Regie: Milo Rau, Burgtheater, 27. Mai 2023
Weckt das die Antigone in dir?
(Franziska Undis)
Der Stoff von Sophokles‘ Antigone ist der Theaterwelt nicht fremd: Die aktivistische und willensstarke Antigone möchte ihren Bruder Polyneikes begraben, doch der herrschsüchtige und eigensinnige König Kreon verbietet dies, wodurch ein Streit um Macht und Glaube entsteht. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ Mit diesem bekannten Zitat der Tragödie beginnt auch Milo Rau seine Adaption Antigone im Amazonas. Das Stück fängt bereits beim Betreten des Burgtheaters an, dessen Vorraum mit Fahnen und Bannern des MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra) – der brasilianischen Bewegung der Landarbeiter ohne Boden, mit denen Milo Rau in seinem Stück zusammenarbeitet – ausgeschmückt ist. Schon vor Beginn des Stücks sind die vier Schauspieler*innen, darunter zwei Brasilianer, ein Belgier und eine Belgierin, bereits auf der Bühne aktiv, musizieren und bereiten sich entspannt, in ihren Plastikstühlen sitzend auf die Aufführung vor, wodurch der Anschein geweckt wird, dass es sich nicht um eine „klassische“ Aufführung handeln und kein fiktiver Handlungsraum erzeugt wird. Dies wird unterstrichen, indem die Schauspieler*innen beginnen, über ihre eigenen Rollen zu sprechen und den Proben- & Entstehungsprozess, vor allem in Bezug auf Corona, zu reflektieren. Ergänzend zu ihren Erzählungen sprechen sie über das, was im Hintergrund als Video eingespielt wird. Die Leinwände werden zum essenziellen Teil der Performance und scheinen durch ihre Größe fast in den Bühnenraum überzugehen. Dies wird durch den mit Erde bedeckten Boden, der sich mit dem Erdboden des in den Videos gezeigten brasilianischen Lehms decken soll, unterstützt. Immer wieder wird die Erde Teil der Performance, wird symbolisch für das, worum es eigentlich geht: Der Boden, für den die Brasilianer*innen permanent kämpfen müssen und der sowohl wortwörtlich auf der Bühne als auch in der Realität immer wieder durch Diskussionen und Auseinandersetzungen aufgewirbelt wird.
In regelmäßigen Abständen sprechen die Schauspieler*innen im Dialog zu den im Video eingespielten Personen, wodurch der Effekt einer Gleichzeitigkeit sowohl auf zeitlicher als auch topographischer Ebene erzeugt werden soll. Mehr Intermedialität geht nicht. Aber weniger ist ja bekanntlich mehr. Milo Raus Antigone im Amazonas ist ein Reenactment des Massakers von 1996 in Brasilien, bei dem mehrere MST-Aktivist*innen durch staatliche Gewalt ums Leben gekommen sind. Emotionale Szenen der Nachstellung spielen sich auf der Leinwand ab. Erstarrte Gesichter der indigenen Bevölkerung werden in Nahaufnahmen auf der Leinwand präsentiert. Emotionale Stimmung wird durch die auf der Leinwand gezeigten Chöre erzeugt. Die Szenen, die die Schauspieler*innen auf der Bühne spielen, werden zum Teil asynchron auf der Leinwand abgespielt. Auf der Leinwand.
Indem wir auf der Bühne das sehen, was bereits vor einigen Monaten aufgenommen wurde, sehen wir eine Art Reenactment eines Reenactments (Re-Reenactment?). Aufgrund der Leinwandprojektionen und der demnach eher geringen Bühnenleistung verliert das Stück ein wenig die Kraft der realen Bühne und bewegt sich somit weg vom Herzen des Theaters. Andererseits verfolgt Rau mit Antigone im Amazonas gar nicht den Anspruch, dem Theater als Kunstform gerecht zu werden. Zumal das Theater heutzutage kaum mehr ohne die Nutzung intermedialer Mittel zu denken ist.
Ob es die Antigone als Parallele gebraucht hätte, um den Stoff zu vermitteln, liegt im Auge des Betrachters. Feststeht, dass Milo Rau die Bühne und die Aufmerksamkeit des Publikums nutzt, um auf die Ausbeutung indigener Völker aufmerksam zu machen, um Gehör für Ungerechtigkeit und Emotionalität zu schaffen und um den Aktivismus wie ein Feuer anzuschüren.
