Magisches Denken und Kunst als Heilmittel in Point and Line to Plane
(von Anja Tomas)
Wenn wir sterben, ist dann wirklich für immer alles von uns von dieser Welt verschwunden? Sind wir ausgelöscht oder bleibt etwas von uns übrig, das nicht nur in den Erinnerungen von denen, die uns kannten, weiterlebt? Verweilt etwas von unserer Seele auf wundersame Weise im Universum und zeigt sich durch kleine Phänomene denen, die wir liebten? Es sind Fragen, die der kanadischen Filmemacherin Sofia Bohdanowicz nach dem Verlust eines geliebten Freundes offensichtlich im Kopf umherschwirrten. In ihrem 2020 erschienenen Kurzfilm Point and Line to Plane dokumentiert sie die Phase ihrer Trauer und zeichnet einen sehr persönlichen Weg der Heilung, der ihr durch den Glauben an jenes Phänomen erleichtert wird.
Ihr in 16mm gedrehter Film offenbart Geschichten, Empfindungen und Überlegungen der Regisseurin, die um den Tod ihres Freundes Giacomo zirkulieren. Eine Darstellerin (Deragh Campbell) fungiert dabei als ihr Alter Ego, Hauptfigur und Erzählerin. Im Film sieht man die Schauspielerin nie sprechen, doch aus dem Off erzählt ihre melancholische, ruhige Stimme Stück für Stück die Anekdoten, Tatsachen und Zufälle, die Bohdanowicz widerfuhren und sie zum Schaffen dieses Films bewegten. Dabei wechselt sie zwischen Gegenwart und Vergangenheit, folgt keiner Chronologie, sondern Assoziationen. Es wirkt als würde Campbell aus dem Tagebuch der Regisseurin vorlesen. Demzufolge sind die Erzählungen zutiefst emotional und intim. Kleine Notizen, wie die Erwähnung der zunehmenden Screentime vor dem das Iphone seine Besitzerin warnt, machen ihre suggerierte Depression schmerzlich greifbar.
Wir folgen den Erzählungen der Protagonistin durch Kanada über das Guggenheim Museum in New York zur Eremitage in Sankt Petersburg. Die Filmemacherin verwendet dabei Archivmaterial ihrer eigenen Museumsbesuche. Kunst kristallisiert sich schnell als sehr zentrales Thema heraus. Googelt man den Filmtitel, stößt man sofort auf seinen Namensgeber: Der russische expressionistische Künstler Wassily Kandinsky veröffentlichte 1926 nicht nur einen gleichnamigen Essay, sondern spielt auch eine eindeutige Rolle. Er ist es auch, dem die ersten Worte überlassen werden. So öffnet der Film mit einem Zitat Kandinskys:
„Every phenomenon can be experienced in two ways. These two ways are not arbitrary, but are bound up with the phenomenon – developing out of its nature and characteristics: externally – or inwardly.“
Mit plane meint Kandinsky die Oberflächen, die Ebenen mit denen Künstler*innen arbeiten. Den Punkt (point) versteht er als alle malerischen Formen und Farben. Sie sind Kräfte und Gegenkräfte, Ruhe und Bewegung. Je nachdem wo diese Punkte platziert werden, treten sie mit anderen Punkten auf der Ebene in Resonanz. Linien (line) sind Erweiterungen dieser Spannungen zwischen Punkten, die gerade, gebogen oder verwinkelt wiederum neue Beziehungen zwischen den Punkten herstellen können. Die Regisseurin geht vor, wie es Kandinsky beschrieb. Mit ihren Erzählungen aus der Vergangenheit und Gegenwart setzt sie Punkte, die sich mal eindeutig, dann wieder über Umwege, die die Linien nehmen, verbinden. Sie erklärt, wie sie beim Lesen über Mozart zufällig bemerkte, dass ihr geliebter Freund am Geburtstag des Komponisten starb. Als sie von seinem Tod erfuhr, war sie gerade in Wien, wo sie ununterbrochen mit Mozart konfrontiert wurde. Die Protagonistin schneidet eine Mozartkugel entzwei und der Querschnitt ist fast ident mit einem Kunstwerk des Nachbarn, der sehr ähnlich wie Hilma af Klint malte und wiederum am Geburtstag jener Künstlerin starb. Immer wieder lässt sich ein Ereignis oder ein Gegenstand neu mit einem anderen Punkt verbinden. Diese Analogien werden visuell mit Fotografien und Filmmaterial von Reisen der Regisseurin verdeutlicht. Die Zufälle häufen sich, sodass man sich kaum mehr traut eine Art übernatürliches Muster, das sich abzeichnet, auszuschließen. Doch ist es wahrscheinlich vor allem die Suche nach ebendiesen Zeichen, mit denen die Trauernde versucht die Leere zu füllen.
