Das Boot, das Meer, das Licht, der Kinosaal

Ein Essay von Kaan Okcu über den Film Human Flowers of Flesh (Helena Wittmann, D/F 2022)

Im Film Human Flowers of Flesh ist man die meiste Zeit auf einem Boot. Eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen Ländern und wir segeln im Mittelmeer von Ort zu Ort und vergessen dabei, dass wir uns in einem Kinosaal befinden. Die Regisseurin Helene Wittmann arbeitet als eine Betrachterin der Natur und der Begebenheiten ihres Umfeldes, und baut diese mit einem dokumentarischen Ansatz in den Film ein. Sie drückt den Dingen die sie aufnimmt wenig Kontext auf, da sie meist von sich aus schon eine Geschichte erzählen: “you realize that it’s all there and it’s telling a story, or many stories, or history.”Während die Erzählung im Hintergrund bleibt, verführen uns die Bilder in eine Welt, die wir zu kennen scheinen. Wir fühlen uns sehr nah am Geschehen, was auch durch die meist naturalistischen Kamera-Einstellungen zustande kommt. Es wurde erwähnt, dass der Film sich anfühlt wie eine Erinnerung, auch wenn man nie auf einem Segelschiff im Mittelmeer gewesen war. “I have the feeling that we all have a certain personal connection with the sea.” Diese Verbindung räsoniert in unseren Gedanken als ein nostalgisches Sehnen nach dem Meer und nach Freiheit.

Besonders auf dem Boot fühlt man sich den Personen und dem Gezeigten sehr nah. Einerseits, da das Boot ein sehr limitierter Raum ist, wo sich jeder ständig auf den Fersen ist und andererseits wegen der Kamera-Arbeit und dem Framing. In fast jeder Szene macht uns der Film bewusst, dass wir uns auf einem Boot befinden, dass wir uns ständig bewegen. Die Kamera selber bewegt sich in den meisten Szenen auf dem Boot kaum, stattdessen macht das Boot die Arbeit, da es durch das Meer in Bewegung gesetzt wird, bewegt sich auch das Bild. Das Boot bestimmt somit die Ästhetik des Films und die Wirkung die es auf uns hat.  Das Meer spielt dabei eine wichtige Rolle, da es uns dieser Bewegung bewusst macht. Einmal ist das Meer im Bild dann wieder nicht, also ein Kommen und Gehen, ein Rauf und Runter in einer hypnotischen hin und her Bewegung. Wenn das Boot vorwärts segelt und somit auch die Kamera, ist das Meer sowie der Wind und ihr Verhältnis zum Boot dabei bestimmend. Das Meer, das an uns vorbei fließt, sowie der Wind der sich in den Segeln verfängt, oder die Haare der Besatzung fliegen lässt, zeigen uns wie das Boot zielstrebig in eine Richtung segelt. Alles zieht an uns vorbei während wir unsere scheinbar statische Position auf dem Boot einhalten und die Bilder genießen.

„Toujour en movement“

Wenn das Boot und wir dann doch einmal zu Ruh kommen, das Meer nicht im Bild ist und auch der Wind stillsteht, dann wird uns das Licht gezeigt. Und diesmal ist das Licht an der Reihe uns auf die sanften Bewegungen des Bootes auf dem Meer aufmerksam zu machen. Wir befinden uns im Inneren des Bootes – kein Wind, kein Meer in Sicht – dafür ein Fenster aus dem wir nicht hinausschauen können. Was wir im Bild sehen ist Licht, das aus dem Fenster hinein strömt und sich auf der Wand auf und ab bewegt. Im Bild bewegt sich das Licht, nicht das Boot und auch nicht die Kamera und doch bedeutet das für uns, dass das Boot im Meer schwenkt. Noch anschaulicher wird das in einer anderen Szene durch den Mond gemacht.

Ein glasklarer Abend und ein strahlend weißer Vollmond, während wir im Vordergrund  eine auf dem Boot sitzende in einem weißen Tuch eingehüllte Frau sehen, die den Rücken zu uns gedreht mit uns den Mond bewundert. Doch der Mond ist kein einfacher Mond. Wir beobachten nämlich wie er das Bild langsam von links nach rechts durchwandert.