„In the end everybody can be an Antigone“, so der Dramaturg des Stücks Giacomo Bisordi. Ob es Milo Rau mit seinem Stück schafft, die aktivistische Antigone in den Zuschauer*innen zu erwecken, bleibt offen. Feststeht, dass das Publikum den Staub des vermeintlich brasilianischen Erdbodens wohl für längere Zeit nicht mehr aus ihren Poren bekommen wird – Ziel erreicht oder, Herr Rau?
Antigone im Betroffenheitstheater
(Wolfram-Thaddäus Reich)
Milo Raus neueste Ausgabe seines für ihn typischen Aktivismus-Theaters Antigone im Amazonas ist schlicht und doch eindringlich. Vier Schauspieler*innen agieren vor einem schwarzen Hintergrund, werden von Videoaufnahmen, die das Herzstück der Produktion bilden, unterstützt und entführen das Publikum in die politisch brisante Region Pará, den nördlichsten Bundesstaat Brasiliens. Hier verschmilzt die antike Geschichte von Antigone mit den realen Kämpfen der indigenen Landbesetzer*innen und ökologischen Aktivist*innen, die für ihr Recht auf ein Leben im Einklang mit der Natur kämpfen. Die Parallelen reichen über einen tyrannischen Thebenkönig Kreon, der sowohl einem proto-faschistischen Bolsonaro als auch einem übermächtigen neoliberalen kapitalistischen System gleichkommt, nicht hinaus. Antigone, gespielt von den Aktivist*innen Frederico Araujo (auf der Bühne) und Kay Sara (auf der Videoleinwand), steht für Abstrakteres, etwa die Stimme des Widerstands oder für das Streben nach einem harmonischen Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur.
Das Stück ist wegen der zahlreichen dokumentarischen und szenischen Filmaufnahmen, die durch das Geschehen auf der Bühne gedoppelt werden, eher ein Nachgedanke. Es besteht zum Großteil aus Erzählung über die Entstehungsgeschichte, verdeutlicht aber nicht, dass die sogenannte Bewegung der Landlosen eine millionenköpfige Organisation brasilianischer Landarbeiter*innen und Initiator des Projektes war. Dieses Versäumnis kann nicht mehr nachgeholt werden, was der Performance einen kulturell-aneignenden Beigeschmack in „Weißer-Retter“-Manier verleiht. Der Beigeschmack wird dadurch verstärkt, dass der Schmerz der Indigenen die Waffe der Wahl im Arsenal der Theatermacher*innen ist. Bereits am Anfang steht das Video eines detailgetreuen Reenactments am Originalschauplatz der brutalen Ermordung von neunzehn Demonstrant*innen durch die Polizei im Jahre 1996. In weiterer Folge begräbt Antigone schreiend ihren Bruder, sie windet sich am Boden, Staub fliegt ins Publikum.
Sophokles tritt angesichts des komplexen und brisanten Themas in den Hintergrund. An seine Stelle tritt eine emotionale Botschaft gleich einem Werbeslogan à la „Everyone can be Antigone“ oder „Wecke die Antigone in dir“, verabreicht mit dem Vorschlaghammer. Es wird deutlich, dass Antigone im Amazonas nicht als Theaterstück funktionieren muss, sondern vorwiegend als Medium für soziale und politische Diskurse dienen soll. Wie nachhaltig dieser Diskurs ist und ob die Inszenierung der aktivistischen Tradition, welcher sie sich verschrieben hat, gerecht wird, sei dahingestellt. Denn in all dem Pathos und der gleichzeitigen Vermittlung von Daten bleibt das Gefühl, dass es sich hierbei um ein maßgeschneidertes Festival-Produkt handelt, das Antigone als trojanisches Pferd benutzt, um einem europäischen Bildungspublikum seine Botschaft zu vermitteln. Dieses konsumiert erwartungsgemäß den Schock und die Verzweiflung, schließlich sind alle Besucher*innen ins Burgtheater gegangen, um emotional aufgewühlt zu werden. Sobald der Staub abgestreift ist, bleibt von der Betroffenheit nicht viel übrig. Mit Standing Ovations aus Gründen der Solidarität ist für das Publikum bereits alles getan. Während man das Theater mit dem Gewahrsein verlässt, dass sich der Kapitalismus den Protest nun vollständig einverleibt hat, wirken die im Eingangsbereich angebrachten Protestbanner und -fahnen nur noch makaber.
