Erzählen & Verantwortung: Über Archivfunde und ihr bewusstes (Ver)Schweigen

Von Lara Bozkurt

Content Note: Suizid, Depression, psychische Erkrankung

„Archiv“ ist ein Wort, das sich zunächst alt, mächtig und groß anhört. Ein Ort der etliche Informationen beinhaltet, ob physisch zum Anfassen oder auf digitaler Ebene. „Archiv“ klingt nach einem Ort, an dem man anfangs die Angst entwickeln könnte, mit zu vielen Informationen überhäuft zu werden, sobald man einer Frage oder einer Person nachzugehen versucht. Doch die schiere Menge dieser zahlreichen Bestände, die einen bei einem Archivbesuch erwartet, entweder vor Ort mit all den Büchern, die die Archivwände bekleiden, oder die schier endlosen Seiten einer Website, auf denen man sich weiter und weiter klicken kann, können häufig täuschen. Die Ernüchterung, deutlich weniger gefunden zu haben, als man erwartet hätte, tritt bei der ersten Suche ein. Doch lässt sich mit dieser Ernüchterung besser umgehen, wenn man schon von Anfang an mit der Erwartung startet, nicht viel zu finden. Dies ist leider die Realität auf die jede/r stößt, die*der sich in denselben Schwerpunkt begibt wie meine Kommiliton*innen und ich im Seminar über feministische Geschichtsarbeit am Theater.

Doch ist mein Anliegen nicht, über geringe Funde zu schreiben. Dies war bei der von mir gewählten Schriftstellerin nicht der Fall, jedenfalls im Vergleich zu anderen Theaterkünstler*innen, deren Eintrag auf Wien Geschichte Wiki kurz oder noch gar nicht vorhanden war. Im Gegenteil: ich war konfrontiert mit mehr Information als anfangs erwartet. Dennoch blieb ein Beigeschmack zurück, der mir bis heute verblieben ist, wenn ich meine Arbeit und ihr Ergebnis Revue passieren lasse. Schon bei den ersten Annährungsversuchen mit Archivbeständen habe ich realisiert, dass es keine große Schwierigkeit darstellen würde, mehr über Antonie Baumberg herauszufinden. Schnell wurde ich von ihrem frühen Selbstmord in Kenntnis gesetzt, welcher sogar einer der Kriterien war, weshalb ich mich dazu entschieden habe, Nachforschungen über sie spezifisch zu betreiben. Mein Gedanke galt der Vermutung, dass über einen solchen Tod, der damals auf makabre Weise als Sensation galt, berichtet worden wäre. Diese Vermutung wurde durch zahlreiche Artikel bestätigt, die ich sowohl online auf Webseiten wie dem virtuellen Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek (ANNO) als auch im Archiv vor Ort gefunden habe. Sie wurden sogleich nach ihrem Tod gedruckt und veröffentlicht.

Gedruckt ist ein Stichwort, auf welches ich auch im Zusammenhang mit der Art der Bestände, mit denen ich hauptsächlich gearbeitet habe, eingehen möchte. Zwar habe ich mich auch während meiner Recherche kurzzeitig mit Manuskripten befasst, jedoch habe ich durch diese keine für die Biografie wichtigen Informationen erhalten, welche ich nicht auch durch Schriften gefunden habe, die nicht per Hand verfasst worden sind. Von ihrem Leben wurde bis ins kleinste Detail in Zeitungsartikeln post mortem berichtet; und das Manuskript eines ihrer Werke mit dem ich mich stärker beschäftigt habe – Das Kind – habe ich in der Wienbibliothek im Rathaus in Druckschrift auffinden können. Ich hatte dementsprechend nicht allzu viele Probleme mit der Leserlichkeit der Bestände, was es mir ermöglichte, mehr Text in der Zeit, die wir innerhalb des Semesters hatten, zu durchforsten, und noch mehr zu recherchieren.

Während dieser Recherche sind mir viele Aspekte aufgefallen, die ebenfalls Sichtbarkeit verdient hätten, welche ich mit meiner Arbeit für das Leben von Antonie Baumberg zu erlangen versuchte. Einer dieser Punkte ist die Art, wie über Baumbergs mögliche Gründe berichtet wurde, weshalb sie ihrem Leben ein Ende bereitet hat. Mehrfach werden die Worte „schwere Frauenleiden“ erwähnt, an denen Baumberg nach Aussagen von Freunden und Arbeitskolleg*innen schon lange Zeit vor ihrem Tod gelitten haben soll. (1) Häufig ist der Begriff verbunden mit dem der angeblichen „Hysterie“, ein zeitgenössischer Sammelbegriff um 1900 für vermeintliche, mehrheitlich Frauen zugeschriebene Krankheiten. (2) Während nur vage über Baumbergs mentale und physische Gesundheit berichtet wurde, wurde über ihr Ableben selbst detailliert geschrieben.

