Domovine

Kein Schnee von gestern. Die Revolution ist weiblich. Recherchen und Narrative.
(von Sabino Prinsloo)

Vienna, October 26th, 2020 (Hail to Google and them all!).
Am Nationalfeiertag hat Google österreichisch Rot-Weiß geflaggt.

Agios Anthanassios (Florina), Ort im Regionalbezirk Forina, Region Westmakedonien/ Griechenland am Berg Verno, eines von 24 griechischen Wintersportgebieten (196 Pisten- kilometer, 221 Skilifte).1
Österreich: 435 Skigebiete (tausende Pistenkilometer, tausende Lifte, Gondeln).2

Vigla Pisoderi/Verno-Florina, 11,1 km Pisten (davon leicht 4,5 km, mittel 5,6 km, schwer 1km), 5 Lifte (2 Sessellifte, 1 Tellerlift, 2 Seillifte/Babylifte). Wintersportgebiet liegt auf 1.650 bis 2000m Höhe.

Verno-Florina, Skigebiet an der Grenze zu Nordmazedonien (Bewertung: 2,7 von 5 Sternen). Entfernung zur albanischen und zur ehemals jugoslawischen Grenze: etwa 50 km.3

Kaymakchalan, 2.521 Meter, griechisches Voras-Gebirge an der Grenze zu Nordmazedonien.4

Großer Prespasee, Dreiländereck, Nordmazedonien, Albanien, Griechenland, Fläche 273 qkm, 34 km lang, 10 km breit, maximale Wassertiefe 54m, 849 m über dem Meeresspiegel, maximale Tiefe 54 m, schützenswerte Feuchtgebiete. Kleiner Prespasee. “A unique Balkan wetland.”5 (Diesen Drehort wählt Jelena Maksimović für Jelena Angelovskis “final oration”6, die u. a. folgendermaßen lauten wird: “Trees and forests know that resources have to be nourishes and shared justly”7)!

Erste Takes zeigen eine junge blonde Frau im Portrait unterwegs in einem weißen Kleinwagen an einem grauem, nassen, dämmerigen Winternachmittag in Richtung hoher, schneebedeckter Berge. Ein Herzschmerz-Popsong läuft im Autoradio. Sie weint und teilt eine Nachricht. Sie kommt am Ziel an: ein schmucker Ort am hohen Bergmassiv, neue, solide Häuser aus dem Gestein der Gegend. Gneis. Schiefer. Ausgestorbene Dorfstraßen. Wind und Hundegebell.
Später in der hybriden Doku-Fiction: Sie, Schauspielerin Jelena Angelovski, das Alter Ego der Regisseurin und Drehbuchautorin Jelena Maksimović, eignet sich ein verfallenes Haus mit Zierbalkon und großem Garten an, stellvertretend für das Haus der einst exilierten Großeltern von Jelena Maksimović. Drinnen zurückgelassenes Bettzeug. Draußen der Garten in desolatem Zustand.
Die Protagonistin rodet das meterhohe Unkraut geduldig mit Hammer und Sichel, den Metaphern des Kommunismus. Sie pflanzt einen Lebensbaum (Thuja occidentalis, immergrünes Gewächs, findet auf Friedhöfen Verwendung, den Toten zum Gedenken), ein Symbol für die kosmische Ordnung. Er steht als axis mundi im Zentrum der Welt. Er verbindet Himmel, Erde und Unterwelt.

Magere Kühe an steilen verdorrten Gebirgswiesen. Schafe im Schatten von Olivenbäumen. Vereinzelt treten Ansässige vor die Kamera. Fremde. Sie seien auch nicht von dort, sagen sie.
Das Filmteam muss öfter hergefahren sein aus Serbien. Oder länger vor Ort geblieben sein, zu verschiedenen Jahreszeiten, zwecks Annäherung- und Aneignungsversuch an die Vergangenheiten.
Weitere (stereotype) auditive und visuelle Vergangenheitspuren verdichten sich: Rembetiko wird unterlegt, Zeibekiko9, „der Tanz der Einsamkeit“, auch bekannt als Tanz der Männer und der Krieger wird im 9/8 Takt zelebriert. Griechischer Blues pur. „Der Rembetiko ist Teil unserer Identität. Es ist das soziale Gedächtnis Griechenlands,10 sagt einer, der es angeblich weiß, auf Wikipedia.
Vergangenheit in der Gegenwart. Welche Domovine-Erinnerungsnarrative haben die erzwungene Emigration der Großmutter geprägt? Mitten im dichten Nebel am Kaymakchalan gelingt dem Snowboardlehrer Unerwartetes. Die serbische Schülerin gewinnt mit seiner Hilfe im Nebel Vertrauen in ihren Körper. Danach machen beide ein Schläfchen bei schlechtestem Wetter im Sonnenstuhl und mit schlafendem Hütehund.