Vom antiken Griechenland bis zum Amazonas-Regenwald ist es nur ein kleiner Schritt
(Léna Cornille)
Mit der Neuinterpretation der Tragödie von Sophokles versuchen Milo Rau und die MST-Bewegung den neunzehn Opfern des Massakers vom 17. April 1996 im brasilianischen Bundesstaat Parà ein Denkmal zu setzen. Abwechselnde Videos mit den brasilianischen Aktivist*innen der Bewegung und den vier Schauspieler*innen auf der Bühne treiben die Geschichte zwischen den Erlebnissen der Schauspieler*innen und dem antiken Theater voran. Jedes Video wird von der Besetzung in einen neuen Kontext gesetzt und wir folgen ihren Erlebnissen sowie einem Großteil des Entstehungs- und Inszenierungsprozesses. Wir verfolgen anhand von Antigone die Geschichte der MST, die beide gar nicht so unterschiedlich sind.
Auf der Bühne sind vier Personen anwesend. Zwei Brasilianer, Frederico und Pablo, die auf Portugiesisch sprechen, sowie zwei Belgier*innen, Sara und Arne, die zwischen Niederländisch, ein paar Worten Englisch und einigen Gesprächen auf Portugiesisch wechseln. Die beiden Sprachen bieten zwei Möglichkeiten, die Figuren wahrzunehmen und das Stück zu lesen. Die Schauspielerin, die Kreon verkörpert (Sara De Bosschere), spricht überwiegend Niederländisch, was ihr eine Überlegenheit gegenüber den Schauspielern und dem brasilianischen Ensemble verleiht, die sie nicht verstehen. Auf diese Weise wird das alte Europa wahrgenommen, das den kolonisierten Ländern seine Handlungsweisen aufzwingt. Wenn sie es verstehen wollen, müssen sie seine Sprache lernen. In einer Konfrontationsszene spricht sie einmal auf Portugiesisch, was die Tatsache unterstreicht, dass sie die Sprache spricht und versteht, sich aber bewusst dagegen entscheidet, sie zu verwenden. Das Portugiesische nimmt dann die Rolle einer Sprache des Widerstands ein, die Sprache der Unterdrückten. Eine Absurdität, wenn man bedenkt, dass es die Sprache ist, die einst von den europäischen Kolonialisten aufgezwungen wurde. Das Niederländische führt zu einer Barriere innerhalb der Schauspieler*innen. Wenn Sprache eine Art des Widerstands ist, warum nicht das ganze Stück auf Portugiesisch oder in einer lokalen Sprache aufführen? So passt sich der Unterdrücker ausnahmsweise einmal dem Unterdrückten, seinen Bräuchen und Traditionen an.
Der Chor, der von etwa 50 Mitgliedern der Bewegung gespielt wird, ist der Höhepunkt dieses Stücks. Er ist zwar nicht durchgehend präsent, aber jeder Auftritt ist intensiv und emotional. Der Gesang ist zugleich sanft und kraftvoll. Man kann trotz des Videos und der Entfernung von tausend Kilometern spüren, dass sie im Raum anwesend sind, als ob uns keine räumliche und zeitliche Grenze trennt. Dies macht sich besonders bemerkbar, wenn wir ihre Gesichter einzeln sehen, während sie uns vorgestellt werden. Die Unmöglichkeit ihrer Anwesenheit wird durch Kay Saras Worte, die von Frederico getragen werden, verstärkt. Sie will nicht nach Europa kommen, nicht vor dem Feind eine Figur der Unterdrückung spielen. Die Weitergabe und das Erinnern sind zwei Themen, die dieses Stück beherrschen. Sprechen, um nicht zu vergessen. Die Schauspieler*innen auf der Bühne spielen nach, was auf der Leinwand zu sehen ist, und nehmen uns in eine Ecke Brasiliens mit, wo sie die Aktivist*innen treffen. In der Hoffnung, uns auch nur einen Bruchteil der Emotionen spüren zu lassen, die sie dort erlebt haben. Um dies zu erreichen, werden die Szenen der antiken Antigone nachgespielt und angepasst bis hin zum abschließenden Doppelselbstmord. Da die Geschichte trotz des Todes nicht aufhört, setzt ein letzter Akt mit Musik einen hoffnungsvollen Schlusspunkt unter diese Aufführung.
