches entweder synchron oder in einzelnen Bewegungen abwechselnd der verrückten Choreografie beiwohnt. Wenn gerade kein Musikstück gespielt wird, agieren die Performer*innen bis auf ein paar wenige Gesangs- oder Sprecheinlagen, pantomimisch zu selbst konstruierten affirmativen Klängen und erzeugen so eine Art Lautschauspielerei. Alltagsgegenstände wie Notenständer, Schläuche und Trichter bilden ihre Requisiten, während deren eigentliche Funktion durch ihren nonfunktionalen Gebrauch systematisch durchkreuzt wird.

Von Anfang an kristallisiert sich vor allem die Individualität der Rezeption als signifikante Besonderheit dieser, das Absurde vergötternden Ästhetik heraus, denn ich kann mir unterschiedliche Fokuspunkte bzw. -figuren suchen, sobald ich mich von dem Versuch verabschiedet habe, diese komplette Partitur an Wahnwitz wahrnehmen zu wollen, denn es passiert schlicht und einfach viel zu viel auf dieser Bühne. Als die Performenden beginnen, mit einem Notenständer eine Art Schreibmaschine nachzuahmen, kommt plötzlich Unruhe ins Publikum, weil klar wird, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz gerade Neuwahlen angekündigt hat. Von dieser Unruhe lassen sich die Artisten jedoch nicht beirren und fahren professionell mit ihrer karnevalesken Orgie fort, springen sogar ins Publikum, begrüßen Gäste und versuchen diese teilweise mit auf die Bühne zu lotsen. Gerade als man sich noch etwas unstimmig bezüglich möglicher Phallussymbole und Masturbationsbewegungen ist, wird die ganze Stimmung plötzlich abrupt mit einer Ernsthaftigkeit und Stille konterkatiert. Alles wird dunkel und auf einer Leinwand an der hinteren Bühnenwand wird ein stummes Schwarz-Weiß-Video projiziert, welches eine Frau bei einer Hausgeburt aus einer sehr freizügigen Perspektive zeigt. Hier stockt nicht nur den Zuschauer*innen der Atem, sondern auch die Performenden haben für einen kurzen Moment Pause und starren ebenfalls zur Leinwand. Als dann am Ende Maurice Ravels weltberühmter Bolero die Münder der Bakchen, welche nun in Krankenhauskittel und Mundschutz gekleidet sind, in blutige Mäuler verwandelt, kommt mir der Gedanke: Karneval, das steht nicht nur für den orgiastischen Exzess, sondern geht in all seiner semantischen Spektrum wortwörtlich zunächst auf das lateinische Wort ‚carnem levare‘ zurück, was soviel bedeutet, wie ‚das Fleisch wegnehmen.‘

Auch wenn mich als Betrachtende nicht selten die Lust überkommt, zur Bühne hinunterzuspringen und an diesem ridikülen Fest teilzunehmen, wird mir schnell klar, wieviel technische Strenge hinter dieser maßlosen Kreativität stecken muss, denn diese Choreografie verlangt den Performer*innen alles an Timing, Talent und Training ab was geht. Choreografin Freitas beweist auch mit ihrer wahnwitzigen Interpretation – der volle Titel lautet Bacantes — Prelúdio para uma Purga (Vospiel einer Reinigung) – erneut, dass sie nicht umsonst als eines der größten Talente der internationalen Tanz-Szene gehandelt wird. Mit ihren Arbeiten voll expressiver Bilder und kulturgeschichtlichen Referenzen ist sie nun bereits zum dritten Mal Gast bei den Wiener Festwochen. Die in Lissabon lebende Künstlerin zauberte an diesem Abend aus unkontextualisierten Bestandteilen der Tragödie eine orgiastische Rekonfiguration der Bakchen des Euripides, welche die uralte kathartische Funktion des Theaters mit der reinigenden Kraft des Exzesses fusioniert. In Euripides Tragödie werden die Bakchen in einen Wahn getrieben, der sie hinaus aus der Stadt Theben auf einen Berg führt und dazu bringt, dort mit wilden Tieren und Wein zu leben, weil Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches, das Gefühl hat, von ihnen keine Göttlichkeit anerkannt zu bekommen. In diesem Dionysos-Kult wird nicht selten eine implizite Verweigerung staatlicher Opferpraxis und grundsätzlich staatlicher Normen gelesen, also eine Art Alternativgesellschaft. Hinsichtlich letzterer interpretatorischer Lesart überkommt mich, als ich das Volkstheater verlasse, das Gefühl, dass Freitas’ Bacantes hier zu einem mehr als passenden Zeitpunkt zur Aufführung gelangt, denn vor den Toren des Theaters herrscht eine, dem Grad an eskalativer Euphorie adäquate, Stimmung.


dicht | Dichter | verdichtet (L.L.)