Die Faszination der Regisseurin mit dem „Magischen Denken“ ist in diesem Film von großer Bedeutung. In der Psychologie erklärt man es als die Annahme, dass Gedanken, Aussagen oder Handlungen auf damit nicht verbundene Ereignisse Einfluss nehmen können, beziehungsweise sogar Ereignisse hervorrufen oder verhindern können. Das Buch A Year of Magical Thinking, in dem sich die Autorin Joan Didions ebenfalls mit Trauer beschäftigt, bestätigte Bohdanowicz laut eigenen Aussagen. Das Wahrhaben der Tatsache, dass eine geliebte Person für immer fort ist, ist ein langwieriger Prozess. Das Bewegen zwischen Erinnerungen und Suchen nach Zeichen, Zufällen und Bedeutungen ist ein natürlicher, wichtiger Teil des Trauerprozesses. „Damit der Tod eines Menschen rationalisiert werden kann, sucht das Gehirn nach Gründen, damit man ihn loslassen kann.“, so die Regisseurin in einem Interview. Ihr Film macht diesen Prozess wahrscheinlich so deutlich, wie es nichts, was ich davor gesehen oder gelesen habe, vermochte. Statt vielen Worten und Tränen, die die Trauer um den verlorenen Freund beschreiben sollen, ist es eben diese magische Zeitreise im Kopf, die trotz ihrer Sprünge eine fließende, klare Narration bildet, die die Thematik so real und nahbar machen und mich zutiefst berührt haben. Das surreale Schwirren zwischen Verwirrung und vollkommener Klarheit wird zudem durch das sanfte color-grading untermalt. Viele Szenen wurden in einem vollkommen weißen Raum gedreht. Die Leere, die die Protagonistin verspüren muss, scheint ihr Universum geworden zu sein. Sie wirkt oft verloren und doch sind es eben diese blanken Umgebungen, oder Flächen, wie Kandinsky sagen würde, die die mystische Kraft der magischen Gedanken vollkommen zu machen scheinen. Ein summendes Störgeräusch kann auf der Tonspur ausgemacht werden. Es ist, als wäre die Bewegung der Punkte, die sich nach und nach miteinander verbinden, Linien und dynamische Flächen bilden, zunehmend hörbar.
Die Spiritualität die im Film mitschwingt, wird von einem weiteren wichtigen Namen, der sich wiederum mit mehreren Punkten zu Bedeutungslinien verbinden lässt, aufgefangen und weitergeführt. Im Guggenheim Museum schaute sich die Regisseurin eine Ausstellung der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint an. Wie Giacomo, wurde af Klints Schwester viel zu früh aus dem Leben gerissen. Nach diesem Verlust beschäftigte sich die Künstlerin zunehmend mit Spiritismus und nahm an Séancen teil, fungierte später sogar selbst als Medium. Sie gilt daher nicht nur als Pionierin der abstrakten, sondern auch der mystischen Kunst. Theosophischer Okkultismus inspirierte sie und sie war davon überzeugt, dass die Seelen der Menschen mit dem Tod nicht automatisch aus der irdischen Welt gelöscht sind. Für mich spielt dieser Gedanke deutlich in die Stimmung des Filmes. Das Geisterhafte dringt besonders in einer Erzählung, in der die Protagonistin auf das Haus einer Bekannten aufpasst, durch: Nachdem die vom Trauern Erschöpfte endlich Schlaf gefunden hat, wird sie plötzlich von einem Geräusch geweckt. Ein Bild, das eigentlich sicher und fest an seinem Platz stand, war zu Boden gefallen, das Glas zersprungen. Dass ausgerechnet ein Kandinsky Motiv darauf abgebildet ist, lässt einen als Zuschauer*in schaudern. Doch weder Schauspielerin noch Erzählerinnenstimme zeigen Sorge oder Verängstigung, als würden sie es besser wissen. Wenn es durch Geisterhand passiert war, war es wohl Giacomo, der auf sich aufmerksam machen wollte, und sie aus dem Jenseits grüßen wollte.
Die abstrakte Malerei ist für Sofia Bohdanowicz eine besonders spirituelle und sensible Kunstform und spielt eine sehr zentrale Rolle in diesem Werk. Kunst kann für sie als Raum in dem sich die innere Erfahrung und die Tortur des Verlustes treffen fungieren. So fühlt es sich an, als wären es eben diese Erinnerungen, die die Kunstwerke in ihr wecken und die Empfindungen die sie dabei auslösen, die Giacomo für sie für immer am Leben halten werden. Die Regisseurin versucht in ihrem Film wie Hilma af Klint und Kandinsky in ihren Kunstwerken das Unsichtbare sichtbar zu machen. Ob nun wirklich etwas von unserer Seele auf der Welt übrigbleibt oder nicht, ist wohl eine Frage, die keine Wissenschaft hundertprozentig sicher bestätigen oder widerlegen kann. Bohdanowicz untermalt für mich mit dem Film, wie allein das Akzeptieren der Gedankenreise Trauerarbeit auf gewisse Art und Weise zu einem kreativen Prozess werden lassen kann. Ob Botschaften aus dem Jenseits oder wirklich nur ganz banale Zufälle, Point and Line to Plane vermittelt meiner Meinung nach, dass das Glauben daran uns Last von den Schultern nehmen kann.
Der Film schafft genau das, was Kandinskys Grundthese in Point and Line to Plane ist. Nämlich, mit verschiedenen Konstellationen von Punkten, Linien, Flächen unterschiedliche emotionale Wirkungen auf Betrachter*innen auszuüben.
„So wie ein Entdecker tief in neue und unbekannte Länder eindringt, macht er Entdeckungen im Alltag, und die einst stumme Umgebung beginnt, eine Sprache zu sprechen, die immer deutlicher wird. Auf diese Weise verwandeln sich die Leblosen in lebende Symbole und die Toten sind wiederbelebt.“
schrieb Kandinsky, und ich denke, dass Sofia Bohdanowicz genau das mit ihrem Film gemacht und geschafft hat.