Der Ort der Aufführung warf für mich Fragen auf. Das Burgtheater ist eine der wichtigsten Bühnen in Europa, aber vor allem ein Symbol des Kaiserreichs. Wird auf diese Weise das Zielpublikum erreicht? Das Durchschnittsalter im Saal war recht hoch, kamen sie, um das Stück zu sehen, oder kamen sie, weil das Stück an diesem Ort aufgeführt wurde? Wird die Tatsache, dass sie das Stück gesehen haben, in ihnen und in uns allen etwas Verschüttetes wachrufen? An einem solchen Ort ist die Rückkehr in die Realität brutal, die Vergoldung steht im Widerspruch zum revolutionären Hintergrund des Stücks. Der Dramaturg Giacomo Bisordi sagt in einem Gespräch, dass es für die Mitglieder der MST eine Form der Erfüllung sei, ihre Werte in einem solchen Gebäude zu vertreten. Für eine Gruppe, die in ihrem Land als terroristisch gilt, ist es ein Privileg, auf dieser Wiener Bühne aufzutreten. Dennoch hätte der Aktivismus noch weiter gehen können. Die Banner, die das Foyer des Theaters schmücken, hätten sich auf die ganze Stadt auswirken und das Echo des MST noch weiter vergrößern können, wenn sie an der Fassade des Gebäudes angebracht worden wären. Dies hätte ein größeres Publikum erreicht und vor allem eines, das sich einen Platz im Burgtheater nicht leisten kann. Ein Stück wie dieses an einem beliebigen Ort aufzuführen, ist der erste Schritt zur Veränderung und ein Akt des Widerstands.
„Stop Filming“ – eine konsumkritische Mahnung an das Publikum des Burgtheaters
(Anna-Maria Bernhofer)
Milo Rau ist bekannt für seine politisch-kritischen Inszenierungen, und auch mit Antigone im Amazonas bleibt er seiner Schiene treu. Er holt Sophokles‘ Heroine in die Gegenwart und zeigt uns, wie sich der immerwährende Kampf gegen Unrecht auf die andauernden Konflikte der Bewegung der Landlosen in der brasilianischen Amazonas-Region Pará mit dem herrschenden kapitalistischen Staat beziehen lässt.
Die Geschichte des Tyrannen Kreon und der sich ihm widersetzenden Protagonistin Antigone wird von Rau mitunter mithilfe der bekannten indigenen Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara und einem Chor von Aktivist*innen der Bewegung der Landlosen erarbeitet. Im Stück wird angesprochen, dass es die Bewegung der Landlosen (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, kurz MST) war, die an das Regieteam und Rau für eine Kooperation herangetreten ist. Die Tragödie von Sophokles scheint hierbei als eine Metapher ihrer eigenen Geschichte zu wirken, dabei spielt das „Eldorado do Carajás“, das Massaker vom 17.04.1996, eine zentrale Rolle der Performance. Bei einem friedlichen Protestmarsch der MST kam es vonseiten der staatlichen Polizei gegenüber den Aktivist*innen zu Gewalt, wobei dutzende Mitglieder verletzt oder ermordet wurden. Die Theaterschaffenden bedienen sich in der Inszenierung entsprechend primär den Klageakten der Tragödie. Das Herzstück der Performance bilden Videoeinspielungen, in denen Kay Sara die Antigone verkörpert und, unterstützt vom Chor, Einblicke in die Lebensrealitäten der Einwohner*innen von Pará gibt – unter ihnen auch Zeitzeug*innen des Massakers. Das Stück ist geprägt von politischen Stimmen und Botschaften der Indigenen an uns und die Welt.
Während auf einer dreiteiligen Leinwand am Ende der Bühne die Videobotschaften abgespielt werden, findet davor eine kraftvolle Performance statt. Vier Darsteller*innen bewegen sich auf einer mit Erde aufgeschütteten Fläche und erzählen von ihren Erfahrungen sowie Eindrücken, die sie während des Produktionsprozesses vor Ort in Brasilien gesammelt haben. Gleichermaßen verkörpern die vier Sophokles‘ Figuren: Frederico Araujo in der Rolle der Antigone, Sara De Bosschere als Kreon, Arne De Tremerie als Haimon und Pablo Casella als Personifikation des Chors. Besonders Frederico Araujo berührt mit seiner körperlichen Ausdruckskraft und bringt eine neue Ebene ins Spiel, indem er mit persönlichem Bezug die bis heute herrschende gewaltsame Unterdrückung der LGBTQI+- Community in Brasilien deutlich macht.