Ein voller Abend erwartet das Publikum von „Bacantes“ – PRELÚDIO PARA UMA PURGA. Es beginnt schon zum Einlass, auf der Bühne zu wuseln. Die PerformerInnen zappeln und zucken allein oder zu zweit. Der Zweck ihrer Handlungen ist nicht erkennbar, aber es macht Spaß ihnen zuzusehen. Das Bild überfordert an mancher Stelle vielleicht sogar, weil man nicht weiß wo man hinschauen soll. Dieses Gefühl der Überforderung schwebt während der ganzen Inszenierung mit und bringt scheinbar einige Menschen dazu die Vorstellung frühzeitig zu verlassen. Doch für diejenigen, die bereit sind sich auf „Bacantes“ einzulassen, wartet ein berauschender Abend.

Den acht PerformerInnen, unter denen auch die Choreografin Marlene Monteiro Freitas selbst ist, sind fünf Trompetenspieler gegen über gestellt. Die Musiker betreten aus dem Zuschauerraum heraus die Bühne. Langsamen Schrittes bewegen sie sich durch das Publikum auf die Bühne zu. Doch eigentlich trifft die Differenzierung dieser zwei Gruppen nicht ganz zu. Produzieren doch auch die Tänzer Musik und die Trompeter eigene Choreographien. Sie versuchen sich gegenseitig nachzuahmen, etwa wenn die PerformerInnen mit den Trichtern und Schläuchen versuchen Trompetengeräusche zu produzieren.
Die zwei Gruppen sind aber eindeutig als Gegenspieler etabliert, wie auch den Figuren der griechischen Vorlage von Euripides ein Chor gegenübergestellt ist. Der griechische Stoff des Dichters Euripides taucht häppchenweise immer mal wieder auf. Viele Verweise wissen sich aber auch hinter der überfüllten Inszenierung zu verstecken. Es sind Symbole für den Seher Theresias eingebaut. Die zerfleischenden Frauen zeigen sich am Ende mit ihren blutverschmierten Mündern. Und der Gott Dionysos, dem das Stück gewidmet ist, begnügt sich nicht mit einem Weinbecher. Es werden Trichter mit Schläuchen als Requisiten verwendet, die an einen ungehaltenen Alkoholkonsum von Besäufnispartys erinnern. Der Umgang mit den Gegenständen auf der Bühne – neben den Trichtern sind besonders Notenständer zu sehen – ist sehr spielerisch. Sogar die Trompeten dürfen zweckentfremdet werden.
Auch sexuell aufgeladene Stellen finden ihren Weg auf die Bühne, wenn etwa der Notenständer zum Masturbationsobjekt wird, die Lust einer Frau ans Publikum gerichtet ausgesprochen wird oder ein Frauengesäß mit Perücke als Sängerin fungiert. Doch wird nicht nur die Lust und der ekstatisch zuckende Körper gezeigt, sondern auch die Konsequenz davon: eine Geburt. Ein Schwarzweißfilm ist in die Inszenierung eingebaut, in dem eine vollständige Geburt zu sehen ist. Dieser Ausschnitt stellt einen starken Kontrast zum Rest dar.

Der Abend speist sich aus Übertreibungen, Überforderungen und Überlagerungen. Aber auch Überraschungen halten sich bereit. Die Grenze zum Publikum wird oft überschritten. Die gebotene Fülle ist unterhaltend und konzentriert das Ereignis sehr auf den Moment, den Körper und die Musik. Das Werk des Dichters scheint sehr weit weg und doch ganz nah zu sein. Trunken von der gezeigten Ekstase geht man nachhause und fragt sich, was von diesem Abend, der sich so dicht gestaltet, bereits vergessen ist.

Hummel am Ohr (J.M.)