Ein kommunistisches Kampflied erweitert die historischen Setzungen des Films. Ich erkenne die Stimme von Mikos Theodorakis. Mitglied der EAM11. Immer wieder verhaftet. Schwerstens gefoltert. Eingekerkert und verbannt. Er komponierte patriotische Lieder für die PAM12. Weltbekannter griechischer Aktivist (Jahrgang 1924). Extremer Idealist. Europa/Griechenland hatte keinen Che Guevara. Es hatte stattdessen Mikos Theodorakis´ Musik und den Film Alexis Sorbas (142 Minuten, Regie Michael Cacoyannis, 1964). 1974 dann endlich der Sturz der griechischen Militärdiktatur. Weiterhin: die Interessen der Großmächte, die Interessen der Politikerfamilien Papandreos, Mitsotakis, Karamanlis, der Reederclans Onassis, Niarchos, des Westens und des Ostens.

Der Kameramann arbeitet mit langen, stabilen Einstellungen, Landschaften unter Frost, Sommerlandschaften, auf der Suche nach Übereinstimmungen zwischen Erinnerungsbildern und den neuen Realitäten. Die Over-the-Shoulder-Perspektive ist das Mittel der Suche in Richtung Vergangenheit. Des ruhigen Schwenks scannen bewusst die Gegend, die Auskünfte geben könnte. Die Panoramaaufnahmen halten den Fokus, sie verlieren sich nicht in der Weite der Landschaft. Jelena Maksimović trachtet nach Erkenntnis.

Historisches Schwarzweiß-Material wird einmontiert. Es handelt sich vermutlich um Propagandamaterial der kommunistischen ELAS13 aus dem Zweiten Weltkrieg, die im Widerstand gegen die Besetzung Griechenlands durch Hitlerdeutschland kämpfte: Blutjunge. strahlend-selbstsichere, umsichtige Partisanenkämpfer führen Frauen, Männer und Kinder allen Alters über steile Saumpfade, hinaus aus den umkämpften Zonen. Sie verteilen Brot und Wasser. Tragen (hingebungsvoll) erschöpfte Kinder. Unterliegt ihre Selbstlosigkeit dem politischen Kalkül ihrer Vorgesetzten?

In einem Interview begründet die Regisseurin Jelena Maksimović ihre Motivation für das Projekt Domovine: “I had to make a film which somehow connects my own feelings towards my own country which doesn`t exist anymore (Yugoslavia) and her country which she wasn`t allowed to enter anymore.” 14 Die Großmutter von Jelena Maksimović muss zur Zeit des Griechischen Bürgerkrieges irgendwann zwischen 1946-1949 ihr Dorf zwangsweise verlassen, da ihr Mann in der Kommunistischen Partei Griechenlands aktiv ist.

Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen gleichzeitig der Kalte Krieg und der Griechische Bürgerkrieg. Die Westlichen Alliierten nehmen Partei für die konservativen, monarchischen, militaristischen Kräfte. Das Land ist inzwischen umzingelt vom sowjetischen Einflussgebiet. Die Lage des Landes ist von höchster strategischer Bedeutung. Deshalb beschließt der Westen unter der Führung der Briten und der Amerikaner die Zerschlagung der kommunistischen Bewegung in Hellas und installiert Monarchie und Militärdiktatur im Land der Erfinder der (attischen) Demokratie um 500 vor Christus.