In vielerlei Hinsicht spiegeln sich die Geschehnisse von Video und Bühne. Die Performance wird auditiv auf Portugiesisch und Niederländisch vermittelt, für das Burgtheaterpublikum mit Untertitel auf Deutsch und Englisch. Die Herausforderung, Video und Performance zu synchronisieren, wurde dabei klug gemeistert. Antigone im Amazonas präsentiert sich als ein Stück, das viele Dimensionen der Interpretation öffnet. Es ist eine Performance, die das Publikum des Burgtheaters direkt anspricht. Eine konsumkritische Mahnung, die zum Nachdenken anregt.
We are Haimon – Theater als Akt des Widerstands
(Katrin Firlinger)
Emotionales, aufwühlendes Aktivismus-Theater, das zum Nachdenken anregt. So würde ich meine Theatererfahrung mit Antigone im Amazonas zusammenfassen. Antigone im Amazonas folgt nicht nur einer, sondern gleich zwei Handlungssträngen, die sich gegenseitig spiegeln. Einerseits ist das Stück eine Nacherzählung des antiken, griechischen Dramas nach Sophokles, andererseits eine moderne Allegorie und ein dokumentarisches Werk über ein Massaker, das sich 1996 in Brasilien ereignete. Es wird erklärt, dass rund 10% der brasilianischen Landesbevölkerung 80% des Landes besitzen. Die MST, eine Zusammenschließung aus Aktivist*innen, nennt sich selbst die Bewegung der Landlosen.
1996 wurden neunzehn Protestierende der MST von der Militärpolizei erschossen. Diese Tragödie wird einerseits durch das Nachspielen des Massakers, andererseits im Rahmen der Antigone wieder aufgegriffen. Antigone wird nur in Teilen gezeigt und sowohl auf der Bühne als auch auf der Leinwand reenacted, im theatralen Rahmen bearbeitet und in Bezug zu den Geschehnissen 1995 gesetzt. Unverblümt stellt das Stück das Publikum vor eine unangenehme Wahrheit und zwingt dieses, sich mit Fragen des Kolonialismus, westlicher Privilegiertheit und indirekter Unterstützung der Ausbeutung des Regenwaldes auseinanderzusetzen. Gezeigt wird dies über multimediale Ebenen. Einerseits sind die Schauspieler*innen auf der Bühne präsent, erzählen von ihrem Projekt, interagieren mit dem Publikum, erklären Zusammenhänge und fallen dennoch vereinzelt in veristisches, hoch emotionalisiertes Schauspiel. Auf der anderen Seite existieren sie als Persona auf der Videoleinwand in zuvor eingespielten Videosequenzen am Originalschauplatz in Brasilien.
