STYX

STYX (Regie: Wolfgang Fischer, GER/AUT 2018)

Filmkritiken von Herbert Szlovik, Valentin Seißler & Lea Wimmer:

An der Grenze zwischen Leben und Tod [Herbert Szlovik]

Seit Angela Merkels legendärem Satz „Wir schaffen das“, ist die Flüchtlingskrise in aller Munde. Sie spaltet seit drei Jahren die Politik der europäischen Gemeinschaft, die nationale Politik der Mitgliedstaaten und die Meinungen ihrer Bürger*innen. Das Thema ist in den Medien ständig präsent und wurde auch filmisch schon mehrfach behandelt. Styx (2018) nimmt sich des Themas in Spielfilmform an und versteht es mit einer spannenden Geschichte an Ränder menschlicher Gefühle zu gehen und damit die Zuseher*innen zu fesseln.

Der Fluss Styx stellt in der griechischen Mythologie die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich dar. An dieser Trennungslinie spielt der Großteil des Films. Wir sehen eine Frau auf ihrem Segelboot. Sie hat sich eine Auszeit genommen und nimmt Kurs auf ihr Paradies, die Insel Ascension im Südatlantik. So professionell die Zuseher*innen sie in ihrem Beruf als Notärztin erleben, so professionell präsentiert sie sich auch im Umgang mit ihrem Boot. Sie kennt alle Handgriffe und navigatorischen Tätigkeiten an Bord. Sie weiß immer, was zu tun ist. Sie meistert gekonnt einen Sturm, kann aber auch ihren Trip genießen. Die Zuseher*innen sehen sie angstfrei und entspannt im offenen Meer, nur mit einer Leine mit dem Boot verbunden, schwimmen. Sie ist technisch versiert, eine routinierte Seglerin und wirkt in allen Belangen souverän. Er wollte eigentlich einen Abenteuerfilm machen, der archaisch wirke und physisch an Grenzen gehe, und all das in einer menschenfeindlichen Umgebung, sagt der Regisseur in einem Interview. Die meisten Aufnahmen wurden auf dem offenen Meer gedreht, um das Thema physisch zu erarbeiten und da das Sujet Migration so aktuell ist, wurde es in den Film dazu genommen, meint er ergänzend.[1] Der erste Teil des Films ist tatsächlich dieser beschriebene Abenteuerfilm, der in seinen Aufnahmen an All is lost (2013) erinnert. Robert Redford spielt dort einen namenlosen Einhandsegler, der seinen Kampf gegen die Naturgewalten auf dem offenen Meer verliert. Nicht die Natur ist die Herausforderung in Styx, sondern der Mensch.

Als die Ärztin nach dem Sturm in ihrer Nähe ein navigierunfähiges Flüchtlingsboot entdeckt, nimmt sie sofort ihre Aufgabe als Skipperin und Ärztin wahr und verständigt per Funk die Küstenwache von dem Notfall. Diese gibt sich zurückhaltend, sagt zwar zu, dass man etwas unternehmen werde, ersucht sie aber, sich dem Boot nicht zu näheren. Ab diesem Zeitpunkt erfahren die Zuseher*innen in einer Achterbahnfahrt der Gefühle, wie die Souveränität, Professionalität und das Weltbild der Ärztin und Seglerin nach und nach aus den Fugen gerät. Vor die Gewissensfrage gestellt zu helfen, gleichzeitig zu wissen, dass sie nicht allen helfen kann, da dies sie selbst in Gefahr bringen würde, überträgt sich dieses Dilemma auf die Betrachter*innen des Films. Aus der anonymen Masse der Flüchtlinge taucht plötzlich ein Junge vor ihrem Boot auf. Er hat es geschafft schwimmend den „Styx“ zu überqueren. Sofort erfährt er professionell ärztliche Hilfe und wird schnell wieder auf die Beine gebracht. Dann die Provokation. Sein Verhalten schockiert die Zuseher*innen. Der Junge fordert die Rettung aller Flüchtlinge. Nach dem unvermeidlichen Zusammenprall der Skipperin mit dem Jungen bezüglich einer Rettungsaktion entwickelt sich auf dem kleinen Boot langsam ein Dialog zwischen beiden, nur begleitet vom Schwanken des Bootes, vom Geräusch von Wind und Wellen. Beide wollen was tun, sehen aber letztlich ein, dass kein sinnvolles Handeln möglich ist. Das Segelschiff ist zu klein, um alle Flüchtlinge zu retten. Das moralische Dilemma ist offensichtlich. Warum kommt die Küstenwache nicht?, fragen sich die Zuseher*innen. Assoziationen tauchen auf: „Das Boot ist voll“, „Festung Europa“, aber auch: „Wer darf eigentlich in das europäische Paradies?“

