Tiefer Schweb

Regie: Christoph Marthaler, Theater an der Wien, 6. Juni 2018

Am Gipfel des Skurrilen (Carmen Rosenkranz)

Christoph Marthaler treibt es mit seiner Inszenierung von „Tiefer Schweb“ an den Münchner Kammerspielen, die im Rahmen der Wiener Festwochen im Theater an der Wien gastiert, auf die Spitze der Absurdität.

Das Spiel wird zwischendurch immer wieder durch Lieder in A-Cappella, Tanzeinlagen und Reminiszenzen, wie beispielsweise aus Mozarts Zauberflöte, unterbrochen. Ein Akkordeon wird wie aus dem Nichts auf die Bühne geschoben und es wird ein Volkslied dargeboten.
Am Ende verbarrikadieren sich alle vor der drohenden Seuche mit antiresistenten Bakterien, mit denen das Wasser des Bodensees zersetzt ist und vor der ein Bakteriologe zuvor warnte. Es bleiben blutige Nasen bei den Figuren, die in mehreren Strophen Johann Sebastian Bachs „O Haupt voll Blut und Wunden“ darbieten.

Aber zunächst zum Anfang. Wir befinden uns in einer Unterwasseklausur-Druckkammer am tiefsten Punkt des Bodensees, die „Tiefer Schweb“ genannt wird. Es tagt ein geheim operierendes Komitee im Auftrag des „Sicherheitsrats der Vereinigten Bodenseeverwaltung“. Schnell wird jedoch klar, dass es hier nicht um eine spezielle Handlung geht, die durcherzählt wird. Marthaler präsentiert verschiedene Szenen, die an Skurrilität und Absurdität nicht zu überbieten sind. Bisweilen spröde und plump wirkend, kann diese Absurdität durchaus als doppelbödig bezeichnet werden. Bestehende Bürokratie und Dinge, die aus Gewohnheit oder Tradition noch bestehen werden, an den Pranger genommen. Beschwerden von Seiten der beiden Frauen über die fehlenden Damentoiletten führen letztliche zu einem überstülpen von Pissoirs über die Köpfe der männlichen Darsteller mit anschließendem Dialog in diesem Zustand. Dabei wirkt das Bühnenbild von Duri Bischoff zunächst harmlos. Es wird ein bayrisches Gasthaus präsentiert. Holzverstäfelungen, ein hölzerner Tisch samt Stühlen und ein grüner Kachelofen sind zu sehen. Lediglich ein Rad an der Wand erinnert immer daran, dass wir uns unter Wasser befinden. Der Kachelofen ist einerseits Ein- und Ausstieg aus der Kammer, andererseits werden Dinge, wie beispielsweise Trachtenkleidung darin verbrannt. Auch hier zeigt sich die Doppelbödigkeit von „Tiefer Schweb“.

Selbst die Blumen zu dieser „Beerdigung“ sind in Cellophan gewickelt. Ein Akt der scheinbar der Absurdität „der Ordnung wegen“ geschuldet ist. Am Ende begeisterter Applaus von Seiten des Publikums. Einige wenige verlassen voreilig den Saal.

 

Die große menschliche Sünde – die Ungeduld (Eike B.)