Die überheizten Räume des Volkstheater verwandeln sich für einen Abend zu einem kollektiven Fiebertraum, der nach knapp zwei Stunden ihre Zuschauer aufgebracht in die kühle Nacht entlässt. Marlene Monteiro Freitas vermischt in „Bacantes“ Clownerie mit Tanz, Musik und Performance. Sie lässt die Performer nicht nur auf der Bühne eine Vielzahl an Choreografien durchlaufen, sondern schickt die Tanzwütigen in die Menge, wo sie das Publikum aus der Sicherheit der Bestuhlung entreißen. Zuschauer müssen Hände schütteln, Seile halten oder durch die Luft geworfene Instrumente einsammeln.
Die Körper werden zu postmodernen Instrumenten, ganz im Zeichen von Al Hansens Yoko Ono Piano Drop. „Kann ich mit einer Trompete auch Musik machen, wenn ich nicht das Mundstück verwende?“, diese Frage stellt sich das Ensemble des Tanzorchesters und trommelt wie wild auf die Ventile des Instruments. Alle Geräusche, mit denen Kleinkinder und andere Quälgeister die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten finden Platz: Vom Grunzen, Quieken und Gackern, vom Heulen, Schnarren und Klackern – die ganze Palette des Animalischen wird auf den stark in Anspruch genommenen Stimmbändern gezupft. Auf einem Soundboard wird Schritt auf Tritt mit einen Geräusch verbunden. Trompetenspieler kämpfen um Aufmerksamkeit und vertreiben die letzten Reste der Ruhe aus dem Theatersaal.
Der Dschungelcharakter der Inszenierung – das Gefühl, sich durch ein performatives Dickicht zu schlagen – ist durchkomponiertes Chaos. Freitas zeichnet ihr ganz persönliches Bild des Exzesses und der Idee, abseits der konformen Lebensrealität eine Gegenwelt zu schaffen, die Hierarchien überwindet und konstruierte Vorstellungen des menschlichen Zusammenlebens erodieren lässt. Eine grafische Darstellung einer Geburt wird auf die hintere Wand der Bühne projiziert: Tod der Vergangenheit – es lebe die Moderne! Das Fest als Möglichkeit einer Zäsur und als Sprungbrett zum Neubeginn – da passen die ausgerufenen Neuwahlen im Anschluss an das Stück nur allzu gut in die Dramaturgie und rechtfertigen fast schicksalshaft die Wirkung der Produktion und die Kraft der Wiener Festwochen.

Am Tag der Trillerpfeifen (C.F.)

Während Österreich noch auf die Stellungnahme aus dem Bundeskanzleramt wartet, beginnt Bacantes – Prelúdio para uma Purga schon während des Saaleinlass mit Trillerpfeifen und Unruhe. Die Unruhe bleibt, so wirbeln über zwei Stunden clowneske Figuren, Trompeter, Masken und Musik durcheinander.
Angelehnt an Euripides antike Tragödie „Die Bakchen“ sollen der orgiastische Rausch, Kontrollverlust und die Zerrissenheit zwischen Apollon und Dionysos auf der Bühne erlebbar werden. Die Bühne ist reduziert, zwei gelbe Querstreifen dominieren den Raum, dazu ein Spiegel im Hintergrund, der keinen Unterschied zeigt zwischen Illusion und Realität.
Es ist ein buntes Durcheinander, das Marlene Monteiro Freitas inszeniert, eine Spielwiese für Musik und Tanztheater. Marlene Monteiro Freitas, geboren 1979 auf den Kapverdischen Inseln, wird als Talent der internationalen Tanzszene gehandelt und arbeitet derzeit überwiegend in Lissabon. Die Choreografin und Tänzerin ist bereits zum dritten Mal Gast bei den Wiener Festwochen und war mit „Bacantes“ im Jahr 2017 beim Steirischen Herbst geladen.
Die Produktion spaltet das Publikum, einige verlassen nach und nach den Raum während andere lange und begeistert applaudieren. Die Produktion besticht mit einer breiten Spannweite vom Trompetenquintett zu Dancehall, verbunden mit einer präzisen Choreografie.
Es sind viele verspielte Ideen, die Freitas einbaut und so das Publikum zum Lachen bringt. Aus Notenständern werden rasch Geweihe, Gitarren, Gewehre und Schreibmaschinen. Eine Kreativität, die ausdauernd Szenen aneinanderreiht, in einem gekonnten Zusammenspiel von Musik, Clownerie und Tanz. Und doch bleibt es meist bei Variationen des Immergleichen. Die Darsteller*innen schwimmen zu Rondo im Trockenen und die Luft in den blauen Plastiktüten geht aus.
Vielleicht fehlt der Wein für die Ekstase und das musikalische Vorwissen für mehr Sogwirkung. So bleibt es ein dadaistisches Spiel, ohne dem blinden Seher die Augen zu öffnen. Der Blick auf die Uhr spricht nicht für Rausch und Exzess und das Treiben in Österreich bleibt am Ende doch fesselnder.