Film und Theatergeschehen spiegeln sich genauso sehr, wie die realen, geschichtlichen Gegebenheiten sich mit jenen des Mythos der Antigone spiegeln und ineinander verschmelzen. Herauskommt eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion, die die Zuseher*innen auf mehreren Wahrnehmungsebenen fesselt. Am Ende wird Antigone selbst zu einem Titel, einer Allegorie, die an reale Personen vergeben werden kann. Es wird erklärt, dass jede Person, sofern sie sich dem momentan geltenden „Herrschergeschlecht“ widersetzt, zu einer Antigone werden kann. Die tragischen Held*innen unserer Antike sind Archetypen. Die Geschichte wiederholt sich innerhalb des historischen Kontextes, nur Ort, Namen, Sprache und Zeit sind variabel. Das Publikum wird aktiv dazu aufgefordert, sich selbst in dieser Geschichte zu sehen. Wir sind gezwungen, uns aktiv die Frage zu stellen, wer wir als europäische, privilegierte, akademische Mittelklasse in eben dieser Geschichte sind. Das Stück gibt eine Antwort darauf und hält uns unverblümt einen Spiegel vor. Dass Kreon und Haimon von belgischen Schauspieler*innen dargestellt werden, sei an dieser Stelle erwähnt. In einem Sprechgesang verkündet der Schauspieler Arne De Tremerie „I am Haimon“, während er seine Erfahrungen im brasilianischen Amazonasgebiet mit uns teilt. Er erzählt dem Publikum von einer uns geläufigen, durchschnittlichen Kinderstube und von seiner Weltanschauung, mit der er nach Südamerika kam. Der Schauspieler steht in dem Fall als gescriptete Privatperson auf der Bühne. Er erklärt, die europäischen Werte, die uns eingetrichtert wurden, unsere Kultur und unser Verständnis von Europa machen uns zu den Menschen, die wir sind. Als weiße, europäische Menschen sind wir alle Söhne und Töchter Kreons, erklärt er. Wir alle tragen zur Vernichtung des Regenwaldes bei und stellen unser Gesetz über jenes der Natur. Als milde Kritik muss gesagt werden, dass dieses doch sehr politische Theater einen Drahtseilakt zwischen Aktivismus und emotionalisierender Ideologie betreibt, indem es an manchen Stellen sehr dick aufträgt. Der brasilianische Philosoph Ailton Krenak hat in der Rolle des Sehers Teiresias ebenfalls eine Nachricht an uns: „Ich habe Mitleid mit der alten Welt. Ihr seid nicht an die Apokalypse gewöhnt. Unsere Welt endete vor 500 Jahren und wir sind immer noch hier.“
Worum geht es in diesem Stück zwischen antikem Theater, Reenactment, Erzählung und Aktivismus? Antigone im Amazonas behandelt wichtige, große, anthropologische Fragen der Menschheitsgeschichte. Es geht um Opfer, um Stolz, Gier, Widerstand und auch verpasste Chancen. Im Gegensatz zum letzten Akt des Theaterstücks stehen die Toten nicht wieder auf und der Schaden, den wir bisher als Wohlstandsgesellschaft an der Natur angerichtet haben, lässt sich möglicherweise kaum mehr beheben. Anhand einer Neuinterpretation wird hier versucht, das Publikum mit allen möglichen Mitteln wachzurütteln und auf die momentane Situation der Regenwaldzerstörung sowie jener politischen Situation der MST aufmerksam zu machen. Ich empfand den Abend als Bereicherung. Das Stück hat mich berührt und zum Nachdenken angeregt. Antigone sprach auf verschiedenen Ebenen ein soziales Drama, oder auch Dilemma, an, das eine ganze Generation bewegt. Somit war es genau das, was man sich von einem zeitgemäßen Theater wünschen kann. Mit Inhalten, die zum Nachdenken anregen, zum Widerstand bewegen sowie unser Verhalten oder unseren Umgang mit den Mitmenschen und der Natur zu ändern versuchen, traf das Theaterstück zumindest für mich direkt ins Schwarze.
Antigone im Amazonas, die Inszenierung einer alltäglichen Tragödie
(Pauline Deschamps)
In den antiken Tragödien beginnt alles mit einem Massaker – und oft mit einer Ungerechtigkeit. Das Stück besteht dann meist aus der Neuinszenierung des Massakers und der unausweichlichen fatalen Tragödie, die darauffolgt. In der Antigone von Sophokles kämpfen zwei Brüder bis zum Tod um die Macht über Theben. Der neue König Kreon entscheidet – willkürlich und ungerecht –, dass Polyneikes nicht beerdigt werden darf, da er als Anstifter des Krieges angesehen wird. Antigone lehnt diese Entscheidung ab und widersetzt sich der Todesstrafe, indem sie ihren Bruder beerdigt. Denn das ist es, was sie für richtig hält.
In Antigone im Amazonas beginnt die Tragödie mit einem Massaker. Die Ermordung von neunzehn Demonstrant*innen der Gruppe MST (Bewegung der Landlosen) durch die Militärpolizei im Jahr 1996. Diese Aktivist*innen kämpfen gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit in den ländlichen Gebieten Brasiliens. Wie zwei Brüder kämpfen zwei Gruppen um den Besitz von Land: Die Mörder und die Ermordeten gehören zur selben Familie. Menschen haben schon immer versucht, sich Land anzueignen. Sie wollten schon immer besitzen. Den Boden besitzen, die Natur besitzen, Besitz besitzen. Die Macht besitzen. Wie bei Sophokles endet dies in einem Blutbad und fortsetzender Ungerechtigkeit. Ein Bürgerkrieg.