Die gewaltätige Gemenge- und Interessenlage zwischen den global konkurrierenden Akteuren am Ende des Zweiten Weltenbrandes erläutert der Spiegel-Journalist Siegfried Kogelfranz in einem Artikel Anfang 1985.15

„Die Zahl der Soldaten stieg auf 168 000 plus 40 000 Nationalgardisten, denen maximal 25 000 Partisanen gegenüberstanden. Die regulären Streitkräfte griffen die Guerilla in ihren Bergen an.“

„Die rettete oft nur schnelle Flucht über die Grenze nach Albanien oder Jugoslawien. Aber auch sie konnten immer noch Terror verbreiten: Im 1. Mai 1948 ermordete ein Kommunist Justizminister Ladas.“

„Der Gegenterror der Regierung nahm darauf Ausmaße an, daß selbst Briten und Amerikaner erschrocken bei ihren hellenischen Zauberlehrlingen protestierten: Allein vom 4. bis 9. Mai wurden 61 Kommunisten als „Mörder“ exekutiert. Allein auf der berüchtigten KZ-Insel Makronissos waren 15 000 junge Griechen interniert, von denen die meisten nach einer Gehirnwäsche in die Armee gepreßt wurden. 1948 stieg die Zahl der Hingerichteten auf über 1500.“

„Die kommunistische Seite revanchierte sich mit einer Aktion, die zu einem der grausamsten Kapitel des an Unmenschlichkeiten auf beiden Seiten reichen griechischen Bürgerkrieges wurde: der „paedomasoma“, wörtlich dem „Einsammeln von Kindern“.

„Nach einer Vereinbarung der griechischen Kommunisten mit ihren Balkan-Genossen sollten alle Kinder zwischen drei und 14 Jahren aus den „befreiten“ Gebieten in die benachbarten „Volksdemokratien“ gebracht werden, angeblich, um sie vor den Gräueln der „Monarchofaschisten“ zu schützen.“

„In Wahrheit dienten die Kinder als Geiseln für die Loyalität ihrer zurückbleibenden Eltern und als mögliche Kader für ein künftiges kommunistisches Griechenland. 28 000 hellenische Kinder verschwanden in einem Jahr hinter dem Eisernen Vorhang, wuchsen dort auf, viele sahen die Heimat nie wieder.“

„Und da sich die Griechen in ihrem mörderischen Bruderkrieg nie etwas schuldig blieben, antwortete die Rechte mit ähnlicher Unmenschlichkeit. Auch sie deportierte Hunderttausende Landsleute aus den umkämpften Gebieten, natürlich auch, um sie zu „schützen“, sammelte „verlassene“ Kinder ein, um sie auf rechte Weise zu erziehen.“

Vielleicht hat sich Jelena Maksimović außer mit der Mythenbildung der Vergangenheiten auch mit griechischer und weltpolitischer Geschichte zwischen 1946 und 1949 beschäftigt. Und möglicherweise kennt sie die heftigen Kontroversen über das Buch Eleni (1983), den Film Eleni, den Musik-Hit Eleni? Der im hegemonialen Diskurs damals hochgelobte, einseitig-autobiographische, antikommunistische Bestseller Eleni von Nicholas Gage ist für den linken Schriftsteller Eleftherios Papadopoulos nichts als „verlogener Geifer auf die Gräber der Opfer des Bürgerkrieges“.16 Der Film Eleni (1985) mit John Malkovich (!!) als Nicolas Nick Gage (!!) emotionalisiert sein Publikum gekonnt unter Verwendung des hegemonial antikommunistischen Narrativs der Geschichte. War sich der amerikanische Hauptdarsteller John Malkovich seiner Mitverantwortung an diesem Machwerk voller Geschichtsfälschungen bewusst?

Eleni, das manipulative Liebeslied zum Film, war die erfolgreichste Komposition der niederländischen Musiker Cees und Thomas Tol. Haben die Brüder den Spiegelartikel von Siegfried Kogelfranz „Genosse, wir wollen Euch erledigen“ (1985) überhaupt je zur Kenntnis genommen?

Ist es – und wenn ja wie – den nachgeborenen Griech*innen, Albaner*innen, Ex- Jugoslaw*innen, Mazedonier*innen innerhalb der letzten 70 Jahren trotzdem gelungen, die gegenseitig verübten Gewalttaten im Griechischen Bürgerkrieges zu bewältigen? Konnten sie die Folgen ihrer zweifach erzwungenen Umsiedlung verkrafteten und vergeben?
Wie bewältigt Jelena Maksimović individuelles Schicksal in Domovine?
In Afrika wurden nach Genoziden offiziell Wahrheitskommissionen eingesetzt. Der Internationale Gerichtshof verhandelt Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Allierten inszenierten die Nürnberger Prozesse, die Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erkämpfte die Auschwitz-Prozesse.

