Ein Essay von Johanna Berger über den Film De Humani Corporis Fabrica (Véréna Paravel, Lucien Castaing-Taylor, CH/F/USA 2022)
Von innen nach außen. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Schönheit, Horror, Vergänglichkeit. De Humani Coporis Fabrica zeigt auf, dass die innere „Schönheit“ nicht immer „schön“ anzusehen ist. Die eigene Vergänglichkeit und Verletzlichkeit werden absurd genau in den Fokus gerückt, Strukturen des Körpers und der Gesellschaft werden offengelegt. Nach und nach paart sich die innere Schönheit mit dem Horror, der mit den gezeigten Bildern einhergeht. Diese „Körperlichkeit“ der Dokumentation, regt auch im Kino körperliche Reaktionen an. Fast komplett bleibt das Rascheln der beliebten Dragee-Keksi-Tüten bei dem Screening der Viennale 2022 aus. Immer ruhiger, immer leerer wird der Saal, als die Kamera tiefer und tiefer in die menschlichen Körper und gesellschaftlichen Strukturen dringt. De Humani Coporis Fabrica arbeitet sich von innen nach außen und legt so nicht nur die menschliche Anatomie, sondern auch die Probleme des Gesundheitssystems offen.
Schon der Beginn des Screenings bei der Viennale 2022 ließ den Film für die Anwesenden in ein bestimmtes Licht rücken. Wie gewohnt wurde darauf hingewiesen, das Rascheln mitgebrachter Tüten, bei der Viennale hauptsächlich Dragee-Kekse, auf ein Minimum zu beschränken, allerdings sollte dies, laut Moderator, bei diesem „besonderen“ Film kein Problem sein. Der Drang etwas zu Essen würde den Zuschauer*innen schon vergehen. Auf diese ominöse Aussage beginnt De Humani Corporis Fabrica: Die Kamera folgt zwei Männern durch dunkle, mit Graffiti beschmierten Wände. Gepaart mit der Spannung, welche die Ansage des Films auslöste und die Stimmung, die durch Licht und Kameraführung vermittelt wird, fühlt es sich an wie der Beginn eines Horrorfilms im Stil von Paranomal Activity oder dem Blair Witch Project. Schon in den ersten Minuten der Dokumentation stellt sich ein Gefühl des Unwohlseins ein. Die Kamera bleibt stehts auf die Rücken der zwei Männer gerichtet, das Licht flackert, man hört ein Rauschen von Stimmen aus den Walkie-Talkies. Das Blickfeld der Zuschauer*innen bleibt beschränkt, die Schatten des Offs wirken bedrohlich. Durch die Ansagen, welche durch die Walkie-Talkies erklingen, wird klar, man befindet sich innerhalb eines Krankenhauses. Gemeinsam mit sowie durch die Kamera dringt das Publikum in das Innere eines Spitals. Die Szenen wirken durch die langen Brennweiten und beschränkte Perspektiven unglaublich persönlich. Wie ein Eindringling bewegt sich die Kamera immer weiter in die innere Struktur des französischen Gesundheitssystems.
Soll ich hinsehen oder nicht? Ist es mir erlaubt die gezeigten Szenen zu betrachten? De Humani Corporis Fabrica lässt das Publikum in einem andauernden Gefühl des Unwohlseins mit seiner Rolle als Zuschauer*innen verharren. Hilflosigkeit, Schwäche, Verletzlichkeit, Machtlosigkeit. Zuschauer*innen winden sich unter den gezeigten Bildern, versuchen den dargelegten Alltag des Krankenhauspersonals zu verarbeiten. Doch der Film zeigt, sowie auch der Tod unüberwindbar ist, gibt es kaum ein Entrinnen der gezeigten Bilder. Wortwörtlich dringen die Zuschauer*innen, durch die endoskopischen Kameras in die Körper der Menschen ein. Auf der Kinoleinwand erstreckt sich die rote, hügelige Landschaft der menschlichen Anatomie. Langsam bahnt sich die Kamera einen Weg durch das innere eines Menschen, gedämpft hört man die Gespräche der Ärztinnen, die, während sie das Leben eines anderen in den Händen halten, sich über ihr eigenes austauschen.
