Einleitung

von Joachim Schätz

Als die US-Filmemacherin Joan Micklin Silver 2020 starb, war ihre Wiederentdeckung in der US-Filmkultur bereits auf dem Weg: Kino-Retrospektiven, Bluray-Veröffentlichungen und Texte in Filmzeitschriften und akademischen Fachpublikationen reklamieren seit einigen Jahren Regiearbeiten wie das Immigrationsdrama Hester Street (1975), die Ensemblekomödie Between the Lines (1977), die Beziehungsstudie Chilly Scenes of Winter (1979/1982) oder die Rom-Com Crossing Delancey (1987) als wertvolle, eigenwillige Beiträge zu einer Formen- und Emotionsgeschichte des US-Kinos: lose und empathisch, dabei querstehend zum Draufgänger-Ethos des 1970er-New-Hollywood und den High-Concept-Formatierungen des US-Mainstreamkinos der 1980er Jahre.

Was genau Silvers Filme tun, und welche (gesellschaftlichen, filmhistorischen und -ästhetischen) Zusammenhänge sie erhellen, darüber ist aber noch wenig im Detail nachgedacht und geschrieben worden. Diesen Fragen sind Studierende des tfm-Masterstudiengangs im Seminar „Vertrackte Leichtigkeit: die Filmemacherin Joan Micklin Silver zwischen New Hollywood und TV-Movies“ nachgegangen. Die acht in diesem Dossier versammelten Essays geben Einblick in ihre Ergebnisse. Sie erweitern den aktuellen Forschungsstand um neue analytische Beobachtungen, kulturhistorische Kontextualisierungen und methodische Interventionen.

Neben den prominenten Kinofilmen bezieht dieses Dossier auch die – in der filmkulturellen Einschätzung – „minderen“ Formate ein, welche die Regiekarriere nicht nur dieser Frau rahmen: von Silvers frühen Lehrfilmen bis zu den Fernseh-Problemdramen, die sie ab Anfang der 1990er Jahren überwiegend drehte. So nimmt sich Urs Kamber im ersten Beitrag vergleichend zwei Szenen der Immigration in die USA vor: in Silvers Langfilmdebüt Hester Street und in ihrem drei Jahre zuvor entstandenen Lehrfilm The Immigrant Experience (1972). In einen anderen Vergleichszusammenhang stellt Chiara Seidemann Hester Street: Am narrativen Einsatz von Kostümen hier und in Crossing Delancey liest sie Silvers Entwicklung und strategische Selbstpositionierung als Filmemacherin am Anfang und in der Mitte ihrer Karriere ab. Den Beziehungsmodellen in Silvers Kinospielfilmen widmen sich die nächsten beiden Texte: Stefan Rudigier findet in Chilly Scenes of Winter ein ungewöhnlich soziologisch präzises Portrait von Stalking im Kontext kapitalistischer Beziehungskulturen. Jules Költzsch arbeitet in der Zusammenschau dreier Kinospielfilme das verwickelte Verhältnis zwischen Tradition und Moderne in den Beziehungsgeschichten Silvers heraus.

Mit einer Analyse des HBO-Dramas A Private Matter (1992) macht Eva Bauer den Auftakt zur Auseinandersetzung mit Silvers Fernseharbeiten. Die wahre Geschichte der Fernsehmoderatorin Sherri Finkbine, deren Entscheidung zu einer medizinisch empfohlenen Abtreibung 1962 Gegenstand eines Medienskandals wurde, wird dabei Ausgangspunkt einer hochaktuellen Reflexion zur Bild- und Nachrichtenproduktion über das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Silvers Fernsehfilm Invisible Child(1999) – ein Melodrama über die Mutter einer vierköpfigen Familie, die ein drittes Kind dazu imaginiert – wird aus gleich zwei Perspektiven kontextualisiert: als Optik auf den Sender Lifetime und dessen Branding als „Television for Women“ (Anja Hudetz), und als Fallbeispiel für das aktuelle populärkulturelle Vergnügen an ‚schlechten Filmen‘.

Unter anderen Vorzeichen geht es auch im abschließenden Beitrag von Tom Kauth um die filmkulturellen Rahmungen von Silvers Regiearbeiten: Er setzt sich mit der historiografischen Logik des „Wiederentdeckens“ einer „vergessenen Filmemacherin“ auseinander, die er anhand eines Programmtextes des Arthouse-Streamers Mubi für eine Silver-Schau seziert. Kauth unterbreitet Vorschläge für einen Umgang mit Filmgeschichte, der weniger interessiert ist an vorauseilenden Festschreibungen als am neugierigen Abwägen und der Offenheit für überraschende Resonanzen. Die Ergiebigkeit eines solchen Programms belegen alle Beiträge dieses Dossiers.

Herausgegeben von Joachim Schätz