Die Bilder einer ruhigen See, ein wolkenverhangener weißgrauer Himmel. Wellen, die gegen das Boot klatschen, wirken trügerisch. Auf dem Segelboot herrscht Anspannung. Manchmal sind Schreie von Flüchtlingen zu vernehmen. Das Rettungssystem, das die Ärztin kennt, gibt es hier nicht. Die Kamera beobachtet aufmerksam die Hauptfigur, die in ihrem Spiel sehr zurückhaltend, fast emotionslos agiert, auf ihrer vergeblichen Suche nach einer vernünftigen Entscheidung. Auch wenn sich sie Zuseher*innen die Frage stellen, was hätte ich gemacht, so scheint es keine Lösung zu geben. Der Film gibt auch keine Antwort. Die Politik Europas hat ebenfalls keine gemeinsame Antwort. So wie die Küstenwache zunächst abwartet und erst kommt – vielleicht tatsächlich erst auf den Notruf, den die Ärztin für ihr eigenes Boot abgesetzt hat –, so handelt die Politik Europas auch nicht und vermittelt gleichermaßen ihr Nichteingreifen, ihr Nichtstun als abschreckende Maßnahme. Während in der Schlusseinstellung vor ihren Augen tote Flüchtlinge vorbeigetragen werden, sitzt die Ärztin, eingehüllt in eine Rettungsdecke, an Bord des Rettungsschiffs der Küstenwache. Verzweiflung, Ohnmacht, Ratlosigkeit und Erschütterung spiegeln sich in ihrem Gesicht.

Fazit: Ein Film mit starken Bildern, mit einer starken Frau als Protagonistin, der ohne Antworten zu geben, viele Fragen an das Publikum stellt, spannend und provokativ gemacht.

[1] https://www.youtube.com/watch?v=VuNx_JALqJA (1.48- 4.00) Zugriff am 15.11.2018)

STYX oder EUROPAS ANGST VOR DER NOT [Valentin Seißler]

Eine Kreuzung bei Nacht. Kein Geräusch. Die Ampel flackert, „Gelb“, das Reglement der Straße wurde aufgehoben. Plötzlich rasen zwei johlende Autos vorbei, ein Drittes, die andern kreuzend, kracht brachial in die zeitlos scheinende Szenerie. Schnitt. Eine Menschentraube vor der Karambolage, manche gaffen aus den Fenstern ringsum, andere sammeln sich, uniformiert, vor der Unfallstelle. Blaulichter, die tönend ihre Zivilcourage bestreiten. Mittendrin, im Wrack des Autos, eine Notärztin, die, während sie medizinische Handgriffe tätigt und Anweisungen erteilt, auf das Unfallopfer einredet. Es gilt Leben zu retten, wenn schlimme Dinge passieren.
Auf der Kreuzung, im Cluster einer deutschen Infrastruktur, wird auch nach Mitternacht sachgemäß Hilfestellung geleistet. Das ist die Rundumverpackung des europäischen Systems, die Sicherheit und Menschenrecht verspricht, das immerdar Initiative ergreift, unerschrocken, gepaart mit einer Menge Schneid und ethischer Bildung. Dafür steht Rike, vierzig, mit allen Wassern gewaschene Ärztin aus Europa; abgebrüht mimt sie das essenzielle Schlusslicht der humanen Verwertungskette.

Ihr Traum von Natur, dem „Paradies“, führt sie auf eine stoische, ja kühne Reise übers Meer an der westafrikanischen Küste entlang. Ein Einhandsegeltörn von Gibraltar nach Ascension Island. Die weiße, taffe Europäerin auf den Spuren des jungen Darwin, jeglicher Naturgewalt strotzend, gerät sie dennoch ins Wanken: Ein havarierter Fischkutter, eine anonyme Masse um Hilfe rufender  Afrikaner lässt sie ein moralisches Dilemma durchspielen, dass ihre Professionalität als Privilegierte – die Retten will – auf die Probe stellt. Obwohl sie ihrem hippokratischen Eid gemäß reagiert und zumindest notlösend Ressourcen bieten kann, muss sie verharren (zwischen Not und Verantwortung, ja ein gefrierender Moment paralysierender Ohnmacht), und sich heroisch bürokratischer Grauzonen und unwirtlichen Gewässern widersetzen.