De Humani Corporis Fabrica wird nicht umsonst von der Website der Viennale 2022 als ein „[…]weniger [ein] immersives als vielmehr ein invasives Filmerlebnis“ angepriesen. Und wortwörtlich: Der Film (sowie die Kamera) geht unter die Haut. Von einer Augenoperation, zu einem Kaiserschnitt, zu einem Eingriff an einer offenen Wirbelsäule, die Bilder veranlassen die Zuschauer*innen dazu sich selbst zu spüren. Nach einem kurzen Blick durch das Kino fällt auf, dass fast ein jeder im Saal die Hände im Gesicht oder am Körper hat. Ein Spiegel der eigenen Verletzlich- und Vergänglichkeit wird dem Publikum, vor die Augen gehalten. Völlig wehrlos, lassen wir uns von De Humani Corporis Fabrica mit dem Kampf gegen aber auch um den eigenen Körper konfrontieren. Hierbei wird klar, alleine sind wir machtlos. Um den unmöglich zu gewinnenden Kampf gegen die eigene Endlichkeit hinauszuzögern, setzen wir das Vertrauen in das Gesundheitssystem, um Schwierigkeiten für uns aus dem Weg zu räumen. Dadurch wird offensichtlich, dass wir nicht nur von unseren Körpern abhängig sind, sondern auch von den Leuten, die sie wiederherstellen und verbessern können. Unsere Unfähigkeit mit dem Spiegel umzugehen, den uns diese Bilder vorlegen, wird von den körperlichen Reaktionen innerhalb des Kinosaals reflektiert. Andauernd nur mit der Oberflächlichkeit diverser Probleme konfrontiert zu sein, lässt die inneren Strukturen, den Kern, oft schauerlich wirken. De Humani Corporis Fabrica aber spiegelt nicht nur das Innere körperlicher Strukturen wider, sondern arbeitet auch soziale Strukturen von innen auf.
Nämlich legt De Humani Corporis Fabrica Strukturen offen, welche dem Auge der Öffentlichkeit meist vorenthalten werden. Aus gutem Grund: die Thematik des Filmes löst ein derartiges Gefühl des Unwohlseins aus, dass Zuschauer*innen nach und nach die Flucht aus dem Kino ergreifen. Es ist eine Flucht vor den expliziten Szenen oder der unumgänglichen Message, die sich hinter den Bildern verbirgt. Denn: Nicht nur die menschlichen Eingeweide, sondern auch die Probleme, mit denen das Gesundheitssystem zu kämpfen hat, werden offengelegt. Überarbeitetes Krankenhauspersonal, zu viele Kranke, zu wenig Arbeitskräfte und unzureichendes Funding. Von einem kaputten, auf Reserven laufendem Organismus wird erwartet, den menschlichen Organismus zu heilen und wieder funktionstüchtig zu machen. Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen erzählen in dem Film von eigenen, durch Stress
entstandenen Gesundheitsproblemen und leeren Versprechen der Behörden zu dessen Besserung. Die Lösungsvorschläge der Regierung kratzen lediglich an der Oberfläche der Probleme, mit denen die Krankenhäuser zu kämpfen haben. Auf tiefe Wunden wird ein Pflaster geklebt, um sich nicht mit den unüberschaubaren und unansehnlichen inneren Strukturen befassen zu müssen. Risse, die im Inneren entstehen und sich immer weiter ausbreiten, werden gerade so geflickt, dass sie die Oberfläche nicht weiter belasten. Die unzureichende Behandlung des Problems lässt den Körper des Gesundheitssystems immer mehr wie eine hässliche Narbenlandschaft erscheinen, die droht auseinanderzureißen. Doch der Organismus des Systems, das Krankenhauspersonal, weiß: Schönheit kommt von Innen. Durch die endoskopischen Kameras wird, vor den Augen der Zuschauer*innen, nach der Ursache eines (Gesundheits-) Problems gesucht. Von außen dringen immer wieder Schwierigkeiten an das Ohr des Publikums, Operationsbestecke fallen oder zu wenig Ressourcen sind vorhanden, doch die Kamera dringt unerbittlich weiter in den Menschen, auf der Suche nach der Ursache und der endgültigen Lösung des Problems.
Die Herangehensweise Schwierigkeiten innerhalb des Systems zu lösen, sollte an die der Krankenhäuser auf körperliche Probleme angepasst werden: Besser von innen nach außen operieren, als die Oberfläche mit vorübergehenden Lösungen zuzupflastern. Am Ende von De Humani Corporis Fabrica war klar, so deutlich mit Anatomie und Problemen, seien es die der Gesellschaft oder die des menschlichen Körpers, konfrontiert zu werden, schlägt auf den Magen. Kein Wunder also, dass die Dragee-Kekse unberührt blieben.