Aber eigentlich dreht sich einfach das Boot im Kreis. Licht und Schatten kommen im Film sehr oft zum Einsatz um die Hin-und-her-Bewegung auf dem Boot ersichtlich zu machen. Auch werden am Tag die Schatten der im Film gesammelten Meerespflanzen sichtbar gemacht, welche ebenfalls in ständiger Bewegung sind. Auch Menschen wird diese fluide Bewegung zugeschrieben, als wir sehen wie sie in den Hängematten während sie schlafen hin und her schwingen. “Everything is in a state of flux, including human beings.” Bei der Darstellung von Bewegung spielt auch der Ton eine wichtige Rolle. Der Ton ist das Element, dass immer präsent ist und auf welches wir immer zählen können. Der Ton gibt dem Meer, dem Wind und dem Licht den benötigten Kontext, um festzustellen, ob wir uns im stillen oder gereizten Meer, ob auf einem Boot, dass stillsteht oder vom Wind gezogen wird, befinden.

 All diese Komponenten sind miteinander verbunden und verweisen in unterschiedlichen Beziehungen zueinander auf Bewegung. “Through Human Flowers of Flesh I understood that everything was fluid and interconnected and that borders do not really exist.” Diese Idee der Fluidität und Grenzenlosigkeit begleitet die Filmtheorie schon seit den Anfängen der Filmgeschichte und auch in diesem Film wird das Ineinanderfließen der einzelnen Komponenten durch die Art des Filmemachens verstärkt. Diese Idee kommt besonders dann in den Vordergrund, als die Regisseurin sich entscheidet mikroskopische Aufnahmen (von irgendwelchen Zellen, die sich teilen oder so) über den Film zu legen, während im Hintergrund noch Szenen von der Crew auf dem Boot laufen. Damit will Helene Wittmann vielleicht die Gleichzeitigkeit von Mikro- und Makroskopischem und Vergänglichkeit und ständige Bewegung und Veränderung und dass alles irgendwie miteinander verbunden ist auf die Leinwand bringen.

Auch die Grenze zwischen Fiktion, Diegese und Dokumentation ist im Film sehr verschwommen. Besonders wenn man das Boot in Betracht zieht, sieht man, dass in vielerlei Hinsicht die Diegese mit dem Dokumentarischen zusammen fließt. Nicht nur diegetisch führt das Boot die Besatzung von einem Ort zum Anderen sondern auch außerhalb der Film-Narrative. 13 Tage war die Crew zusammen auf dem Boot gereist. Nicht nur im Film haben sie sich näher kennengelernt, sondern wurden auch außerhalb des Films, im limitierten Raum des Bootes, zu einer Familie. Das miteinander Leben, schlafen, kennenlernen, reden, Haare schneiden, sich um das Boot kümmern, es putzen, die Segel spannen, all diese Aspekte wurden filmisch aufgenommen – ob fiktiv oder dokumentativ – und wurden ein Teil vom Film und ein Teil der Diegese.

Man kann die Crew und das Boot auch in gewisser Weise mit den ZuschauerInnen und dem Kinosaal gleichsetzten. Beides sind begrenzte Räume, die Menschen aus verschiedenen Ländern und Herkünften zusammen bringen und in andere Welten verführen. Auch im engen Raum des Kinosaals ist man ständig von Menschen umgeben und träumt zusammen und lacht zusammen oder teilweise sogar schläft man zusammen. Was nochmal den Vergleich zwischen der Crew und dem Publikum unterstreicht ist, dass auf beiden Seiten viel geschlafen wurde. Viele der Szenen auf dem Boot verbringen wir damit, der Besatzung zu zuschauen, wie sie schlafen und manche aus dem Publikum schlafen dabei sogar mit ihnen. Man könnte meinen das untermauert die hypnotische Wirkung, die der Film mit sich bringt.

Mich hat es sehr fasziniert, wie das Boot filmisch eingesetzt wurde und wie ihr Verhältnis zum Meer, zum Wind und zum Licht durch den Film ermittelt wurde. Helene Wittmann hat diese Wirklichkeit mit einem surrealen Unterton sehr schön in Szene gesetzt. Auch durch meine eigenen Erfahrung habe ich bemerkt das Boote sehr mit der eigenen Vorstellung von Realität spielen können, oder anders gesagt: dass auf dem Boot eine andere Realität vorherrscht, die wenn man wieder auf Land Fuß fasst noch immer mit einem Schwindelgefühl nachhallt. Auch wenn man aus dem Kino heraustritt, brechen die Bilder einer anderen Realität als Wellen der Erinnerung im Kopf.