Wolfgang Fischer widmet sich abstrakten, dennoch brandaktuellen Fragestellungen. Die Bilder der verzweifelnden Menschen auf den Booten kennen wir, abgestumpft durch die x-te mediale Berichterstattung. Fischer und seine Koautorin Ika Künzel gehen weiter, lassen die sonst männerdominierte Heldenreise und tröstend dramaturgische Annäherung gleich ganz weg und exerzieren ein offenes Kammerspiel, das nüchtern und mit schwindelerregender Kameraarbeit, die Zwangslage der letzten Jahre nachzeichnet, im Gegenüber, situativ und mit absoluter Physis. Klang und Bildwelten bleiben ungemütlich nah am Geschehen, im angespannten Jetzt der Situation und spannen so ihren dramaturgischen Bogen, der Parallelen zur prekären, realpolitischen Verhandlungsthematik zulässt, weil es eben keine richtigen Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten zu scheinen gibt. Die europäisch soziale Rundumverpackung wird konfrontiert, Rike kann nicht anders und greift ein, das Netzwerk aber schweigt und … wartet.
Aus der Ferne nur das Schweigen der Wellen. Im Close Up die Angst, aus der Verzweiflung wird. Styx, der griechischen Mythologie entnommen, ist ein Fluss, der das Reich der Lebenden und das der Toten trennt. Hier versuchen alle nur ihr Paradies zu erreichen, die einen in die zweckgeheiligte Möglichkeitsmaschinerie Europa, die andere zu wildwuchernder Natur, möglichst alleine, „Abenteuerurlaub“, sagt mensch* in Westeuropa dazu. Doch das Dazwischen verlangt moralische Integrität, obwohl keine*r da ist, um sie zu rügen; Zusammenhalt, ohne Bedrängnis und mit Selbstverständlichkeit, und Courage, die ist leise und unerbittlich, weil sie zählt und nicht lügen kann. Susanne Wolffs Darstellung ist so eine. Grandios, die immense politische Dimension, die von Fischer aufgegriffen wird und diskutiert werden muss! Styx erlaubt sich ein Ende bei dem Alle mit den Konsequenzen weiterleben und sich ihrer Verantwortung stellen.

On both sides of the Styx [Lea Wimmer]

What would I do? Or what is Europe supposed to be doing? Styx by Wolfgang Fischer is a thrilling story of solo sailor Rike and shows the ethical dilemma she is confronted with – a dilemma that a single person might not be able to handle by her- or himself.

Isn’t it fascinating how fast you get help as a European citizen whenever you are in any kind of trouble? For example, a car accident in Germany and within a few minutes, relief units are on the site. That’s when we first meet Rike, a professional emergency doctor played by Susanne Wolf, who has, as it seems, always the right solution at hand.

We see her next, still in her organized habitus, loading her sailing yacht for a long solo sailing trip to her dream destination Ascension Island, which is also known as Darwin’s Paradise. During long camera takes with barely any cuts we get to know her even better. Not only does this efficient and dauntless woman sailing on her own impress us as a viewer, the beautiful sailing shots promise a safe journey and make Ascension Island almost tangible. When she receives warning of a coming storm some might think this is the point where things will change drastically. But if one has followed the first half carefully, it is actually no surprise that even a heavy storm is easy to handle for super professional Rike. The camera, always so close by her side, almost makes one enjoy the storm scene as she is so secure in her actions.

And we ask ourselves; what is about to come? What has to happen to leave Rike helpless? And while this thought is forming in our minds, with everything seemingly peaceful after the storm and Rike’s yacht floating on the calm sea, the real challenge for Rike appears right next to her. Through the small window of the cabin she spots an unknown vessel crowded with people. At the beginning of this scene Rike is not sure what kind of boat it is and to whom it belongs. We as viewers realize right from the beginning that the vessel is a refugee boat, because of its framing. Dark and blurry it is represented exactly the way we know from media reports. It is an allegory for the ongoing refugee debate and the failing of European politicians. Rike is confronted with an ethical task and the experienced doctor seems to become desperate. On the one side a sinking refugee boat, and on the other side the voice of a coastguard (via radio set) prohibiting her to help and actually ordering her to keep a distance from the boat.

The gripping rescue scene of a young refugee boy is almost a big relief for the viewer. In that moment the opening rescue scene comes to our mind and we remember how fast help was nearby, whereas in this scene the rescue is actually forbidden and physically very demanding. However, Styx is not a hero movie nor is Rike the heroic person with the solution for the problems depicted in the film.

Styx, the name originally derives from Greek mythology and might be translated as “a water of horror”, is known as the river separating the living from the dead. Fischer’s film pictures this very divide perfectly. Rike is the protagonist of the western world. She represents what Europe is actual capable of with all its resources and abilities. On the other side there is the rescued boy representing the ones who have made it and the ones on the boat symbolizing the many who have died on their way to their final paradise … Europe.

One may criticize that this film does not offer any new perspectives on the refugee crisis. However, I think this has actually not been the aim of the film. It does not try to explain the background of the refugee crisis nor the immediate reasons why people flee their respective country. Instead it is focusing on the consequences of the refugee crisis but in a straightforward way with hardly any dialogues or other elements to dramatize them. And this is just what makes this movie so authentic. Coming back to the questions posed at the beginning: Styx does not ask what I would personally do in such a situation, but rather shows what Europe is (not) doing at the moment.