Im Zuge eines großen pädagogischen und kooperativen Projekts zwischen der MST und dem NTGent reisten Milo Rau und sein Team nach Brasilien, um Szenen von Sophokles‘ Antigone im Amazonasgebiet adaptiert darzustellen. Auf der Leinwand sind die in Brasilien gefilmten Szenen mit den Indigenen zu sehen. Auf der Bühne stehen vier Schauspieler*innen, die die gefilmten und projizierten Szenen in Echtzeit nachspielen. Die Vorgehensweise ist klar, jede*r stellt sich und seine/ihre Figur vor. Der Kontext wird definiert, die Kostüme werden vor unseren Augen angezogen. Der Fortschritt des Forschungs- und Schaffensprozesses wird dem Publikum zugänglich gemacht. Es ist demnach keine fiktionale, fließende Erzählung, die hier entsteht.
Es lassen sich zwei unterschiedliche Räume erkennen. Die Bühne des Burgtheaters und die Bühne der Tragödie, beziehungsweise des Amazonas-Regenwaldes. Die MST-Militant*innen, mit denen das NTGent-Team zusammengearbeitet hat, sind auf der Bühne durch Videos auf drei Bildschirmen zu sehen. So wird die Frage nach den Grenzen aufgeworfen. Eine Welt ohne Grenzen mit Hilfe videotechnischer Mittel? Die Abwesenheit der Indigenen auf der Bühne ist ein stilistischer Effekt – wenn Ismene über die Leinwand mit Haimon spricht, oder die intensive Präsenz des Chors, dessen Gesichter uns nach und nach gezeigt werden. Sie glänzen durch Abwesenheit. Aber ihre Abwesenheit macht auch die Opfer deutlich, die sie hätten bringen müssen, um in Europa zu sein. Ihre Traditionen und Lebensräume kurzzeitig zurücklassen, um inmitten einer Gesellschaft zu leben und zu spielen, die seit Jahrhunderten versucht, ihnen eine kapitalistische, materialistische und autoritäre Denk- und Lebensweise aufzuzwingen. Inmitten von Gesellschaften zu leben, die sie seit Jahrhunderten unterdrücken.
Im Laufe des Stücks werden zahlreiche Barrieren errichtet. Die Sprachbarriere zwischen der königlichen Familie – den belgischen Schauspieler*innen, die die Rollen von Kreon und Haimon übernehmen – und dem Widerstand – Antigone. Die Sprache des Unterdrückers gegen die Sprache der Unterdrückten. Das in Brasilien gesprochene Portugiesisch ist jedoch selbst die Sprache des Unterdrückers, des Kolonialherren. Wäre es unverschämt zu denken, dass die Tragödie lange vor dem Massaker von 1996 in der Zeit der Kolonialisierung beginnt, als sich die Kolonialherren das Land aneigneten?
In diesem Stück gibt es eine Art Echo. Ein Echo zwischen den gefilmten Szenen und der Echtzeitbühne. Ein Echo zwischen der Fiktionalität der Erzählung und der Realität der Tragödie, zwischen dem Erleben der Figuren im Buch und dem Erleben der Indigenen sowie zwischen dem Reenactment der Vergangenheit und der Aktualität. Das Massaker von 1996 erinnert an die Polizeigewalt und das autoritäre Regime von Bolsonaro. Die Kämpfe der Aktivisten von 1996 sind dieselben wie die der MST-Aktivist*innen heute. Nichts hat sich geändert. Die Welt hat sich weitergedreht, aber nichts hat sich geändert.
„Ein neuer Morgen“ (A.H.)
Antigone im Amazonas ist eine Zusammenarbeit des Theaters NTGent und der MST-Bewegung, eine aktivistische Bewegung von Arbeiter*innen in Brasilien, die kein eigenes Land besitzen. Durch diese Zusammenarbeit entsteht (mit einer Unterbrechung durch die Covid-19 Pandemie) ein Stück, dass die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, der landlosen Arbeiter*innen, der BPoC und LGTBQ+ Community und den Klimawandel thematisiert. Es klingt fast nach zu viel Stoff für ein 100 Minuten-Stück, doch Milo Rau und seinem Team gelingt es, die Thematiken eindrucksvoll zu verarbeiten und zu vermitteln.
