Regie/Konzept: Marina Davydova, Odeon Theater, 26. Mai 2023
When the cry goes silent…
(Anna Momotenko)
Im Mittelpunkt steht die Geschichte. Es ist die Geschichte von Ländern der ehemaligen Sowjetunion und die persönliche Geschichte von Marina Davydova. Marina Davydova – Theaterregisseurin und -kritikerin – hat ihre Erfahrungen als noch junge Frau und Erwachsene, die sie im Zuge der geopolitischen Neuordnungen gemacht hat, in ihrem Theaterstück unter dem Namen Museum of Uncounted Voices zusammengestellt. Theater ist für Davydova in erster Linie eine soziale Einrichtung und unmittelbar mit dem öffentlichen sowiepolitischen Leben verbunden, darum ist es seine Aufgabe, die gesellschaftspolitische Lage zu reflektieren, andernfalls sagt Davydova, hört es auf, Theater zu sein.
Uraufgeführt am 22. Mai 2023 auf der Bühne des Odeon Theaters im Rahmen der Wiener Festwochen versteht sich die Aufführung als eine durch die Besucher*innen belebte Installation in fünf Episoden. Es findet eine imaginäre Reise durch den Museumraum (gestaltet von Zinovy Margolin) in die Geschichte(n) statt, begleitet von einer Erzählerstimme über die Lautsprecher, die selbst außerhalb der Bühne und somit des Museums zu hören ist. Das Bühnenbild besteht aus einer einzigen Dekoration: ein Raum bestehend aus drei Wänden mit jeweils 1-2 Türen, die sich später in Nischen verwandeln und zur Oberfläche für die Videoprojektionen (produziert von Iurii Galkin) werden. Mit der Vorstellung der sich in fünf Nischen befindlichenKronjuwelen, einer Ikone und anderen Attributen – Symbole des russischen Zarenreichs – beginnt die Erzählung in der Zeit des Aufbaus des Zarentums und zeigt die Ausbreitung der moskauischen Herrschaft auf weitere Gebiete bis zur Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922.
Von Anfang an besteht keine Trennung zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne. Das Publikum wird gleich zu Beginn auf die Bühne eingeladen. Als die Besucher*innen eine Weile den Bühnenraum betrachten, bemerken sie eine Figur – die einzige physisch anwesende Schauspielerin auf der Bühne. Das Publikum ist eingeladen, sowohl die teilnehmende als auch zuschauende Rolle einzunehmen. Das Publikum befindet sich vordergründig in der passiven beobachtenden Position, jedoch verliert der Erzähler das Publikum nicht aus dem Blick, indem er es auf verschiedene Weise anspricht: Von Zeit zu Zeit werden die Besucher*innen aufgefordert, auf die Bühne zu kommen und in der ersten Episode, in der der Erzähler enthusiastisch die Geschichte der Errichtung der Moskauer Herrschaft in den Gebieten, die später zur Sowjetunion wurden, präsentiert, erscheinen an den Wänden projizierte Sätze in den jeweiligen Sprachen der Länder der ehemaligen UdSSR, die das Publikum bitten, dem Erzähler nicht zu glauben. Da der Erzähler auf diese Projektionen in keinerlei Hinsicht reagiert, adressieren sie nur das Publikum.
Der Bühnenraum wird so bespielt, dass er sowohl als ein Spielraum als auch als Agierender dient, und zwar dann, wenn die Nischen sich in Länder verwandeln – die Ukraine, Weißrussland, Aserbaidschan, Armenien und Georgien – und miteinander ins Gespräch kommen. Dabei sind die Nischen als Schränke konstruiert, in denen jedes der anwesenden Länder in Form von nationalen Frauentrachten und anderen mit diesen Ländern assoziierten Symbolen vertreten werden. Die Tonebene, die von Vladimir Rannev konzipiert wurde, ist ein integraler Bestandteil der Bühnenhandlung. Alle Geräusche, mit Ausnahme des Monologs der Protagonistin auf der Bühne, kommen aus dem Off: Gespräche der Länder, nationale Melodien und Lieder sowie die Stimme des Erzählers.
Obwohl die Inszenierung die Vergangenheit darstellt, sind die in ihr aufgeworfenen Fragen und Ereignisse, immer noch aktuell, da Marina Davydova durch die Ereignisse der Vergangenheit Parallelen zu aktuellen Ereignissen zieht. Die einzige Figur, die in der Inszenierung vorkommt, ist die Verkörperung von Marina Davydova (dargestellt von Marina Weis) selbst. In der letzten Episode hält sie einen Monolog über ihre eigene Geschichte. Sie sagt, dass sich die Geschichte wiederholt. Der Begriff der Geschichte steht im Mittelpunkt der Inszenierung. Es wird die Ambivalenz des Begriffs thematisiert, dass jede Kultur ihre eigene Sichtweise auf gesamt historische Ereignisse hat, wobei jede die Geschichte aus eigener Perspektive betrachtet. Die Geschichte der Sowjetunion, die mittels der Aufnahmen von der Stimme Putins, seine Vorstellung von Russland und dessen Territorien in die Gegenwart überträgt, wird als die Geschichte eines großen und mächtigen Landes dargestellt, dessen größte Leistung die Größe seines Territoriums ist. Die anderen Länder sprechen von sich selbst als Opfer der Sowjetunion. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, indemdie unterschiedlichen Wahrnehmungen der Geschichte, wie die anderen sie betrachten, nicht miteinbezogen werden. Einige für ein bestimmtes Land entscheidende Ereignisse werden ausgelassen, wie die Pogrome in Aserbaidschan von denen Marina spricht und die in den Medien der Sowjetunion damals nicht beleuchtet wurden. Die Geschichte wird als Instrument benutzt, um eigene Wahrheit durchzusetzen.
Marinas Geschichte ist eng mit der Frage der Identität verbunden. Marina wurde in Aserbaidschan geboren, ihr Vater war Armenier und die Sprache, die sie zu Hause sprachen und mit der Marina sich identifiziert, ist Russisch. Marina liebt die russische Literatur und die Prachtstraßen Moskaus, sie fühlt sich als Russin. In ihrem Leben, sagt sie, hat sie zwei Verluste erfahren und beide sind auf den Einfluss der Sowjetunion zurückzuführen. Erstmals verlor sie alles, als sie in Moskau studierte und Pogrome in Aserbaidschan stattgefunden haben. Sie verlor alles, was für sie wertvoll war. Ein kleines Foto, das sie immer noch als Erinnerung an ihre Kindheit in Aserbaidschan bewahrt, ist ihr lediglich geblieben. Ein Jahr später zerfiel die Sowjetunion und sie blieb allein, ohne einem Land zuzugehören. Ihren aserbaidschanischen Pass hat sie verloren und man wollte ihr keinen russischen Pass ausstellen, obwohl sie schon lange in Moskau wohnt, dort studiert hat, ausschließlich auf Russisch denkt und sich als Russin begreift. Für Aserbaidschan existiert sie nach den Pogromen nicht mehr. Als Russland die Ukraine angriff, um die vorsowjetischen Grenzen Russlands wiederherzustellen, musste sie zum zweiten Mal ihr Leben in Russland wegen der dortigen Verfolgung verlassen. Die Bühne von Museum of Uncounted Voices wird zu einem Ort, an dem Marina über ihre Verluste sprechen kann und gehört wird.