Theater an der Wien – Wiener Festwochen – 5. Juni 2018.
Das Saallicht erlischt und eine Stimme verkündet unsere Anwesenheit auf einem Fahrgastboot – einem Dampfschiff. Man wird in den nächsten 1:45 Stunden das Dreiländereck des Binnenmeers Bodensee bereisen. Leider ist ein Highlight auszulassen, Tiefer Schweb, der tiefste Punkt des besagten Sees wird okkupiert von einer Wohneinheit, aus mehreren Dampfschiffen, für Zugewanderte.
Der Vorhang lichtet sich. Zu sehen eine typische holzvertäfelte Stubm‘, ein eckfüllender Kachelofen und ein Holztisch, drum herum, in mausgraue Anzüge gekleidete. Doch die Umstände des Ortes und seiner beherbergten Gruppe eröffnet sich uns nicht nur durch die Tatsache, dass keine Fenster zu sehen sind, obgleich im Theater gewöhnlich, hier Indiz. Ebenso das kopfgroße Ventil-Rad an der Wand. Ein Gremium hat sich gebildet, um zuvor beschriebene Sachlage zu bereinigen und nicht irgendwo, sondern direkt darunter, am Boden des tiefsten Punktes des Bodensees – namensgebend für das Stück. Thematik des heutigen Abends – das scheue alte Europa, sich sträubend vor der globalen Wanderbewegung. Vertreten wird es, wie sollte es anders sein, vom eben genannten, Anzug tragenden VertreterInnenensemble („einer alten Welt“ [Wiener Festwochen Programmheft]). Der See sei zu schützen, dessen AnwohnerInnen und die alten Werte. Zugezogene sollen die Biosphäre bedrohen und ein fremdartiges Bakterium verseuche zunehmend den weltbekannten Bodensee.
Verhandelt wird das Ganze in einer Nummernparade aus, von Malte Ubenauf, Christoph Marthaler und Ueli Jäggi umgeschriebenen Texten, Bach-Kantaten bis zu Simon & Garfunkel Klassikern. Ein großer Teil dieser, im Chorus vorgetragen, sind mit bodenständigem Heimatliedergut geschwängert, darunter mischen sich so allerhand Kirchengesänge und theologische Querverweise. Die erste Hälfte zeigt Potenzial aber geht nicht über die Grenzen eines Grinsens hinaus und man fühlt sich wie in einem Musi’stadl, es scheint als verbinden die Sprechpassagen lediglich das Anstimmen der nächsten Melodie oder ein weiteres effektreiches Gesamtbild. Aber wie bereits im Stück behandelt – der Mensch habe die eine große Erbsünde zu tragen – die der Ungeduld, muss auch das Publikum sich auf die zweite Hälfte des Abends gedulden.

Ein Einschub: Ein wunderbar platzierter Subtext ereignete sich während des zweistündigen Abends im 2. Rang des Hauses. Sich mir noch nie dargebotener akrobatischer und freier Natur verhielt sich das Publikum, ausgelöst von Marthaler selbst, wenn man so will. Ein stetiges Getümmel hat stattgefunden. Damen saßen plötzlich auf den Balustraden der Logen, Plätze wurden fortwährend getauscht oder Sitzflächen nach oben geklappt um aus einer erhöhten Perspektive auf das Spektakel sehen zu können – Schaulust auf hohem Niveau.

Man kennt Marthaler und man weiß: Das große allumfassende Konzept wartet um die Ecke, man hat es bloß noch nicht verbinden können. Und auf einen Schlag entwickelt sich der Abend zu einem doppelbödigen Diskurs-Absurdum. Die Verweise sind wie Zuckerstreusel auf dieser Kritik-Torte überall zu finden und bestehen aus Zitaten von Kafka, Heidegger und Co. Generell gewinnt der Abend zunehmend an kafkaesker Färbung und präsentiert mit einer Selbstverständlichkeit die Bunkermentalität gepaart mit Heimatliedern und Urinalen. Gewiss ist, es gibt viel herauszulesen für den Rezipienten und ich könnte nun beginnen Situationen dieser Bildergewallt Marthalers zu paraphrasieren, doch will man den Streuselzucker nicht lieber selber kosten als davon zu lesen?
Man kann dem Abend einiges vorwerfen, so hat er natürlich seine Längen und kann einen auch komplett kühl lassen – doch allzu treffend ist dies rückführend auf das bürokratische System, selbst dem Todgeweihten werden die Begräbnis-Blumen schön in cleanes Cellophan gewickelt – man könnte sie ja wieder gebrauchen.
Und als sie dann am Ende, die so plötzlich aufgetauchten, genau wie die Lieder, abgeänderten Trachten durch die einzige Möglichkeit zur Kommunikation nach Außen – den Ofen, verschwinden lassen, verlieren sie auch alle Formen der Kultur. Sprachlos, wie in einer Anekdote zuvor angedeutet, werden auch sie wieder wie zu Beginn blubbernde Wesen und anarchisch, wie im 2. Rang, werden Türen verbarrikadiert und die Klausurdruckkammer wird schlussendlich auch visuell zu einem Bunker.
So gibt sich ein jeder am Ende versöhnlich mit dem Abend und erkennt zu guter Letzt die Erhabenheit der Message, die so gut getarnt in effektvollen Mitteln sich stetig herauskristallisierte.