Jelena Maksimović sagt, sie wolle in Domovine „sweet revenge” on agents of “patrimony (and) capitalists who have wreaked ruin in the world”17 üben.
Als Ort für ihren privaten Showdown, für ihr Self-Empowerment und gegen die Repräsentanten des väterlichen Erbes und des Kapitals wählt sie die schlammigen Ufer der Prespaschen Wetlands im real existierenden Nationalpark gleichen Namens in der griechischen Ex-Heimat der Großmutter.
Jelena Maksimović katapultiert eine Meta-Ebene als strategischen Ausgangspunkt ihrer Agenda auf die Leinwand. Es handelt sich um eine bild- und wortstarke Antwort auf die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit der Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft. Die Filmemacherin geht kraftstrotzend auf die Barrikaden.
Sie treibt ihr schutzloses – weil (bewusst) erwartungslos gemachtes Publikum – überfallartig und leidenschaftlich in einen emotionalen Ausnahmezustand. Sie inszeniert eine biblisch- epische Wiedergeburt: Die schweigsame Heldin entwindet sich den fruchtbaren Urschlämmen und den herrlichen blauen Wassern der unberührten Seen des Naturschutzgebietes. Eindrucksvoll konstruiert sie diese re-konstruierte, symbolische Erhebung des Säugetieres Mensch aus dem Wasser, das als Ursprungsort allen Lebens gilt, und leitet damit ihre private Emanzipation als Selbst-Befreiung und Selbst-Ermächtigung aus dem Morast der eigenen Befindlichkeiten und der von eigenen Interessen geleiteten falschen Zeitendeuter*innen ein.

Sie überbringt ihr programmatisch-politisch-poetisches Selbst-und-Welt-Befreiungs-Manifest in überzeugender Ästhetik und mit deutlichen Worten sinngemäß: Nutze die Kräfte der Urschlämme und kreiere deine eigene Agenda. Insofern kann die persönliche, politische, ökologische, antikapitalistische Conclusio der Regisseurin mit der destruktiven Vergangenheit brechen und einer konstruktiven Zukunft den Weg bahnen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, dem Schicksal ihrer Familie, mit Leid und Liebe adaptiert die Enkelin für ihren ureigensten filmischen (Kampf-)Stil, ihrer filmischen Vision, which is „poetic justice“.

Die kraftvoll poetische Bild-Wort-Komposition, die Jelena Maksimovićs in ihrem finalen Blitzfeldzug für ein Self-Empowerment in Stellung bringt, erinnert mich an das ikonische Barrikadenkampf-Gemälde La liberté guidant le peuple (260x325m), das Eugène Delacroix anlässlich der französischen Junirevolution 1830 schuf.

Die Apfelbäume, die in Domovine (noch) knietief im Wasser stehen und (noch) keine Blüten tragen, werden Früchte tragen, denn die Revolution der Jelena Maksimovićs dekonstruiert die falschen (patriarchalen) Parolen vom alternativlosen neoliberalen Profit- und Konsumdenken: „I refuse“, weil es möglich und nötig ist.

La liberté guidant le peuple. Die Revolution ist weiblich. Sie geht an Land. Fin.

1 https://www.skiresort.at/skigebiet/vigla-pisoderiverno-florina/26.10.2020.
2 https://www.skiresort.de/skigebiete/oesterreich/26.10.2020.
3 https://www.skiresort.at/skigebiet/vigla-pisoderiverno-florina/26.10.2020.
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Prespasee, 26010.2020.
5 Ebd.
6 https://fidmarseille.org/en/entretien-domovine/26.10.2020.
7 Mitschrift am 23.10.2020.
8 https://www.viennale.at/en/film/domovine/26.10.2020.
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Zeibekiko, 26.10.2020.
10 https://de.wikipedia.org/wiki/Rembetiko, 26.10.2020.
11 https://de.wikipedia.org/wiki/ELAS, 26.10.2020.
12 https://de.wikipedia.org/wiki/PAM, 26.10.2020.
13 https://de.wikipedia.org/wiki/ELAS, 26.10.2020.
14 https://fidmarseille.org/en/entretien-domovine/26.10.2020.
15 https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13512314.html., 26.10.2020, ohne Seitenangeben.
16 Ebd.
17 https://fidmarseille.org/en/entretien-domovine/26.10.2020.