Hier stieß ich auch zum ersten und einzigen Mal auf größere Probleme, Informationen auszusortieren, deren Fernbleiben aus dem Artikel ich nicht vollständig objektiv, sondern nur durch subjektive Wahrnehmung erklären könnte. Baumbergs Selbstmord, ein unausweichlicher Punkt in ihrem kurzen Leben, über den auch ich berichten muss, um ihrer gesamten Biografie gerecht zu werden, wurde so detailreich in Zeitungen beschrieben, dass ich es bei der Lektüre als zu viel empfand, um es niederzuschreiben. Es wurden Details erwähnt, die in heutigen Artikeln in Zeitungen so nicht auffindbar wären, zu sensibel die Informationen und vermutlich zu nah an einem Punkt, der den sensiblen Umgang verletzen würde, den jede/r auch nach dem Tod verdient. Dabei gibt es verschiedenste Ansätze, in welcher Art mit sensiblen Inhalten umzugehen ist. Insbesondere mit dem Thema „Tod“ wurde historisch und kulturell verschieden umgegangen, er ist ein individuelles, wie ein kollektives Thema von Gemeinschaften und Gesellschaften. Er kann privat oder öffentlich verhandelt werden, wobei mir scheint, dass momentan der Tod als eher privates (individuell zu bewältigendes) Thema verstanden wird.

Diese Überlegung betraf auch das Wien Geschichte Wiki und die Frage, wie ich dort über den Tod Antonie Baumbergs berichten könne. Denn obwohl ich viel im Archiv gefunden und niedergeschrieben habe: Das Wien Geschichte Wiki bildet das Archiv nicht 1:1 ab, es ist auch nicht ausschließlich Zusammenfassung eines Archivbestands, sondern es bezeichnet sich als „historische Wissensplattform der Stadt Wien“. (3) Dass dies der Fall ist, habe ich vor allem realisiert, als ich die überarbeitete Version meiner Ergebnisse zur finalen Überarbeitung auf der Wien Geschichte Wiki-Plattform hochgeladen habe. Vieles wurde von der Redaktion der Plattform wieder gestrichen oder neu formuliert. Auch viele von meinerseits gekürzten Zeitungsartikeln waren immer noch zu viel (etwa, das Thema der vermeintlichen „Frauenleiden“). Man kann dieses Kürzen unter verschiedenen Standpunkten betrachten. Zum einen beschönigt es die Realität, die Baumberg erlebt hat, weshalb ich zunächst kein Verständnis dafür aufbringen konnte, wieso diese Passagen im finalen Artikel entfernt wurden. Wie sensibel kann man mit Informationen umgehen, bevor man sie auslassen muss? Steuert dies zu Falschinformationen bei, wenn man etwas so stark aus einem Text herauslässt, dass kaum oder keine Rückschlüsse gezogen werden können, wenn darüber nachgedacht wird?

Auf der anderen Seite waren es vermutlich doch zu viele nicht wichtige und vor allem zu sensible Informationen für eine lexikalische Plattform, wie sie das Wien Geschichte Wiki ist. Und so dachte ich auch darüber nach, was ich selbst ausgelassen hatte, als ich ihre Biographie niedergeschrieben habe (etwa, Fundort, Zeugenaussagen, Polizeiprotokolle). Alles Punkte, die ihre Würde meiner eigenen Meinung nach beflecken würden und welche die Aufmerksamkeit mehr auf ihren Tod als auf das lenken würde, welcher der Grund war diese Recherchearbeit überhaupt zu beginnen: ihr Leben und ihr Schaffen. Eines ihrer Werke – Das Kind –, ein Theaterstück, das weitaus progressiver mit seinen Aussagen über Familie und Frauenrechte war, als ich es anfangs vermutet hätte, und das ich durch das Vorhandensein in der Wienbibliothek im Rathaus komplett gelesen und zusammengefasst habe, geriet selbst in meinem Kopf in kurzzeitige Vergessenheit durch die schiere Informationswelle über Baumbergs Ableben.

Mir ist jetzt bewusster denn je, dass es deutlich schwieriger ist als es zunächst erscheint, sensibel mit Informationen umzugehen, ohne das Hauptaugenmerk aus den Augen zu verliegen – beim gleichzeitigen Versuch, keine wichtigen Details auszulassen, die (zunächst und ohne Distanz) zu den Materialien ebenso zentral erscheinen. Am Ende des Tages scheint es dadurch schier unmöglich, seinen eigenen Rechercheprozess rein objektiv zu bewältigen. Jeder Mensch ist geprägt durch seine Umwelt, seine Erziehung und damit, wie er oder sie mit Informationen umgeht und welche er oder sie als wichtig oder unwichtig, richtig oder falsch und harmlos oder gefährlich wertet. Mit diesem Verständnis werde ich nun versuchen, anders mit Quellen umzugehen, wie ich sie lese und auch, wie ich sie niederschreiben werde.

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(1) Selbstmord der Schriftstellerin Antonie Baumberg, in: Neue Freie Presse, Nr. 13521 16.04.1902, S. 7. (auch gefunden in der Wien Dokumentation der Arbeiterkammer)

(2) Zur Kritik und Erfindung der „Hysterie“ als vermeintlich objektifizierbare Krankheit um 1900: Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Charcot, Fink: Paderborn 1997. Daneben vgl. Wade E. Pickren, Das Psychologiebuch, Kerkdriel: Librero 2016, S. 128.

(3) Wien Geschichte Wiki, Hauptseite, https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Wien_Geschichte_Wiki, abgerufen am 12.02.2024.