Der Mythos der Antigone wird hier nur als Träger für diese aktuellen Geschichten verwendet. Als Schlacht wird das Massaker von Eldorado do Carajás nachgestellt, bei dem 1996 neunzehn MST-Aktivist*innen von der brasilianischen Militärpolizei getötet wurden. Antigone will ihren getöteten Bruder begraben, doch dies wird ihr von Kreon verboten. Antigone widersetzt sich dem staatlichen Oberhaupt, begräbt ihren Bruder trotzdem und wird von Kreon zum Tode verurteilt. Ihr Verlobter Haimon, der Sohn von Kreon, will ohne Antigone nicht leben und begeht Selbstmord, genauso wie seine Mutter, die Frau von Kreon. Erst als Kreon drei Familienmitglieder verloren hat, sieht er seinen Fehler ein: „Das ist was ich tat“, „Ich war der Törichte, nicht ihr“. So viel zum bekannten Mythos Antigone. Was bedeutet er für dieses spezielle Stück? In Antigone wird die Frage verhandelt, was wichtiger sei: die persönlichen Werte oder staatlich vorgegebene Regeln? In Antigone im Amazonas geht es um Werte und Lebensrealitäten ganzer Gruppen, die vom staatlichen System nicht zugelassen werden, beziehungsweise aktiv unterdrückt werden. Milo Rau fordert dazu auf, nicht nur zu hoffen, dass der brasilianische Staat seine Fehler in Bezug auf den Umgang mit der indigenen Bevölkerung, Arbeiter*innen und die Umwelt einsieht, sondern aktiv dafür einzustehen.
Zwei aus den Niederlanden stammende Schauspielende und zwei aus Brasilien stammende Schauspieler spielen nicht nur Antigone, sondern erklären Entstehungsprozess, Kontext, persönliche Bezüge, Fragen und Erfahrungen. Im Hintergrund sind drei große Bildschirme, die die Szenen zeigen, die in Brasilien gespielt wurden. Immer wieder sind auf den Bildschirmen und auf der Bühne zeitgleich dieselben Szenen zu sehen, was eine Art Verbindung zwischen dem fernen Brasilien und der Wiener Bühne schafft. Das Stück endet nicht wie Antigone, mit dem Tod, sondern Rau lässt im Reenactment des Massakers die Toten wieder auferstehen – „ein neuer Morgen“ kann beginnen.
Ohne Frage ist dieses Stück bewegend, ergreifend und motivierend. Ich habe noch nie ein Stück gesehen, bei dem im Burgtheater Fäuste in die Luft gehoben wurden und die Menschen vor dem Theater derartig sprachlos waren. Die erschreckenden Geschichten aus Brasilien sind nicht das Einzige, was die Leute bewegt. Rau schafft es auch, die Gefahr der Klimakatastrophe für jede*n Burgtheater-Besucher*in zu vermitteln. Ein Indigener spricht davon, keine Angst vor der Klimakatastrophe zu haben, seine Apokalypse habe schon vor hunderten von Jahren stattgefunden, aber die Weißen wüssten nicht, wie man eine Apokalypse überlebt.
Es war tatsächlich ein Theater der Revolution und mit Abstand das beste Stück des letzten Jahres. Trotzdem bleibt man in Bezug auf einige Produktionselemente ein wenig skeptisch zurück. Milo Rau ist für seine realitätsgleichen Reenactments berühmt. Doch in Gesprächen nach dem Stück kommt die Frage auf, wie es Überlebenden des Massakers bei einer solchen Nachtstellung gehe. Eine Frage, die nicht auf der Bühne beantwortet wird, obwohl sonst allerlei kontextuelle Aspekte in den Vordergrund gerückt werden (wie geht es einem europäischen Schauspieler in einer solchen Umgebung etc.). Reicht hier das Wiederauferstehen der Ermordeten, um die Beteiligten vor einer möglichen Retraumatisierung zu schützen? Und wieso wird für eine südamerikanische Geschichte ein europäischer Mythos verwendet? Um es dem europäischen Publikum verständlicher zu machen? Ich bin sicher, es gäbe die Möglichkeit diese Geschichten und Botschaften mit einem nicht-europäischen Mythos zu erzählen und nicht erneut Europa im Titel stehen zu haben.